Köpfe gegen die Krise

 

Im Editorial der Sonderausgabe von Work Nr. 14 vom 11. 9. 2009 beschreibt die Chefredaktorin Marie Josée Kuhn die Situation so: Die Finanzkrise 2007/08 habe unterdessen die Wirtschaft erfasst. Dier Arbeitslosigkeit in der Schweiz sei innert Jahresfrist um 56'000 Personen gestiegen und in 3371 Betrieben sei Kurzarbeit eingeführt worden. Die Rezession treffe vor allem die 15- bis 24jährigen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft prognostiziere, dass von diesen jungen Leuten 2010 rund 32'000 keine Stelle finden würden. Trotz all dem habe das World Economic Forum die Schweiz zur weltweit wettbewerbsstärksten nationalen Wirtschaft erkoren: «Ihre Krise soll offenbar allein die unsere sein. Wir sollen für ihre Finanzblasen bezahlen, während sie die nächste schon anrichten.» Darum lasse Work im folgenden «hundert Köpfe gegen die Krise» Stellung nehmen «mit tausend Ideen, wie wir uns daraus befreien könnten. Wir uns.»

Acht der hundert Statements habe ich zusammengetragen. Sie sind im Folgenden in der Reihenfolge ihres Erscheinens in der Zeitung dokumentiert.

 

Ich horte mein Geld nicht

Loretta Müller (27), Umweltwissenschafterin, Basel, Mitglied VPOD.

«Ich habe an der Universität Bern eine sichere Stelle. Insofern spüre ich die Krise nicht direkt. Als Privatperson versuche ich, das Geld, das ich verdiene, nicht zu horten. Geld, das ich ausgebe, gibt anderen Arbeit und Verdienst. Politisch wichtig finde ich zurzeit vor allem die Solidarität mit dem Sozialstaat: denn es gibt ja wirklich Leute, die von der Krise direkt betroffen sind.

Die Sozialleistungen weiter zu drücken, ist unverantwortlich. Darum stimme ich am 27. September für die Zusatzfinanzierung der Invalidenrente. Und: Jetzt, wo es Meldungen gibt, dass sich die Krise abschwächen könnte, ist es zentral, dass alle Bemühungen um Kurzarbeit statt Entlassungen unterstützt werden. So kann die Arbeitslosenquote von bis zu sechs Prozent, die für 2010 droht, gedrückt werden.»

Ich habe viele Krisen erlebt

Robert Ammann (96), pensionierter Schreiner, Menziken (AG), Mitglied Unia.

«Wirtschaftskrisen sind eine schlimme Sache. Ich habe viele erlebt. Ich erinnere mich noch gut an die dreissiger Jahre, als ich öfter arbeitslos gewesen bin. Ich bin dann als Schreiner jeweils den alten Häusern nach und habe heimlich den losen Kitt von den Fenstern geklaubt. Danach habe ich mich bei den Eigentümern dieser Liegenschaften darum beworben, für ein Hungerlöhnli die Fensterscheiben neu kitten zu können, nur damit ich noch einen kleinen Verdienst hatte.

Heute ist hier im Wynental vor allem die Metallindustrie unter Druck. Die Drahtwerke Vogt & Co in Reinach, die am Schluss Voco Draht AG geheissen haben, sind bereits verschwunden. Und eben hat die Alu Menziken AG angekündigt, siebzig Leute entlassen zu müssen. Als einer, der seit gut achtzig Jahren in der Gewerkschaft ist, weiss ich, wovon  ich rede, wenn ich sage: Keine Arbeit zu haben. ist eine schlimme Sache.»

Ich muss jetzt sofort mein Geld sparen

Jadranka Marjanovic (47), Maschinenkonstrukteurin, Bern, Mitglied Unia.

«Eigentlich denke ich immer positiv, aber zurzeit ist es hart. Auf Ende August bin ich als Maschinenkonstrukteurin von der Druckmaschinenfabrik Wifag in Bern entlassen worden. Mein Ehemann ist schon seit fast zwei Jahren arbeitslos. Mein 16jähriger Sohn, der mittlere von dreien, hat keine Lehrstelle gefunden. Er macht nun voraussichtlich das 10. Schuljahr.

Die Wifag ist ein guter Arbeitgeber. Aber wer kauft in der Krise noch Druckmaschinen, wenn die Zeitungen immer häufiger auf Internet gelesen werden? Die Wifag hat 94 Stellen abgebaut; mehr als vierzig Kündigungen aussprechen; das ‹Normenbüro›, in dem ich gearbeitet habe, wurde geschlossen. Ich habe noch drei Monate lang den Lohn bekommen und eine Juristin berät uns, wenn wir sie um Rat fragen. Der Wifag kann ich nichts vorwerfen.

