«S’Dümmschte, wo’s git, isch doch d’Armee»

Letzthin, auf Bärenplatz in Bern, als sie Unterschriften sammelte, blieb plötzlich steif und sehr gut gekleidet ein alter Herr vor ihr stehen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass zwei Schritte hinter ihm eine ebenso nobel gekleidete Dame stehen blieb. Gewichtig sprach er sie an: «I by de Oberscht gsy im Dienscht.»[1] Drauf Louise Schneider, mitfühlend: «Gäuit, u itz weiss das ke Mönsch me.» Der Herr verstummte konsteriert und sie sah, wie ihr die noble Dame hinter seinem Rücken dankbar zulächelte.

Louise Schneider lacht herzlich und fügt bei: «Ich bin einfach überzeugt, und mit dieser Überzeugung werde ich ins Grab gehen: Jede Waffe und jeder Soldat auf dieser Welt sind zu viel.» Darum steht sie für die Anliegen der «Gruppe Schweiz ohne Armee» (GSoA) jeden Donnerstag und jeden Samstag auf der Strasse – in den letzten anderthalb Jahren für die Initiative gegen die Kriegsmaterialexporte. Ob Initiative, Referendum, Petition oder Demonstration: Louise Schneider arbeitet intensiv mit. Und wenn einmal im Monat im GSoA-Sekretariat in Bern die schweizerische Koordinationssitzung stattfindet, dann sorgt sie für den Linsen- oder Hörnlisalat, für die grosse Züpfe und für einen ihrer legendären Früchtekuchen.

«Und dieses ewige Märchen, Krieg gebe es immer, weil die Menschen halt so seien!», ärgert sie sich. «Was ist denn das für ein Menschenbild? Wieso hat die Menschheit auf jedem Gebiet derart grosse Entwicklungsschritte gemacht, bloss im Humanen nicht? Weil das kein Geld bringt! Aber die Menschen sind lernfähig, auch im Humanen.»

Als Arbeiterkind in der Sek

Louise Schneiders Vater hat in den dreissiger Jahren bei der Wander AG in Neuenegg gearbeitet. Seine Familie wohnte oben am Hang im Weiler Nesslere in einem Bauernstöckli. Dort sagten die Bauern: «Nume d’Büezer, die fule Hüng, schlaafen am Tag», wenn der Vater von der Nachtschicht heimkam und zu Bett ging. Er war ein Sozi, wie damals viele Sozis gewesen seien: «Zündrot und im Herzen ein Pazifist.» Aber 1939 habe auch er einrücken müssen, sonst hätte man ihn im Forst oben erschossen. Sie selber sei damals acht gewesen und habe bald einmal an der militärischen Vernunft gezweifelt: «Alle Männer und alle Pferde der Nessleren mussten ins Militär. Dafür lebten jetzt bei uns fremde Männer mit anderen Pferden. Warum konnten, wenn das so war, nicht unsere Männer mit unseren Pferden wieder nach Hause kommen? Daraus konnte ich nur einen Schluss ziehen: S’Dümmschte, wo’s git, isch doch d’Armee.»

Als sie die Sekundarschulprüfung bestanden hatte, leistete sich ihr sparsamer Vater vor Freude ein Bier im «Bären» und hörte die Grossbauern am Stammtisch sagen: «Itz gö mer schöne Zyte eggäge, we d’Büezer meine, sy müessi ihri Goofe ou id Sek schicke.» In der Sek habe sie dann mit einem Buben regelmässig um die besten Noten gewetteifert. Der Bub war der Sohn des Mühledirektors und wechselte bald an das Progymnasium. Sie musste in der Sek bleiben. Als im Winter 1946/47 der Pfarrer zum Konfirmationsbesuch in die Wohnung ihrer Eltern kam, habe er sie gefragt: «U de, was wosch wärde?» Weil sie gerne zur Kirche ging, habe sie dem Pfarrer ihr Leid geklagt und gesagt, dass sie halt gerne studieren möchte. «Du muesch itz haut begriiffe», habe der Pfarrer geantwortet, «das s’Schtudiere nid für öiergattig Lüt isch.» In diesem Moment sei in ihr etwas zerbrochen. Heute sagt sie: «Gottlob han i nie dr Pfarrer mit em Herrgott verwächslet.»

1947 macht Louise Schneider gegen den Willen ihrer Eltern ein Welschlandjahr in Signy-sur-Nyon. Dann sucht sie sich selbständig eine Lehrstelle und beginnt eine Verwaltungslehre auf der Gemeindeschreiberei in Uttigen bei Thun. Im Herbst 1948 verträgt sie dort per Velo die allerersten AHV-Renten und erinnert sich an die Freude und das Staunen in den alten Gesichtern: «Wo chunnt nume das Gäut här? I ha ja gar nie iizaut.»

