«Am Anfang war es sehr hart»

Postkarten-Basel: Oberhalb der Wettsteinbrücke biegt der Rhein von Osten kommend in breitem Schwung Richtung Nordsee ab. Hier, am Fuss des Mühlenbergs, liegen hinter Milchglasscheiben im Tiefparterre die Räume des Architekturbüros Guetg. An einem der grossen Mac-Computer der neusten Generation sitzt Leonardo Cedeno, zwanzigjähriger Ecuadorianer und Hochbauzeichner im ersten Lehrjahr. Viele Jugendliche kämpfen um eine Lehrstelle, aber kaum einer hat härter gekämpft als er.

Eingesperrt in der Schweiz

Leonardo Cedeno kommt im Frühjahr 2002 als Zwölfjähriger in die Schweiz. Nach Jahren der Trennung trifft er in Basel seine Mutter wieder. Sie arbeitet schwarz, als Papierlose, um ihre Kinder durchzubringen, die in Ecuador leben. Für Leonardo beginnt ein Leben in der Illegalität. «Unzählige Kollegen» habe er zuvor gehabt, in den Strassen der Stadt, aus der er kommt. Jetzt, während der ersten sechs Monate in Basel, darf er die Wohnung nicht verlassen.

Dann bringt sein Onkel, ein Aktivist in der Basler Sans-papier-Bewegung, eine Neuigkeit nach Hause: Kinder von Papierlosen dürfen ohne Aufenthaltsbewilligung die obligatorische Schule besuchen. Leonardo kommt für ein halbes Jahr in eine fremdsprachige Klasse der Orientierungsschule. Unterrichtssprache ist Deutsch. Zuerst versteht er kein Wort. «Meine Mutter hatte immer Angst, dass etwas passieren könnte.» So geht er von der Schule stets auf direktestem Weg nach Hause. Kollegen findet er so keine. «Es war sehr hart.»

Im Herbst 2003 steht eines Tages die Polizei vor der Wohnungstür. Niemand hat Papiere. Die Erwachsenen werden mitgenommen, Leonardo bleibt mit einem Cousin zu Hause. Die Zeit, bis Stunden später seine Mutter zurückkommt, hat er als «schrecklich» in Erinnerung. Seither ist er mit seiner Mutter mehrmals umgezogen: «Via Sans-papier-Anlaufstelle mussten wir uns regelmässig bei der Polizei melden. So wusste sie, dass wir noch in der Stadt sind, ohne aber unsere genaue Adresse zu kennen.»

Der Halbwüchsige beisst sich durch; lernt Deutsch; findet erste, spanischsprechende Kollegen. In der Berufswahlschule (BWS), die er danach besucht, ist er der einzige Sans-papier. Aus Rücksicht auf ihn, der keine Reisepapiere hat, beschränkt die Klasse ihre Reiseziele für die Sommerlager. «Klar, das Tessin ist auch schön. Aber ich war eingesperrt in der Schweiz.»

Kampf um den Berufseinstieg

Nach dem Abschluss der BWS wird’s schwierig. Cedeno träumt davon, Architekt zu werden. Aber ohne gültige Papiere kann er nicht einmal einen Lehrvertrag unterschreiben. So macht er ein zehntes Schuljahr. Danach ist er immer noch Sans-papier. So macht er ein weiteres zehntes Schuljahr.

2007 nimmt sich seine Mutter einen Anwalt und versucht, sich und ihren Sohn zu legalisieren. Der Antrag wird abgelehnt. Rekurs. Abgelehnt. Am 28. April 2008 wird Cedeno 18 und damit volljährig. Er und seine Mutter beschliessen, nun je einzeln ein Gesuch um Aufenthaltsbewilligung zu stellen.

Um die Zeit zu überbrücken, macht er Schnupperwochen: als Schreiner, als Kellner, als Kindererzieher, als Bankangestellter, in einer Architekturfirma. Am Schluss dieser Wochen darf er nie nach einer Lehrstelle fragen: Statt einen Lehrvertrag zu bekommen, würde er eine Anzeige riskieren. Er ist in einer Sackgasse.

Mitte Oktober 2008, Unia-Kongress in Lugano: Die Gewerkschaft hat das Problem der Sans-papiers traktandiert. Zwei jugendliche Papierlose berichten. Einer ist Leonardo Cedeno. Unterdessen spricht er so gut Deutsch, dass er vor grossem Publikum reden kann. Nun wird er gefördert von Rita Schiavi, Mitglied der Geschäftsleitung der Unia und zuständig für die Migrationspolitik. Sie ermutigt ihn, sich für Lehrstellen zu bewerben, obschon er keine Papiere hat.

Er folgt dem Rat und hat durchschlagenden Erfolg: Schliesslich kann er zwischen vier Lehrstellen auswählen. Er entscheidet sich für Hochbauzeichner. Es ist jenes Angebot, das am nächsten bei seinem Traumberuf liegt. Ein kluger Entscheid. Jetzt, wo er den Lehrvertrag des renommierten Architekturbüros Diener & Diener vorweisen kann, erhält er – im Mai 2009 – den B-Ausweis.

Im August hat er die Lehrstelle angetreten, im Februar 2010 hat er für einen Monat Ecuador besucht, Ende April wechselte er die Lehrstelle. Das Arbeitszeugnis ist ausgezeichnet, und vom Weg abgebracht hat ihn der Wechsel nicht: Nach der vierjährigen Lehre will er in Zürich an die Fachhochschule gehen. Dort gibt es Bachelor- und Masterstudiengänge für Architektur.

 

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Nie mehr Sans-papier!

Geboren ist Leonardo Cedeno am 28. April 1990 in Santo Domingo de los Colorados in Ecuador. Hier wächst er mit vier Geschwistern bei der Grossmutter auf. Seine Mutter ist alleinerziehend und geht nach Europa, um als Sans-papier den Unterhalt für die Kinder zu verdienen.

Nach sechs Jahren Primarschule holt ihn seine Mutter 2002 nach Basel, wo er bis 2009 ebenfalls ohne Papiere lebt. Fast gleichzeitig wie er kommt auch seine Mutter zu einer Aufenthaltsbewilligung. Unterdessen ist der Nachzug der Geschwister geplant.

Cedeno steht kurz vor dem Abschluss des ersten Lehrjahrs als Hochbauzeichner im Architekturbüro von Lorenzo Guetg. Er lebt in Basel, ist Unia-Mitglied und hat eine Freundin. Er spricht neben Spanisch und Deutsch auch Portugiesisch und Italienisch und hat Kollegen aus Südamerika, Sri Lanka, China, Afrika, England und der Schweiz.

Neben Lehre und Gewerbeschule zeichnet er in jeder freien Minute, insbesondere Details an Fassaden. Daneben engagiert er sich für die Sans-papiers und in der evangelischen Kirche Deus e Amor.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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