Gleich nach der Kündigung, Ende Mai, hat ich mich bei der Securitas gemeldet. Unterdessen kann ich fünf, sechs Einsätze im Monat machen. Letzthin einer an einem Konzert von Abends um elf bis morgens um acht. Ich bin nicht mehr zwanzig und nicht gewohnt, Nächte durchzumachen: Ich war danach zwei Tage kaputt. Aber wenn ich aufgeboten werde, gehe ich. Ich muss zeigen, dass ich arbeiten will und flexibel bin. Natürlich würde ich gerne auf meinem Beruf weiterarbeiten. Aber wenn sich nichts zeigt, wäre mir auch eine Festanstellung bei der Securitas recht.

Traurig ist, dass ich nicht mehr weiss, wie ich meiner Mutter monatlich 200 Euro nach Bosnien schicken soll. Sie hat keine Rente und das Geld hat ihr viel geholfen. Ich arbeite gerne bei der Unia mit, aber im Moment ist meine dringlichste Aktivität gegen die Krise, Geld zu sparen.»

3,6 Prozent mehr Lohn bei der Stadt Bern

Regula Rytz (47), Mitglied der Stadtregierung Bern (Grüne), Baudirektorin, Mitglied vpod.

«Die Bundesstadt Bern glänzt im Aufschwung nicht mit astronomischen Wachstumsraten. Dafür ist sie in Krisenzeiten dank der öffentlichen Verwaltung und den ehemaligen Regiebetrieben des Bundes relativ stabil. Auch das Baugewerbe profitiert von öffentlichen Aufträgen. Anders sieht es bei den exportorientierten Firmen aus. Sie sind auch in Bern von Kurzarbeit oder gar Entlassungen betroffen.

Obwohl die Erwerbslosenquote in Bern unter dem schweizerischen Durchschnitt liegt, haben wir als Stadtregierung konjunkturstützende Massnahmen beschlossen. 2009 wachsen die Löhne unserer Angestellten um insgesamt 3,6 Prozent. Zudem werden im Sinne des ‹green new deals› rund 13 Millionen Franken zusätzlich in energiesparende Gebäudesanierungen und Lärmschutzmassnahmen investiert. Sehr wichtig ist uns auch die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, zum Beispiel mit der Weiterbeschäftigung der Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger.

Mehr Sorgen als die Situation in Bern macht mir die nationale und internationale Entwicklung. Weder gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise noch gegen die Klimakrise wurden bisher wirksame Massnahmen ergriffen. Es gilt das Motto: weiterwursteln wie bisher und im Notfall den Staat bezahlen lassen. Wir müssen endlich den Service Public stärken und die Pokerspiele in Banken und Chefetagen mit verbindlichen Regeln stoppen. Das geht nur mit massivem Druck von der Strasse. Es darf keinen Aufbau ohne Umbau geben!»

Jetzt neue Leute anstellen

Tilman Rösler (50), Architekt SWB, Bern, Mitglied Unia.

«Von der Krise lese ich in der Zeitung, aber ich sehe sie nicht: In der Baubranche ist die Konjunktur zurzeit stabil. Hole ich vier Offerten ein, dann kriege ich zwei Absagen wegen fehlender Zeit und zwei Angebote, die so teuer sind, dass sich der Anbietende die Absage offenbar leisten kann. Die Aussensanierungen, die zum Beispiel die bernische Liegenschaftsverwaltung zur Stützung der Konjunktur vorziehen will, werden wegen des hohen Preisniveaus nicht ausgeführt. Insofern man die nationalen Energiesparprogramme im Baubereich als Konjunkturstützungsmassnahmen betrachtet, profitiere ich selber von dieser Antikrisenmassnahme als einer, der häufig Wohnraum in Altbauliegenschaften günstig und umweltgerecht renoviert.

Wenn die Krise, wie ich lese, vor allem die exportabhängigen Branchen trifft, werden die Zuständigen prüfen müssen, ob sie durch Diversifizierung diese Abhängigkeit verkleinern können. Ich kann nur in meinem Bereich etwas gegen die Krise tun: Ich prüfe zur Zeit, einen Bauzeichner oder eine Architektin anzustellen zur Bewältigung der Aufträge.»

Milliardäre raus aus diesem Land!

Meret Matter (44), Regisseurin, Bern.

«Wir freischaffenden Künstler und Künstlerinnen beobachten, dass plötzlich ganz unterschiedliche Leute in unserem Umfeld eine Erfahrung machen, die wir bestens kennen. Ich sehe Männer und Frauen, die in Ängste und Bedrängnis geraten, wenn sie sagen müssen: Ich habe ja keine Ahnung, wie es in einem Jahr weitergeht! Mit dieser Unsicherheit leben wir dauernd.

Letztes Jahr habe ich in Bern Regie geführt in einem Stück mit dem Namen ‹Finanzblätz CH›, einer Live-Berichterstattung aus dem Herzen der Krise. Dieses Stück haben wir im Team erarbeitet. Wir haben recherchiert, Experten befragt, diskutiert – ich habe noch selten anregendere Proben erlebt.

