Waschgang mit Champagner

An der Eingangstüre der Schriftzug «Jetwash». Links dahinter ein grosser Selecta-Automat, der andernorts Mineralwasserflaschen oder Pommes-Chips anbieten würde. Hier ist er gefüllt mit Waschpulver, Wäschespüler und Fleckenlöser, abgepackt in Portionensäckchen. Dahinter die Sitzbank mit einer Reihe von plastifizierten Schalensitzen. Von hier aus hat man freie Sicht auf Waschmaschinen: links die grossen 8-Kilogramm-Maschinen, rechts die kleineren, die 5-Kilogramm fassen. Hinter der Zwischenwand platzsparend zweistöckig aufgestellt stehen die Tumbler.

Eigenes Leben dank Pikettdienst

«Bei mir hat es sofort ‘Kling’ gemacht», sagt Esther Mugglin, «als mir vor anderthalb Jahren der damalige Besitzer von ‘Jetwash’ erzählt hat, er möchte seinen Waschsalon verkaufen.» Zwar hatte sie kein Geld, um ein Geschäft zu kaufen, aber im Berner Lorrainequartier funktioniert eben vieles ein bisschen anders: Der Kaufvertrag schrieb lediglich einen Freundschaftspreis fest, abzahlbar innert zweier Jahren. Seit dem 1. April 2006 gehört der Maschinenpark Esther Mugglin.

Geöffnet ist hier 365 Tage im Jahr vom Montag bis zum Samstag von 7 bis 21 Uhr und am Sonntag von 9 bis 18 Uhr. Entscheidend ist für Esther Mugglin nicht, dass sie täglich vierzehn Stunden auf Pikett ist, sondern dass sie in ihrer Wohnung einige Häuser weiter den Tag normalerwese nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten kann. Rund zwei Stunden täglich benötigt sie für Putz- und Reparaturarbeiten oder dafür, überforderte Kundschaft, die die Notfall-Handynummer wählt, von ihrem Waschmaschinenstress zu erlösen. Der Verdienst? Unter dem Existenzminimum. Bezahlt werden müssen zuerst die Rückstellungen für neue Maschinen, dann auch Miete, Wasser und Strom.

Aber dafür ist Esther Mugglin ihre eigene Chefin. Mit wenig Geld zu leben, hat sie längst gelernt – zum Beispiel 1989/90 als Mitglied einer Nicaragua-Brigade: «Eine gute Erfahrung, die ich nicht missen möchte: Wir waren Weltverbesserer, die wussten, was man in Nicaragua besser machen muss, aber unfähig waren, ohne Streit als Gruppe zu funktionieren.» Immerhin aber finanzierte und baute die Brigade damals unter Anleitung von nicaraguanischen Fachleuten die Stallungen für eine Schweinezucht und in gebirgigen Kaffeeplantagen mehrere Steinhäuser.

Nach der Rückkehr 1991 arbeitete sie zehn Jahre lang als Fahrerin für das Behindertentaxi-Unternehmen Betax: «Ein guter Arbeitergeber, jahrelang traf dort die Belegschaftsversammlung die Entscheide.» In dieser Zeit wurde sie VPOD-Mitglied. Gegen Ende der neunziger Jahre tauchten aber auch bei Betax Vorgesetzte auf mit dem Auftrag, Kostenstruktur und Effizienz zu optimieren. «Wir konnten nicht mehr mitentscheiden; die Arbeit wurde strenger und die Taxitarife für die Behinderten stiegen.» Sie verliess Betax, als eine private Geschichte dazukam, die sie in eine existentielle Krise führte. Nun hatte sie für längere Zeit eine Arbeit, für die es nie Chefs geben wird: «Ich musste mein Leben neu ordnen.»

Plötzlich steigt ein kleines Fest

Wieder richtig Boden unter die Füsse gekriegt hat Esther Mugglin in jenem Augenblick, als der Waschsalonbesitzer sagte, er möchte verkaufen und es in ihrem Kopf «Kling» machte.

Heute hat sie ihr Geschäft im Griff – auch wenn’s ab und zu Ärger gibt: etwa, als sich im letzten Sommer jemand abends in den Salon einschliessen liess und versuchte, die Einfränklerkassen an den Waschmaschinen zu knacken. Geld kam keins weg, aber der Sachschaden war beträchtlich. Seither hängt an der Eingangstür eine Kurzbelehrung für Knackis: «Einbrechen und Kassen aufbrechen ist zwecklos!»

Oder die bisherigen Erfahrungen mit den Fahrenden, die ab und zu die Dienste des Salons in Anspruch zunehmen: «Viele von ihnen verhalten sich rücksichtslos. Ich muss jeweils Präsenz markieren und, damit sie mich ernst nehmen, laut werden und Wörter brauchen, die ich eigentlich gar nicht brauchen will, weil ich eigentlich Sympathien habe für das fahrende Volk.»

Aber ein grosser Teil der Kundschaft braucht hier keine Kontrolle – von den Freaks, die auf den Strassen der Stadt leben, bis zu jenen, die für das Waschgeschäft mit dem grossen Mercedes vorfahren. Und ab und zu steigt hier, wie gestern Abend, plötzlich ein kleines Fest: Wieder einmal war der Lumpensammler vorbeigekommen, um seine Sachen zu waschen und zu fragen, ob er mitnehmen könne, was in letzter Zeit in den Maschinen liegengeblieben sei. Dann kam ein sehr junges Pärchen, und das öffnete beim Warten auf seine Wäsche eine Flasche Champagner, weil die Frau eben eine Wohnung gefunden hatte. Und dann trank man zu viert ein Glas und für einen Moment war es im «Jetwash» so, wie es unter Menschen sein könnte.

 

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Nonnen und Nicaragua

Esther Mugglin war gerade 14 Jahre alt, als plötzlich alles anders wird: Ihre Mutter stirbt und ihr bereits betagter Vater schickt sie für das letzte Schuljahr in ein Nonnenkloster. Einige Monate später stirbt auch der Vater. Als sie aus dem Kloster nach Hause kommt, ist sie Vollwaise mit Amtsvormund und lebt mit ihren beiden älteren, jugendbewegten Brüdern im Elternhaus, das diese in gutbürgerlichem Quartier zu einer Polit-WG umfunktioniert haben.

Es gibt Lämpen. Auch mit der Polizei. Esther fährt zum Sprachaufenthalt nach Florenz, nimmt nach der Rückkehr eine eigene Wohnung, beginnt eine Servicelehre, bricht sie ab, weil der Chef nach einem schweren Autounfall sein Restaurant verkaufen muss und man ihr als junger Radikaler nur das Nobelhotel «Schweizerhof» zur Weiterführung der Ausbildung anbietet. Im Kulturzentrum Reitschule engagiert sie sich nun in der «Autonomen Nicaragua-Brigade». Im Dezember 1989 besteigt sie die damals 22-Jährige als Brigadistin das Flugzeug nach Nicaragua, um die sandinistische Revolution zu unterstützen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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