«Wir haben uns hinübergerettet»

Ueli Ottis Arbeitsplatz ist in seiner Mühle am Mülibach in Oberwil (BE), in der Nähe von Büren an der Aare. Die Mühle gehört zu einem Bauernhof, und der gehört seit 1792 der Familie Otti. Einer wie Ueli Otti brauche keine Gewerkschaft, sagt er.

Trotzdem sei er einmal froh um sie gewesen, erzählt er am Tisch in der niedrigen Bauernstube: Als er den Betrieb auf biologische Produktion umstellte, habe er grosse Probleme gehabt mit dem Unkraut. In einem Haferfeld seien damals die Disteln derart ins Kraut geschossen, dass er meinte, es ohne Ertrag mähen zu müssen, um zumindest die Disteln am Absamen zu hindern. Davon habe er einem Kunden, dem damaligen SP-Sekretär des Amtes Büren, erzählt. Der habe drauf geantwortet: «Wart noch mit Mähen!» und habe mit einem Artikel in der «Berner Tagwacht» zu einer Distelzieh-Aktion in Oberwil aufgerufen: «Tatsächlich sind am nächsten Samstag aus Bern etwa dreissig Gewerkschafter gekommen und haben das ganze Haferfeld gejätet.»

«Grossartig» sei das gewesen, sagt er, vor allem wenn man wisse, dass die Bauern im Dorf seine Familie damals bloss ausgelacht hätten: «Die einen sagten, wir seien Stündeler, die anderen, wir seien Kommunisten und die dritten, wir würden ja sowieso verlumpen.» Nach der Distelzieh-Aktion habe man draussen vor dem Haus zusammen Gschwellti, Hamme und Käse gegessen, sagt Ueli Ottis Frau Heidi, die jetzt Kaffee serviert: «Das ist damals noch ein lustiger Abend geworden.»

Jahrhundertealtes Handwerk

Über zwei Stufen tritt man im hintersten Teil des Bauernhauses in die Mühle hinunter: massives, mehrhundertjähriges Balkenwerk; hölzerne und gusseiserne Zahnräder; flatternde Lederbänder, die durch ausgesägte Löcher in den Bodenbrettern im nächsten Stockwerk verschwinden – und hinter der Hausmauer das regelmässige Grollen des wassergetriebenen Schaufelrads: Das ist Ueli Ottis Welt.

«Schwieriger als das Mahlen ist das Reinigen des Getreides», sagt er. Mit Sieben und Gebläsen werden Roggen, Weizen, Dinkel und Hafer zuerst von Stroh, Steinchen, Unkrautsamen und Staub gereinigt. Danach wird gemahlt: Vollmehl entsteht aus ganzen Kernen samt Schalen zwischen den beiden wasserradgetriebenen Mahlsteinen; Weissmehl, Halbweissmehl, Gries, sowie feines und grobes «Chrüsch» im elektrisch betriebenen Walzenstuhl. Pro Jahr verarbeitet die Mühle bis zu sechzig Tonnen Getreide: «Was meine Mühle für ein Jahr auslastet, schafft die grösste Getreidemühle der Schweiz, die Swissmill in Zürich, allerdings in einer Stunde», sagt er. Und fügt schmunzelnd hinzu, dafür habe Brot aus seinem Mehl – ohne jeden Zusatzstoff – schon mehr als einen von seiner «Weizenallergie» befreit.

In der Schweiz sei das Müllereigewerbe 1985 untergegangen, erzählt Otti. Zuvor hatten die Bauern eine Mahlpflicht: «Das war eine Kriegsvorsorge.» Die Bauern verpflichteten sich, eine bestimmte Menge Getreide mahlen zu lassen und das Mehl privat einzulagern, der Bund nahm ihnen im Gegenzug das Getreide zu einem garantierten Preis ab. «So überlebten rund vierhundert kleine Mühlen in den Dörfern.»

1985 wurde diese Mahlpflicht abgeschafft. Nun verkauften die Bauern ihr Getreide an die Meistbietenden: die kostengünstigen industriellen Mühlen. Die kleinen gingen ein.

Nischenmärkte tun sich auf

Nicht so die Otti-Mühle. Hier entschied Ueli Otti zusammen mit seinen vier Söhnen: «Unsere Vorfahren haben diese Mühle so lange betrieben und wir sollen jetzt die sein, die aufhören? Jetzt erst recht.» So stieg man in den Detailhandel ein und bot das biologisch produzierte Mehl in Kleinpackungen an. Freilich: Nur mit diesem Verdienst hätte man nicht überleben können.

«Heute muss man sich etwas einfallen lassen», sagt Otti. Zwei seiner Söhne bauern im Dorf, davon einer auf dem elterlichen Hof. Neben dem Getreide produzieren sie Gemüse und Kartoffeln; aus der Kuhmilch der Otti-Höfe stellt ein Käser acht verschiedene Biokäse her. Die alten Schwarzfleckkühe und die Schweine werden zu Wurstwaren verarbeitet. Verkauft werden all diese Produkte ab Hof und auf dem Bieler Markt. Ein weiteres Geschäft sind die Pferdefahrten für Hochzeiten, Vereins- und Firmenausflüge – auf Wunsch kombiniert mit einer Besichtigung der Mühle und einem reichhaltigen Apéro. Dabei hat jeweils sogar der servierte Wein Familienbezug: Ein Bruder von Ottis Frau ist Weinbauer am Neuenburgersee.

Die Grossfamilie Otti ist eine Sippe wie zu Gotthelfs Zeiten und gleichzeitig eine schlagkräftige Produktionsgemeinschaft in einer immer mehr deregulierten Landwirtschaft. «Wir haben uns hinübergerettet in die neue Zeit», sagt Otti. «Solange alle einverstanden sind, zusammenarbeiten und sich gegenseitig helfen, solange wird es weitergehen.» Übrigens ist vorgesorgt: einer der Otti-Söhne arbeitet zwar heute als Chauffeur – aber gelernt hat er seinerzeit Müller. Wer weiss.

 

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Der Tanzmusiker

Ueli Otti (* 1932) hat nie anderswo gelebt als auf dem Otti-Hof in Oberwil bei Büren an der Aare (BE). Sobald er konnte, hat er zuhause mitgearbeitet. Lohn hat er, wie damals auf Bauernhöfen üblich, keinen erhalten. Aber tief in den Sack greift sein Vater, als er ihm eine Handorgel und kurz darauf für die Rekrutenschule als Dragoner ein Halbblutpferd kauft: Otti wird Kavalleriewachtmeister und Tanzmusiker.

Zuhause führt er nun den Hof selber und absolviert in zwei Wintern die Landwirtschaftliche Schule auf der Rütti in Zollikofen (BE). 1956 führt Oberwil eine Güterzusammenlegung durch, seither arbeitet Otti statt auf 40 Kleinstparzellen auf zusammenhängendem Boden. 1958 Heirat, in den folgenden Jahren kommen vier Söhne zur Welt. 1981 Umstellung auf die Biolandwirtschaft: «In dieser Zeit sind wir froh gewesen um die Gagen, die ich als Tanzmusiker bekam.» Unterdessen ist er, wie sein Vater in späteren Jahren, der Müller in der Otti-Mühle.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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