Die Entdeckung der jenischen Musikkultur

 

Zum Teil 1 des Journal B-Originalbeitrags.

Zum Teil 2 des Journal B-Originalbeitrags.

 

1.

Im Zentrum des Dokumentarfilms «unerhört jenisch» (Trailer hier) stehen die Bündner Familien Moser, Waser und Kollegger und die Musikkapellen, in denen viele Familienmitglieder mitspielen. Durch den Film begleiten zudem die Brüder Stephan und Erich Eicher – der eine als Musiker international berühmt, der andere Anwalt und Schwyzerörgerli-Spieler und beide auf der Suche nach ihren jenischen Wurzeln.

Der Film unterhält mit schwungvollen Musikvorträgen auf Bühnen, in Küchen und unter freiem Himmel. Er berührt durch die Spontaneität vieler Szenen, die auch darauf verweisen, dass alle, die mitmachten, auf gleicher Augenhöhe mitreden konnten. Und der Film hat Tiefgang, weil er mit präzisen Hinweisen so unaufdringlich wie unmissverständlich klar macht, worum es hier auch geht: um die prekäre und umkämpfte kulturelle Identität einer schweizerischen Minderheit, an deren physischer und psychischer Zerstörung die Schweiz der Sesshaften bis in die 1970er Jahre aktiv gearbeitet hat.

Journal B sprach mit der Co-Regisseurin Karoline Arn. Sie ist Historikerin, Autorin und Redaktorin bei Radio SRF.

 

*

 

Journal B: Karoline Arn, Ihr Film «unerhört jenisch» wurde zuerst an den Solothurner Filmtagen gezeigt und von den Medien lebhaft besprochen. Sind Sie zufrieden? Oder gab es Missverständnisse?

Karoline Arn: Ich bin erstaunt, dass die Leute den Film begriffen und gemerkt haben, worum es uns geht. Eigentlich haben wir ja Verschiedenes gemacht, das man in einem solchen Film nicht machen sollte: Es gibt eigentlich zu viele Protagonisten und zu viele Geschichten.

Thema des Films ist die Musik als ein Pfeiler jener jenischen Identität, die bis in die 1970er Jahre von der offiziellen Schweiz aktiv bekämpft worden ist. In der BZ-Rezension zum Film las ich den Satzteil: «Es sind ursprünglich jenische Familien…» und wurde durch das «ursprünglich» verunsichert. Ist das neuerdings die politisch korrekte Sprachregelung? Sind Jenische nicht mehr Jenische?

Das kommt darauf an, wie es die Leute selber sehen. Die einen sagen tatsächlich: Wir sind Jenische. Die zweiten sagen: Wir stammen von den Jenischen ab. Und dritte sagen: «Jenisch», das ist ein Schimpfwort, davon rede ich nicht, und ich will auch nicht so bezeichnet werden.

Historisch gesehen geht die Zuschreibung auf die jenische Sprache zurück. Es ist eine Bevölkerungsgruppe, die sich gebildet hat aus herumgetriebenen «Heimatlosen» und aus dem benachbarten Ausland zugewanderten Familien. Diejenigen «Jenischen», die sich als «Heimatlose» Anfang der 1850er Jahre auf dem Gebiet des Bundesstaats Schweiz aufgehalten haben, wurden aufgrund eines Bundesgesetzes zwangsweise in jenen Gemeinden eingebürgert, in der sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befanden, andere haben sich schon vorher um eine Einbürgerung beworben.

Woher kamen diese herumziehenden Leute? Stammen sie von verarmten Sesshaften ab?

Nicht von Verarmten, sondern von Familien, die aus welchem Grund auch immer ihr Heimatrecht verloren hatten. Einige haben die fahrende Lebensweise beibehalten, andere haben sich – wenn es ihnen möglich war – niedergelassen und gingen dann als Störhandwerker auf Wanderschaft. Nehmen wir die Familie der Moser aus Obervaz, die legendäre Glockengiesser waren und von Bauernhof zu Bauernhof auf Stör gingen. Noch heute haben Moser-Glocken Sammlerwert, weil sie mit ein bisschen Silber in die Metalllegierung einen besonderen, «silberhellen» Klang haben. Das einheitliche Merkmal aller Jenischen ist das: Sie waren keine Einheimischen, keine «Bauern», wie die Jenischen die Sesshaften bezeichnen. In den Städten waren Handwerker in Zünften organisiert, die wollten keine Konkurrenz und vertrieben zugezogene Handwerker. Und auf dem Land musste man für jeden Auftrag von Ort zu Ort reisen. Deshalb Zuschreibungen wie «Vaganten» [von vaguer = wandern, fl.], «Heimatlose» oder eben «Jenische». Sie waren stets die Fremden, auch wegen spezieller kultureller Eigenheiten, zum Beispiel wegen ihren musikalischen Talenten.

Diese Musikalität steht nun im Zentrum des Films: Ist es tatsächlich so, dass die Musik in der jenischen Kultur diese zentrale Bedeutung hat? Auch die Schriftstellerin Mariella Mehr oder der Kunstmaler Walter Wegmüller sind ja Jenische. Warum die Musik?