In der Aufführung kamen konkrete Massnahmen gegen die Finanzkrise zur Sprache: 1. Jede Form von Zins muss abgeschafft werden. 2. Firmen, die Gewinn schreiben, dürfen keine Leute entlassen. 3. Verdienst ist nach oben zu begrenzen. 4. Der Boden soll nicht Privateigentum sein, sondern dem Staat gehören. Diesbezügliche Einnahmen gegen an die AHV und die Kunst. Ausserdem gab es eine kabarettistische Nummer, die die Freizügigkeitsinitiative der SVP umgedreht hat: Milliardäre raus aus unserem Land! Sie verderben die Jugend, sie lassen das Geld für sich arbeiten, sie schlüpfen bei den Steuern durch die Maschen der Kontrolle und sie schnappen uns unsere Frauen weg!»

Was macht eigentlich der Bundesrat für unsereins?

Magdalena Nauer (46), Fleischverkäuferin, Vorderthal (SZ), Mitglied Unia.

«Bei uns im Coop von Siebnen (SZ) merken wir die Krise daran, dass die Abgänge nicht mehr ersetzt werden. Weil die Leute bewusster und billiger einkaufen, sinkt unser Gewinn, und damit sinken die Stellenprozente, die wir zugut haben. Wir müssen mehr leisten, die Präsenzzeiten werden länger und unregelmässiger, der Arbeitsdruck steigt. Mir persönlich geht es zwar gut, aber ich merke, dass ich meine Prioritäten anders setze, damit mich der höhere Arbeitsrhythmus nicht aus dem Gleichgewicht bringt: Familie und Freizeit werden mir wichtiger, dafür habe ich meine Vereinsaktivitäten zurückgefahren.

Wenn ich über meinen Arbeitsplatz hinausblicke, hat die Krise zwei Gesichter: Einerseits frisst sich die Krise in die Köpfe der Leute, weil man immer von ihr redet. Es gibt aber auch solche, die von der Krise reden, weil sie von ihr profitieren wollen; solche, die Krise sagen, weil sie befürchten, der Gewinn werde kleiner. Oder solche, die Krise sagen, weil sie den Gewinn auf Kosten des Personals steigern wollen.

Andererseits steigt der Druck auf die kleinen Leute tatsächlich, nicht nur durch Entlassungen und Kurzarbeit, sondern auch dann, wenn der Teuerungsausgleich nicht mehr bezahlt wird und gleichzeitig die Krankenkassen derart aufschlagen, wie das auf 2010 passiert. Der Glaube an den Bundesrat wird kleiner: Wir sehen vor allem, was er für die Grossen tut. Aber was macht er eigentlich für Leute wie unsereins?»

Weil die Redaktion etwas mehr als hundert Beiträge akquiriert hatte, veröffentlichte sie einige erst in der folgenden Nummer 15 vom 25. September 2009, unter anderem diesen:

Wir brauchen einen Green New Deal!

Franziska Teuscher (51), Zentralpräsidentin des Verkehrsclubs der Schweiz und Nationalrätin Grüne, Bern, Co-Präsidentin SGB-Frauenkommission, Mitglied Unia.

«Im Nationalrat habe ich drei Vorstösse gegen die Krise eingereicht: Mit dem Ersatz von Elektroheizungen sollen Arbeitsplätze geschaffen und sinnvollere Heizsysteme gefördert werden. Stützungsmassnahmen im Sozial- und Gesundheitsbereich sollen der Krise entgegenwirken. Und mit einer Studie zur ‘Gendersicht’ auf die bisherigen Konjunkturprogramme will ich geklärt haben, ob Arbeitsplätze für Männer und für Frauen erhalten bleiben.

Wichtig ist, dass der Aufschwung nach der jetzigen Krise zugleich ein ökologischer Umschwung wird zu einer nachhaltigen Wirtschaft ohne Ressourcenverschwendung führt. Statt der strukturerhaltenden Pflästerlipolitik des Bundesrats fordern wir Grüne einen ‘Green New Deal’ mit der Förderung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien im Zentrum. Für die Warmwasseraufbereitung: Sonnenkollektoren auf jedes Hausdach! In die richtige Richtung geht deshalb das im Juni beschlossene revidierte CO2-Gesetz, laut dem ab 2010 jährlich bis zu 200 Millionen Franken für energiesparende Gebäudesanierungen bereitgestellt werden.

Als Gewerkschafterin ist mir wichtig, dass öffentliche und private Betriebe auch in der Krise genügend Lehrstellen anbieten und die Ausgebildeten nach der Lehre weiter beschäftigen. Die jungen Leute brauchen eine faire Chance, in die Arbeitswelt und damit in die Gesellschaft hineinzukommen. Für alle, die in der Krise die Stelle verlieren – auch für die Über-55jährigen – fordere ich eine ‘Bildungsoffensive’ zur Förderung der Kompetenzen im ökologischen und sozialen Bereich: Diese Fähigkeiten werden wir beim nächsten Aufschwung brauchen!»

Mehrere dieser Beiträge wurden von der Redaktion gekürzt, umformuliert und/oder ummontiert. Hier dokumentiert sind die mit den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern bereinigten Originalversionen. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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