Jetzt spricht Mister X

Er ist nicht zu übersehen. Der Chauffeur Antonios Antonopoulos steht vor dem Eingang des Luzerner Hauptbahnhofs und winkt lachend mit einem grossen Karton. Darauf steht: «Judas raus.» Dieser Karton hing letzthin, als er zur Arbeit kam, über seiner Laderampe im Hauptsitz der Imbach Logistik AG in Schachen bei Malters (LU). So also funktioniert Mobbing im Luzerner Hinterland: dumm und bibelfest.

Der Missstand wird öffentlich

Schon seit längerer Zeit hatte die Unia die eigenartige Handhabung des Fahrtenschreibers und die Arbeitszeit-Abrechnungen in Walter Imbachs Transportunternehmen im Auge. Für eine Pauschale von 300 Franken leisteten dort die Chauffeure in den letzten Jahren pro Monat bis zu 40 Überstunden.

Um die Arbeitszeit auf dem Fahrtenschreiber tief zu halten, legen ihn die Chauffeure jeweils erst nach dem Laden ein und entfernen ihn vor dem Entladen. So werden Arbeitstage von morgens sechs bis abends nach sieben Uhr möglich. «Es kam auch schon vor, dass es neun Uhr wurde», sagt Antonopoulos. Die Arbeit im Stückguttransport wurde zudem immer strenger. Die Anzahl der anzufahrenden Posten ist von rund zwanzig nach und nach auf bis zu dreissig gesteigert worden.

Am 12. Mai 2006 hatte Antonopoulos genug. Er war kurz nach 16 Uhr eben in Büron (LU) mit den Auslieferungen fertig geworden, als ihn der Disponent anrief, er habe nach Sursee (LU) zu fahren und dort Material zu laden. Er antwortete, er habe genug gearbeitet, brauche noch Zeit für die Fahrzeugpflege und werde deshalb nun direkt zum Firmensitz zurückfahren. Die Folge des Protests war ein eingeschriebener Brief: «Wir erteilen Ihnen hiermit einen schriftlichen Verweis. Falls Sie sich nochmals weigern, die Instruktionen der Disposition zu befolgen, sehen wir uns leider gezwungen, das Arbeitsverhältnis fristlos zu kündigen.»

Der Streit um die Zeiterfassung bei der Imbach Logistik AG eskaliert, als die Unia Anzeige erstattet wegen Verletzung der Arbeitszeitverordnung. Am 5. September führt die Polizei auf dem Firmenareal eine Kontrolle durch. Antonopoulos wird polizeilich befragt und legt die Fakten auf den Tisch. Die Polizeiaktion wird von der «Neuen Luzerner Zeitung» und von «Work» öffentlich gemacht. Imbach bringt die Presse und die Gewerkschaft mit einer Verfügung «superprovisorisch» zum Schweigen. Das Amtsgericht Sursee hebt die Verfügung wieder auf. Daraufhin rekurriert Imbach beim Luzerner Obergericht. Dieser Rekurs ist hängig.

Am 23. September, einem Samstagvormittag, erlebt Antonopoulos, wie er sagt, «das grösste Theater, das ich je gesehen habe»: An einer ausserordentlichen Mitarbeiterversammlung erscheint Chef Imbach mit seiner leidgeprüften Familie, die schwer unter den Angriffen der Unia zu leiden habe, und beschwört die Angst vor der Zukunft. Schliesslich hält er ein Unia-Flugblatt in die Höhe, auf der eine von Antonopoulos’ Fahrtenscheiben anonymisiert abgebildet ist und sagt, er wisse, wer dieser «Mister X» sei, der mit der Unia zusammenarbeite. Antonopoulos: «Dieser Moment war schwierig für mich. Ich fühlte mich allein in einem Löwenkäfig.» Imbach schliesst mit der Drohung, Mister X. dürfe in der Schweiz nie wieder eine Stelle als Chauffeur finden. Seine Angestellten wissen nun, was es geschlagen hat.

Mobbing gegen den Sündenbock

Seit Anfang Oktober setzte Antonopoulos seinen Fahrtenschreiber so ein, wie das Gesetz es vorsieht. Seither grüssten ihn seine Kollegen nicht mehr. Am Morgen des 5. Oktober fand er seinen Lastwagen mit einem Plattfuss vor. Am 13. Oktober forderte ihn eine Delegation seiner Kollegen auf zu kündigen. Am 16. Oktober fand er auf seiner Rampe das Plakat «Judas raus». Am 24. Oktober kündigte er. Jetzt rief Imbach in einer internen Mitteilung dazu auf, Antonopoulos dürfe «nicht geplagt respektive gemobbt werden; dies könnte zu einem weiteren Rechtsstreit führen». Seither grüssen ihn die Kollegen wieder. «Mich macht das traurig, dass die anderen Imbach-Chauffeure so grosse Angst haben. Viele waren gute Arbeitskollegen», sagt Antonopoulos in Luzern. «Aber sie haben Frau und Kinder, sie sind von Imbach abhängig.»

Am 26. Oktober hat die Chauffeuren-Kommission von Imbachs Gnaden nun im Übereifer, den Chef gegen die Unia zu verteidigen, einen kapitalen Bock geschossen. In einem Brief an den Unia-Transportsekretär Roland Schiesser wird über die «Nachteile» geklagt, die die Chauffeure neuerdings hätten: «Seit der Polizeiaktion vom 5. September 2006 getrauen wir uns nicht mehr, die Tachoscheibe erst beim Abfahren einzuschalten.» Schiesser: «Damit geben die Chauffeure die Verletzung der Arbeitszeitverordnung zu. Nun muss nur noch geklärt werden, ob sie das freiwillig taten.»

Übrigens war Imbachs Drohung wirkungslos: Antonopoulos hat bereits eine neue Stelle. Rückblickend sagt er: «Ich habe nichts gegen Herrn Imbach. Es ist nur einfach so: Wir haben recht.»

 

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75mal um die Welt

Geboren ist Antonios Antonopoulos 1955 in Athen. Sein Vater war Taxiunternehmer. Bei ihm begann er als Chauffeur zu arbeiten. Nach dem Tod des Vaters stieg er bald auf Lastwagentransporte um, fuhr zuerst in Griechenland, dann für eine griechische Firma in ganz Europa.

Seit er sich 1994 aus privaten Gründen in der Zentralschweiz niedergelassen hat, arbeitet er als Chauffeur für verschiedene Transportunternehmer. Im April 2003 kommt er als Cargo-Domizil-Fahrer zur Imbach Logistik AG und transportiert seither Stückgut – vor allem im Luzerner Hinterland und im Kanton Aargau. Er ist Chauffeur CE, der auch Cars fahren und spezielle Transporte mit Polizeibegleitung ausführen darf und hat in seiner Berufszeit insgesamt rund drei Millionen Kilometer zurückgelegt.

Antonopoulos verdient 4800 Franken brutto (davon 300 Franken als Überzeitentschädigung). Er ist Unia-Mitglied und lebt in Willisau (LU). 

Aktuell

Zum Projekt

 

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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