Als wir zum ersten Mal mit Stephan Eicher redeten, wussten wir noch nicht, dass die Musik im Zentrum des Films stehen würde. Für die Recherche gab es zuerst mehrere interessierende Brennpunkte. Schon bei unserem letzten Film, «Jung und jenisch» (2014), stellten wir fest, dass Jenische eine eigene Kultur pflegen, die über das Fahren hinausgeht. Zum Beispiel ist die mündliche Tradierung sehr ausgeprägt:  Die schriftliche Sprache ist nicht wichtig, da ist Mariella Mehr eine Ausnahme. Es gibt auch keine geschriebenen Noten, die Stücke werden vor- und nachgespielt und so von Generation zu Generation weitergegeben.

Eine andere Eigenheit ist die spezielle Intuition. Wir gingen zu den Leuten jeweils mit schönen Konzepten über unser Projekt. Vorstellen konnten wir sie nirgends. Man wollte gar nicht wissen, was wir sagten, sondern eher hören, wie wir es sagten. Man hat uns zugehört, uns angeschaut und dann ja oder nein gesagt.

Argumente spielten keine Rolle?

Überhaupt nicht, nein. Die Wahrnehmung ist auf etwas anderes geschärft. Ob sie Menschen trauen können oder nicht, hat für sie nichts mit dem zu tun, was diese erzählen. Sie testen dich anders.

Eine weitere Besonderheit ist das komplexe Denken. Bei uns «Bauern» geht man davon, dass komplexes, vielschichtiges Denken mit Bildung, mit Leseerfahrung zu tun hat. Bei den Jenischen ist das anders: Obwohl viele von ihnen keine klassische Ausbildung durchlaufen haben, denken sie immer in komplexen Zusammenhängen und stellen diese immer in ein Ganzes. Geht es um ein konkretes Problem, versuchen sie in der Diskussion, sich sämtlicher Eventualitäten bewusst zu sein. Wir sind einer sehr schnellen, sehr reflektierten Art der Weltwahrnehmung begegnet, wie sie heute zum Beispiel als Managementfähigkeit gerühmt wird.

 

2.

Im Film treten nicht fahrende, sondern solche Jenische auf, die seit langem in Wohnungen leben. Warum?

Wir suchten Leute, die in der sesshaften Kultur leben, weil wir herausfinden wollten, wie stark jenische Kultur weiterwirkt, wenn sie nicht durch den Blick auf die Kultur des Fahrens eingeschränkt wird. Zudem wollten wir bewusst auch mit Stephan Eicher arbeiten und nicht ausschliesslich mit Musikern, die man marginalisieren kann, weil sie öffentlich zu wenig bekannt sind. Wir wollten zeigen: Von berühmt bis unbekannt gibt es alles. Jenische sind nicht zu reduzieren auf eine Minderheit am Rand. Unterdessen sind wir überzeugt, dass diese Kultur von grosser Bedeutung ist. Diese Qualität, die Besonderheit der Musik, das Herausragende und Spezielle ist aber nicht allen bewusst – und wird von aussen auch nicht als das wahrgenommen und wertgeschätzt. Für sie selber ist die Musik selbstverständlich – sie sind nicht stolz darauf, gerade auch, weil sie unter anderem wegen dieser kulturellen Fähigkeiten verfolgt und verfemt worden sind.

Es fällt auf, wie nahe ihr den Leuten gekommen seid. Eine ganze Reihe von Szenen sind in Privaträumen gedreht worden, gewisse Gesprächsequenzen wirken sehr persönlich. Können die Leute mit dem Film leben?

Das können sie. Wir sind nach den Dreharbeiten etwa fünfmal nach Obervaz gefahren und haben den Film in jeder Familie einzeln gezeigt. Alle wussten, dass sie jederzeit sagen können: Stop, ich mache nicht mit in diesem Film. Diese Abmachung galt, obschon es je nach Szenen, die wir hätten herausschneiden müssen, für den Film und die Geschichte schwierig geworden wäre. Die Abmachung hat uns dazu verpflichtet, die Leute möglichst so zu nehmen und so zu zeigen, wie sie sind. Wir durften nicht zuspitzen, wir durften nichts falsch darlegen oder in falsche Zusammenhänge stellen.

Trotzdem haben wir mit dem Film natürlich eine Geschichte kreiert, die es zuvor so nicht gegeben hat. Darum wäre es möglich gewesen, dass jemand gesagt hätte: Mit dieser Geschichte identifiziere ich mich nicht. Schön war, dass alle erstaunt gewesen sind, berührt, beeindruckt auch, als sie ihre Musikkultur von aussen in einer Art gespiegelt gesehen haben, die ihnen so bisher gar nicht bewusst gewesen ist.

