Predigen, beerdigen und taufen

Das hier ist die Sakristei: ein Lager grosser Kerzen, Messkelche, eine CD-Sammlung mit geistlicher Musik und im Schrank Maria Reglis weisse Albe, das knöchellange, leinene Gewand, das sie in der Kirche jeweils trägt. Die eingenähten Initialen sind nicht die ihren. Sie sagt: «Das Kleid gehörte meinem Vorgänger, einem etwas kleineren Priester. Man musste nur die Ärmel einnehmen. Jetzt brauche ich’s.»

Sie führt durch das moderne katholische Pfarreizentrum Sankt Josef in Köniz (BE), wo sie arbeitet. Rechtfertigen mag sie sich nicht, dass sie mit über vierzig, nach zehn Jahren «weltlicher» Arbeit, wieder in die theologische eingestiegen ist: «Nicht, dass mich die Institution der katholischen Kirche dermassen überzeugen würde. Aber eine Glaubenstradition, die über Jahrhunderte von Männern bestimmt wurde, mit einer feministischen, politischen und mystischen Sicht in die heutige Zeit zu übersetzen und so zu einer befreiten Haltung dem Leben gegenüber beizutragen, das scheint mir eine sinnvolle Arbeit zu sein.»

Fast eine Priesterin

Später erzählt Maria Regli in ihrem Büro an einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen von ihrer Arbeit. Nein, sie sei keine Priesterin: «Ich bin Pastoralassistentin. Das Spenden der Sakramente ist weiterhin den Priestern vorbehalten. Weil es aber immer weniger Priester gibt, übernehmen wir Laien immer mehr auch ihre Aufgaben: Gottesdienste feiern, predigen, taufen, beerdigen.» Das vermehrte Engagement von Laien sei seit dem 2. Vatikanischen Konzil 1965 ausdrücklich erwünscht, und im übrigen gelte: «In der katholischen Kirche gibt es ein kanonisches Recht, das die grosse Linie vorgibt; daneben aber immer Ausnahmen, die im Einzelfall die Vielfalt in der Einheit ermöglichen. Es gilt, diesen Spielraum möglichst kreativ zu nutzen. Katholisch heisst ja auch ‘allumfassend’.»

Neben ihren liturgischen Aufgaben arbeitet Regli in den Vorständen diverser Gruppierungen der Pfarrei: dem «Frauen-Forum», der Eltern-Kind-Gruppe, der Katholikenvereinigung und in der Erwachsenenbildung. Auch Projektarbeit gehört zu ihrem Pflichtenheft. Zudem ist sie in der Dekanatsversammlung von Stadt und Region Bern engagiert, wo zum Beispiel Entwicklungspläne über den Zusammenschluss von Pfarreien oder Leitziele über eine bessere Integration von Migrantinnen und Migranten verabschiedet werden.

Zehn Prozent ihrer Arbeit ist reserviert für ihr Hauptinteresse, die Spiritualität. «Alle Menschen stellen sich existentielle Fragen, machen Erfahrungen, die sie nicht beantworten oder deuten können, weil sie keine Sprache dafür haben», sagt sie. Davon ausgehend suche sie nach dem Verbindenden in den verschiedenen Religionen, das sie in deren jeweiligen mystischen Traditionen finde. «In der Spiritualität, wie ich sie verstehe, geht es darum, das Leben von heute und sich selber tiefgründiger wahrnehmen zu lernen – nicht darum, auf das Jenseits zu vertrösten.»

Mit dieser Überzeugung macht sie ihre «spirituellen Begleitungen», nach denen eine wachsende Nachfrage bestehe. Thematisiert würden dabei auch psychische Verletzungen, die wegen traditioneller Glaubensvorstellungen entstanden seien: «Bilder wie die Hölle sind ja vor allem Ängste, die in theologische Konstruktionen gegossen wurden.» Diese Art von Seelsorge ist auch sprachlich und kulturell anspruchsvoll: in der weitläufigen Diaspora-Gemeinde Sankt Josef leben rund 6000 Katholiken und Katholikinnen aus 62 Nationen von Polen bis Sri Lanka. Eben vor zwei Monaten wurde Reglis Pensum um 10 Prozent aufgestockt, damit sie sich mehr um Integrationsfragen kümmern kann.

Die Hölle der Fremdbestimmung

Über ihre Arbeit in einer Gewerkschaftszeitung Auskunft zu geben, findet Maria Regli spannend: «Ich könnte mir gut vorstellen, als Theologin statt in der Kirche in einem Industriebetrieb zu arbeiten.» Es gehe ihr darum, die historisch gewachsene Trennung zwischen Profan und Sakral aufzuheben: «Der Alltag beinhaltet beides, alles.» Sakrale Räume finde man überall dort, «wo man zur Ruhe kommen und dem Geheimnisvollen, dem Sakralen eben, Raum geben kann».

«Die Not», fährt sie fort, «den Zugang zum eigenen Innenraum nicht zu finden und sich darum gegen Ausbeutung und Fremdbestimmung nicht genug wehren zu können, ist ein Teil dessen, was ich unter Hölle verstehe. So lebt man am eigenen inneren Potential vorbei.» Darum könne sehr wohl auch gewerkschaftliches Engagement ein spirituelles sein: «Wer die Strukturen so verändert, dass die Menschen zu einem selbstbestimmteren Leben finden, macht eine höchst spirituelle Arbeit.»

 

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Linke Theologin

Maria Regli (* 1961) wuchs in Andermatt (UR) auf und machte das Gymnasium in einem katholischen Internat in Ingenbohl (SZ).

1982 beginnt sie als erste Frau aus dem Kanton Uri ein Theologiestudium, zuerst in Fribourg, später im holländischen Nijmegen. Sie setzt sich unter anderem mit feministischer, politischer und Befreiungstheologie auseinander. Nach Lizentiat und Pastoralpraktikum arbeitet sie bei der Fachstelle Jugendseelsorge Zürich, daneben bei der Drogenberatungsstelle Contact in Bern.

Zwischen 1993 und 2003 Arbeit mit Erwerbslosen in Bern, zuerst bei der Caritas, dann bei der Stadt Bern. Politische Engagements im Regionalkomitee der Alpeninitiative, bei der Ofra, als Präsidentin des Tageselternvereins Bern und als Stadträtin (Grünes Bündnis). Weiterbildungen in Projektmanagement, Coaching und Erwachsenenbildung.

Sie ist verheiratet, Mutter von drei Kindern und lebt in der Siedlung Strassweid in Mittelhäusern (BE), Kindererziehung im Jobsharing mit ihrem Mann. Sie ist VPOD-Mitglied und hat in Köniz eine 60 Prozent-Stelle (4800 Franken brutto). Sie ist leidenschaftliche Bergläuferin und hat pro Jahr einen Marathonlauf auf dem Programm. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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