«Die Chefs wussten alles besser»

Das waren noch Zeiten: Im September 2007 feierte die Mühlemann AG in Biberist (SO) ihr sechzigjähriges Bestehen. Die internationale Technologieholding Feintool mit Sitz in Lyss (BE), zu der die Mühlemann AG seit 1999 gehört, veröffentlichte eine Pressemeldung: Mühlemann sei das «Stammhaus der Division Plastic-Metal Components» von Feintool und habe in den letzten Jahren für die 300 Mitarbeitenden die Produktionsfläche verdoppelt. Im Dezember 2008 meldete Feintool dann zwar einen «Rückgang des Auftragseingangs» wegen der Finanzkrise und dass bei Mühlemann Kurzarbeit eingeführt werde – aber auch, dass 2008 das erfolgreichste operative Geschäftsjahr seit zehn Jahren sei.

Dann der 31. März 2009: Um 17 Uhr tritt der Feintool-Verwaltungsratspräsident Alexander von Witzleben im Pausenraum der Mühlemann AG vor die unterdessen noch 200köpfige Belegschaft. Der Betrieb, sagt er, werde auf 31. März 2010 geschlossen, bis zu einhundert Mitarbeitende würden Ende August entlassen.

«Mit weiteren Entlassungen haben wir zwar gerechnet», sagt Hüseyin Karabas, «aber an eine Schliessung der Fabrik hat niemand gedacht». Man sei wegen dieser Ankündigung derart konsterniert gewesen, dass niemand auch nur eine Frage gestellt habe. Erst tags darauf hätte man langsam begriffen, was passiert sei.

Warnung der Belegschaft

«Wir machen Gehäuse für elektrische Geräte aller Art. Unsere Spezialität ist das Verbinden von Plastik- mit Metallteilen», sagt Karabas. Feintool habe auf schnelles Wachstum und darum auf Grossaufträge aus der Autozubehörindustrie gesetzt. Schliesslich habe man zu rund 90 Prozent für den Bereich Kraftfahrzeugtechnik des deutschen Bosch-Konzerns gearbeitet.

Die Feintool-Manager hätten immer wieder gesagt, kleine Kunden würden nicht rentieren, rentabel seien nur Grossaufträge. «Wir Mitarbeiter haben schon ab 2004 gewarnt: Passt auf, dass wir nicht in grosse Probleme hineinlaufen. Aber das Management hat es besser gewusst.»

Als im Sommer 2008 die Automobilbranche in die Krise geraten sei, habe es dann «eine Kettenreaktion» gegeben: Weil der Verkauf einbrach, verzichtete Bosch schnell weitgehend auf die Dienste der Mühlemann AG. «Die Schliessung unserer Fabrik setzt nun unsere Zulieferer unter Druck, zum Beispiel jene, die uns mit Kunststoffgranulat beliefert haben.» Und so wächst die Krise weiter: «In unserer Branche trifft es im Moment jeden. Wer stempeln gehen muss, erhält nur noch siebzig oder achtzig Prozent seines Lohns und muss sich überlegen: Was kann ich mir noch leisten? Mit dem sinkenden Konsum wandert die Krise in andere Branchen.»

Es gebe im Betrieb im Moment viel Frust, sagt Karabas: Solange Feintool an Mühlemann verdient habe, sei man recht gewesen, jetzt, da man wegen Managementfehlern in Bedrängnis geraten sei, behaupte man, Mühlemann habe eben nie zum Kerngeschäft gehört, und schliesse den Betrieb so schnell wie möglich: «Das tut vielen weh: dass eine Fabrik, die wirklich gut gelaufen ist, so kaputt gemacht wird.»

Retten, was noch zu retten ist

Die Fabrik schliessen, heisst für das Personalmanagement in Biberist, möglichst billige Lösungen zu suchen. Und für die Personalkommission: möglichst menschliche. Da gibt es eine gewisse Schnittmenge. Etwa, wenn versucht wird, in der Branche andere Firmen zu finden, die Personal und Maschinen übernehmen würden. Immerhin ist die Mühlemann AG bei verschiedenen Arbeitsgängen weitherum führend. «Auf diesem Weg hoffen wir, zehn bis zwanzig Arbeitsplätze retten zu können.»

In den letzten Tagen sind nun die erste sechzig Kündigungen auf Ende August ausgesprochen worden. Je nach Auftragslage früher oder später werden die nächsten folgen. Die letzten mit Sicherheit Ende Dezember. «Ich empfehle allen, so schnell wie möglich eine neue Stelle zu suchen.»

Karabas’ persönliches Ziel ist es, als Personalkommissionspräsident dazu beizutragen, dass ein anständiger Sozialplan durchgesetzt werden kann. Die Verhandlungen sind im Gang (auch der Solothurner Unia-Sekretär Markus Baumann verhandelt mit). «Wir haben in der Produktion über sechzig Prozent ausländische Mitarbeitende. Gerade jene, die keinen anerkannten Berufsabschluss besitzen, haben es in der jetzigen Krise sehr schwer, wieder Arbeit zu finden.» Darum fordere die Belegschaft möglichst gute Abfindungen für alle.

Nach zwei Verhandlungsrunden um den Sozialplan ist man sich in Biberist in allen Punkten einig – ausser in der zentralen Frage dieser Abfindungen. Für Hüseyin Karabas ist darum eines klar: Auch wenn ihm ein Job offeriert wird, will er bei Mühlemann erst dann gehen, wenn ein akzeptabler Sozialplan unterschrieben ist. «Das bin ich meinen Kolleginnen und Kollegen schuldig.»

 

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Immer wieder neu anfangen

Hüseyin Karabas (*1976) wächst bei einer Tante in der türkischen Stadt Samsun am Schwarzen Meer auf, wo er sechs Schuljahre absolviert. 1987 zieht er mit einer Schwester nach Neirivue (FR) zu seinen Eltern. Einschulung in französischer Sprache, wo er es in einem Schuljahr von der dritten in die fünfte Klasse schafft. Anfang 1990 Umzug nach Biberist (SO), die letzten Schuljahre in deutscher Sprache. 1992 bis 1995 Lehre als Automonteur, danach zwei Jahre Arbeit auf dem Beruf.

Auf November 1997 Wechsel zur Mühlemann AG: zuerst als Maschinenbediener, ab 1999 als Anlageführer, später als Schichtführer-Stellvertreter, seit 2006 als Schichtführer der Produktionsinsel 3. Karabas ist in der Mühlemann AG Präsident der Betriebskommission und Unia-Mitglied.

1995 heiratet er Emine. Halil, die Tochter des Ehepaars, ist 12; der Sohn Aykut 9. Ein wichtiger Grund, weshalb er zurzeit Schicht arbeitet, sind seine Kinder. Mit ihnen ist er gerne und viel zusammen.

Aktuell

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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