Im Film spricht Christian Mehr, Sohn der Schriftstellerin und unter dem Namen Chris More in Zürich auch als Punkmusiker unterwegs, zweimal über die Musik, die die Bündner Musiker spielen. In einem ersten Statement urteilt er hart, er verstehe nicht, warum Jenische jene Volksmusik spielen könnten, die doch die Musik der sesshaften Unterdrücker sei. Das zweite Statement ist ganz anders. Unterdessen hat der Film die historische Tatsache vermittelt, dass Sesshafte, die Noten schreiben konnten, mündlich tradierte jenische Musik mitgeschrieben und unter ihrem eigenen Namen der Nationalmusik der «Bauern» beigefügt haben. Daran anschliessend sagt Mehr, eigentlich sei es «ein Wahnsinn», dass durch dieses Abkupfern die jenische Musik ein Stück weit zur klassischen Volksmusik der Schweiz geworden sei. Mehrs anschliessendes Lachen gehört für mich zu den schönsten Momenten des Films. Aber hat er auch Recht?

Ich denke schon, und aus historischer Sicht ist es eigentlich logisch und musikwissenschaftlich auch geklärt: Die Spielleute des Mittealters waren ausschliesslich Fahrende. Es gab damals keine Sesshaften, die Tanzmusik machten. Und diese Musikkultur der Spielleute hat sich erhalten bis heute.

Die Musik des legendären Klarinettisten Paul Kollegger zum Beispiel fand ihre Verbreitung durch Bündner, die in Bern lebten. Natürlich auch dank des Aufkommens der Schallplatten und des Radios. Die Schallplattenproduzenten wollten keine sperrigen und unverständlichen jenischen Titel für ihre Musikstücke und schrieben als Komponist einfach die Namen der jeweiligen Interpreten hin. Oft ohne böse Absicht.

Auch viele nichtjenische Musiker lernten bei Paul Kollegger spielen und versuchten, diesen «Zwick» bei der Interpretation der Stücke zu erlernen. Erst in den 1930er Jahren wurden der Ländler salonfähig und auch in den bürgerlichen und städtischen Kreisen gehört. Die Ländler übernahmen so auch eine wichtige Identifikationsaufgabe bei der geistigen Landesverteidigung.

Das würde heissen: Die scheinbar urschweizerische Ländlermusik war bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs mindestens zum Teil die Musik der jenischen Minderheit?

Das ist wohl so, ja. – Und es gibt nicht nur Paul Kollegger. Wir hörten von einigen Stücken, die ursprünglich von jenischen Musikern gespielt worden waren und dann im Unterland zu Schlager-Hits mutierten. Als die «Moser-Bueba» uns ein Stück vorspielten, waren wir zunächst enttäuscht: Wir hatten sie gebeten, eines ihrer eigenen Stücke zu spielen – statt dessen ertönte die Melodie des «Minstrels»-Hits «Grüezi wohl Frau Stirnimaa!» von 1969. Sie stellten dann klar, dass das Stück «Stierlimaa» hiess, und schon ihr Neni, ihr Grossvater, habe es in Obervaz gespielt! Vieles, was an Inspiration in der heutigen schweizerischen Volksmusik steckt, hat jenische Wurzeln. Ich bin überzeugt, dass man diese These musikhistorisch vertiefen und erhärten könnte.

Wird sie denn erforscht?

Mir ist nichts bekannt. – Es war wohl so: Man konnte nicht eine Minderheit über Jahrhunderte verfolgen, sie mit diesen furchtbaren Zuschreibungen von erblicher Minderwertigkeit oder «Imbezilität», also Schwachsinn, stigmatisieren, und schliesslich der Bevölkerungsmehrheit erklären: Liebe Leute, eure Volksmusik ist eigentlich die Musik dieser Leute. Für mich ist dieses Tabu ein Teil der Verfolgung und der Unterdrückung der Jenischen: Überall sonst nennt man die Namen der Urheber. Niemand aber redete und schrieb je von einer jenischen Musikkultur.

So ist es auch zu erklären, dass wir bei der Arbeit am Film nie den Eindruck hatten, die Leute seien stolz auf ihre Musik. Musik ist anders konnotiert: Musik ist Familietradition, das gemeinsame Spielen gibt Zusammenhalt und Gemeinschaft. Und insbesondere ist es Tanzmusik, mit der man auftreten und ein bisschen Geld verdienen kann. Von Paul Kollegger sagt man, er habe 24 Stunden aus dem Kopf durchspielen können, ohne ein Stück zu wiederholen. Aber wo an Tanzanlässen musiziert wurde, wurde auch getrunken. Und auch den Musikern gab man Alkoholisches zum Trinken. Und Alkoholismus führte in die Verarmung oder in die Verfolgung.

Vor diesem Film war ich der Meinung, Technoraves, das stehe speziell für die Kultur von heute. Aber alles war schon einmal da: in diesen Bündner Dörfern haben die Leute an ihren Festen manchmal tagelang einfach durchgetanzt, nonstop. Uns wurde die Geschichte erzählt, dass die Männer einmal im Winter zum Spielen in ein Tal gegangen und anderntags nicht zurückgekehrt seien. Man habe den Dorfpolizisten alarmiert, weil man befürchtet habe, eine Lawine müsse das Tal verschüttet haben. Der Polizist sei mit der Meldung zurückgekehrt, es sei alles in Ordnung, sie seien immer noch am Spielen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5