Das Fräulein der Schulzahnklinik

Nach der Lehre geht sie nach Bern und baut im Bümplizer Schulhaus Höhe eine Filiale der städtischen Schulzahnklinik auf. Jährlich bietet sie jede Schulklasse zweimal zur Kontrolle auf, schreibt Rechnungen, konsultiert Steuerausweise, um unentgeltliche Behandlungen möglich zu machen, verhandelt mit der Fürsorge. Für rund dreitausend Kinder ist sie Anfang der fünfziger Jahre in Bümpliz «s’Frölein vo dr Schueuzahnklinik» und begeistert in ihrer Freizeit viele von ihnen für das Blaukreuz-Jugendwerk: «Ich hatte achtzig Hoffnungsbündler-Kinder, zum Teil aus schwersten Trinkerfamilien; Bubengruppen, Mädchengruppen; ich konnte dort ein Jugendwerk von einer Grösse anreissen und leiten – so etwas gibt es heute nicht mehr.» 1954 heiratet sie, zieht mit ihrem Mann in das Länggassquartier und wird Mutter zweier Töchter und eines Sohns. Die ehrenamtliche Jugendarbeit in Bümpliz macht sie bis 1966 weiter: «Diese Arbeit ist damals mein Beitrag an das Gemeinschaftsleben gewesen.»

1967 entschliesst sie sich, Sozialarbeiterin zu werden. Beim Aufnahmegespräch in die Schule für Soziale Arbeit wird sie von den Gremiumsmännern gefragt, ob ihr Mann überhaupt wisse, dass sie sich angemeldet habe. Und: Wer denn zuhause abwasche, wenn sie in der Schule sei. Schliesslich habe sich das «Wiibervolch» im Gremium auch noch zu Wort gemeldet: «Was weit Dr de no? Dir sit doch ghüraate, heit e Maa u drüü Ching.» Schliesslich sei sie aufgestanden und habe gesagt: «Meine Dame, meine Herren, wenn Sie mich aufnehmen in die Schule, dann heisse ich Schneider. Und wenn Sie mich nicht aufnehmen, heisse ich immer noch Schneider.» Türeschletzend sei sie gegangen, und draussen habe sie ob diesem unsäglichen Schauspiel «grännet wine Schlosshung».

Aber Sozialarbeiterin ist Louise Schneider doch geworden. Am Inselspital hat sie sich zuerst zwölf Jahre lang für die Patientinnen und Patienten und danach noch einmal gut so lange für das Personal engagiert. Kurz nach ihrem 25-Jahre-Arbeitsjubiläum hat sie sich pensionieren lassen.

20000 schöne Zugaben

1974 zieht sie mit ihrer Familie von Bern nach Köniz. Schon kurz darauf sitzt sie dort für die SP, der sie seit Jahrzehnten angehört, vier Jahre lang im Gemeindeparlament. «In meiner Arbeit gegen aussen», sagt sie, «waren das meine verlorensten Jahre.» Zum einen verzweifelt sie an den starren Strukturen von Parlament und Partei, zum andern wird ihr die SP, die «immer mehr in die Mitte» rückt, fremd. Sie erklärt ihren Parteiaustritt.

Als politische Heimat geblieben sind ihr die Religiös-Sozialistische Vereinigung (Resos) mit der Zeitschrift «neue wege» – und die GSoA. Diese habe sich, sagt Louise Schneider, von der Armeeabschaffungslobby immer mehr zu einer Friedensbewegung entwickelt. Dass es ihr gelungen ist, für die jährliche Organisierung des Ostermarsches die Zusammenarbeit der GSoA und der kirchlichen Fachstelle Oekumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit (OeME) zu initiieren, bezeichnet sie als «Krönung meines Lebens».  Für sie vertreten die Leute der OeME die Idee einer Kirche, «die sich einsetzt für Gerechtigkeit, für die Armen und Elenden». Dass die jugendlichen Aktivistinnen und Aktivisten der GSoA, von denen viele weder getauft sind noch je kirchlichen Unterricht besuchten, keine Berührungsängste haben und gemeinsam mit den OeME-Leuten anpacken, begeistert sie. Klar gebe es ab und zu «grosse Debatten»: «Aber noch nie haben mir diese jungen Leute das Gefühl gegeben, ich sei bloss noch die Grossmutter, die halt irgendwelche Sachen predige, die man nicht mehr ernst nehmen müsse.»

Wer mit Louise Schneider redet, vergisst, wie alt sie ist und erschrickt ein wenig, wenn sie auf einmal sagt: «Ich habe so viel gelebt, dass ich manchmal denke: S’Chübeli isch de öppe vou. Alles, was noch kommt, ist eine schöne Zugabe.» Was als nächstes kommt, ist für sie klar. Die GSoA hat sich verpflichtet, für das Zustandekommen der Initiative zum Schutz vor Waffengewalt 20000 Unterschriften beizusteuern: «Die wollen wir so schnell wie möglich zusammenbringen. Wir brauchen Kapazitäten, damit wir uns danach wenn nötig gegen den Kauf neuer Kampfflugzeuge für die Armee wehren können.»

[1] Für die Druckfassung hatte ich die paar Dialektwendungen in Schneiders direkter Rede ins Hochdeutsche zu übertragen. Das war ein Dienst an den Lesegewohnheiten des Publikums, nicht am Text. Entsprechend übersetzte die Redaktion auch das Titelzitat, bevor es das Layout aus Platzgründen auch noch verstümmelte. Gedruckt wurde: «Das Dümmste, was es gibt».

Am 11. April 2017 führte die unterdessen 86-jährige Louise Schneider eine schweizweit beachtete politische Aktion durch: An diesem Tag lancierte die Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA) zusammen mit den Jungen Grünen die Volksinitiative «Für ein Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten». Schneider unterstützte diese Lancierung, indem sie auf dem Bundesplatz in Bern die weisse Bretterwand vor der in Renovation befindlichen Nationalbank besprayte. Sie schrieb mit grossen roten Buchstaben: «GELD FÜR WAFFEN TÖTET!» (12.4.2017)

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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