Für Zeno

Im Mai 1992 habe ich als Journalist Zeno Zürcher angerufen und ihn gebeten, mir die Geschichte der «Junkere 37» zu erzählen. Denn ich habe von ihm gewusst, dass er in den sechziger Jahren mithalf, an der Junkerngasse 37 in Bern einen Diskussionskeller zu betreiben, der weit über die Stadt und über den Kanton hinaus kulturpolitische Bedeutung erlangt hat. Ich wollte die Geschichte dieses Kellers schreiben.

Zu einem ersten Gespräch haben wir uns in einer Beiz getroffen. Zeno war freundlich, aber auf eine ironische Art skeptisch: Diese Geschichte interessiere doch heute niemanden mehr. Ich habe insistiert. So hat er zu erzählen begonnen, zuerst einige Episoden. Wir trafen uns wieder, er erzählte weiter, er präzisierte, vertiefte, schaffte Bezüge und Zusammenhänge. Bald brachte er Dokumente mit, Einladungen zu den «Junkere»-Veranstaltungen, Zeitungsartikel, Briefe, Notizen. Und wenn das nicht reichte, unterstützte er mich als Türöffner vor allen anderen bei seinen Mitstreitern Sergius Golowin, Ueli Baumgartner, Niklaus von Steiger und seinem Bruder Walter Zürcher.

So rekonstruierten wir fast zehn Jahre lang zusammen eine untergegangene Welt: wie der Reformpädagoge Fritz Jean Begert den «Kerzenkreis» gegründet hat; wie später sein Bruder Walter von Begert die Leitung dieses Zirkels übernahm; wie sich vom «Kerzenkreis» der «Tägel-Leist» um Sergius Golowin abspaltete und wie er, Zeno, sich diesem neuen Zirkel anschloss; wie der «Tägel-Leist» 1964 die «Junkere 37» gründete; wie dort Heimatkundler und Politlyriker, Rocker, Hippies und Gelehrte auftraten; wie die Behörden schikanierten und die Staatsschützer spitzelten; wie sich leidenschaftliche Debatten, besinnliche Stunden und unvergessliche Feste trotzdem Schlag auf Schlag folgten.

Zenos Geschichte ist die von mutigen Leuten, die dort, wo sie leben, die geistige Enge sprengen und die erkämpfte Offenheit als Freiheit verteidigen. Zenos Geschichte ist eine schöne Geschichte, eine auch politisch wichtige Geschichte, die heute noch all denen Mut macht, die Besseres im Sinn haben, als lebenslänglich mit dem Strom zu schwimmen.

Vielleicht sind Zeno und ich zweihundert Mal zusammengesessen, wahrscheinlich aber noch mehr. Mit der Zeit haben sich unsere freundschaftlichen Gespräche nicht mehr um die «Junkere 37», sondern um Gott und die Welt gedreht.

Gelernt habe ich von ihm natürlich auch den Leitspruch des «Tägel-Leists», das huzulische Sprichwort «Na nas njema smerti». Es bedeutet ungefähr: Gegen uns ist kein Kraut gewachsen. Kein Kraut, ja, ausser das bittere Kraut des Todes. – Immerhin: Deine Geschichte, Zeno, hat der Tod nicht mitnehmen können, sie ist unterdessen gedruckt und bleibt uns. Danke, dass Du sie erzählt hast.

fl., 23. März 2008

 

Diesen Text habe ich auf Bitte von Zeno Zürchers Lebenspartnerin M. K. verfasst. Sie bat mich, die Würdigung auch im Hinblick auf einen Vortrag an der Beerdigung zu schreiben. Im Begleitbrief vom 23. März 2008, mit dem ich ihr meinen Text zusandte, schrieb ich allerdings: «Wie ich Dir ja schon am Telefon gesagt habe, traue ich mir nicht zu, an Beerdigungen zu reden.»

Ich erinnere mich, Zeno zusammen mit meiner damaligen Lebenspartnerin kurz vor seinem Tod am 16. März im Lindenhofspital in Bern besucht zu haben. Ich erinnere mich, wie müde und eingesunken er in seinem Bett lag. Und ich erinnere mich an sein trotzig kichernd ausgesprochenes «Dr Zeno wott no nid schtärbe!» Seinen hilfesuchenden Blick bilde ich mir jetzt, im Rückblick, vielleicht nur ein.

Die Beisetzung seiner Asche fand dann an einem strahlenden Sommertag statt, und zwar im Park des anthroposophischen Jugendheims Schlössli in Ins. Ich gehe davon aus, dass der Ort der Beisetzung für Zeno ein Bekenntnis sein sollte zum reformpädagogischen Impuls, der von hier ausgegangen war – auch für ihn persönlich (vgl. «Begerts letzte Lektion», insb. S. 159 f.) Seit das Schlössli Ins im Sommer 2014 nach unlösbaren internen Konflikten geschlossen worden ist, symbolisiert Zenos Asche in jenem Park für mich nun das definitive Ende jenes reformpädagogischen Aufbruchs, dem ich das Begert-Buch gewidmet habe.

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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