Mit Nüssen, Mandarinen und Moral

«Es gibt Tage», sagt der Samichlous, «da ist auf der Büez alles daneben: das Wetter, die Leute, die Arbeit.» Dann ärgere er sich, wenn ihm durch den Kopf gehe: «Und itz muess i no ga chlousne.» Kaum streife er jedoch den roten Mantel über, sei der Unmut weg. Er werde ruhig, bewege sich bedächtiger und freue sich auf die Auftritte.

Hektische vierzehn Tage

In Bern tauchen sie jeweils am ersten Advent auf: Zuerst machen die gut zwanzig Chlous-Schmutzli-Paare der «Samichlouszunft Bärn» bei ihrem «Auszug» einen gemeinsamen Besuch – in diesem Jahr im Ziegler- und im Lindenhofspital. Dann treffen sie sich im Zytglogge-Turm. Aus dem Erker liest dort der «Oberchlous» als Zunftmeister dem wartenden Publikum eine Weihnachtsgeschichte vor. Dann – punkt fünf – treten die Zunftmitglieder in voller Montur in die Abenddämmerung hinaus vor die Kinder ohne Rute und ohne Moralpredigten, dafür mit Nüssen, Mandarinen und guten Worten.

Danach sind diese Paare bis zum 14. Dezember in der Region unterwegs, tauchen – wenn sie eingeladen werden – in Kindergärten und Heimen auf, haben ihre Auftritte an Firmenfeiern und in Kaufhäusern oder besuchen die Kinder zu Hause. Zudem empfangen sie an zwei Tagen – zusammen mit einem Esel – rund hundert Gäste in einem festlich geschmückten Häuschen draussen im Wald: jede Stunde eine andere Familie.

Die «Chlouse»-Saison beginnt für sie aber bereits im Oktober. Dann organisiert die zwanzig Jahre alt gewordene Samichlouszunft für ihre Mitglieder jeweils zwei Kurse. Der eine Kurs ist der kommenden Saison gewidmet, der andere dient der Weiterbildung: Einmal informiert eine Tierärztin über Eselhaltung, ein andermal sprechen Pflegefachfrauen über Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit Schwerkranken im Spital. Ab Mitte Oktober wird das «Chlous-o-Phone» aufgeschaltet, über das die Auftritte gebucht werden können. In den folgenden Wochen richten sich die Zunftmitglieder bei Bern eine Zivilschutzanlage als zentrale Unterkunft ein. Hier wird in der ersten Dezemberhälfte geschminkt, gegessen, geplaudert und ausgeruht. Die guten Geister der Unterkunft sind die Partnerinnen der Zunftmitglieder. Sie seien dort, versichern Chlous und Schmutzli, nicht selten am morgen die ersten, die kommen, und am Abend die letzten, die gehen. Ende Januar gibt es dann einen Chlouse-Höck, im März die Generalversammlung, im Sommer ein gemeinsames Bräteln und einen ganztägigen Ausflug mit Behinderten, den die Zunft finanziell unterstützt.

Streit um die Rollenverteilung gibt es in der Zunft keine: Wer mitmacht, verdient seine Sporen zuerst als Schmutzli ab. Viele Schmutzli-Darsteller wollen danach gar nicht Chlous werden – umso mehr als diese Rolle heute längst nicht mehr stumm ist und der Schmutzli im Dialog mit dem Chlous und gegenüber dem Publikum einen eigenständigen Part spielt.

Für Chlous und Schmutzli sind die Auftritte halb Laienschauspielerei, halb soziales Engagement. Weil jeder Auftritt anders sei, müsse auch die eigene Rolle immer wieder neu interpretiert werden: Einmal gilt es, das Zutrauen eines schüchternen Kindergärtelers zu gewinnen, der den Chlous ein bisschen am Bart zupfen möchte, um herauszufinden, ob daran auch wirklich alles echt sei. Und kurz darauf stehen die beiden vor einer angeheiterten Firmengesellschaft und müssen die diskreten Informationen der Chefsekretärin als wirkungsvolle Pointen platzieren.

Zuhören statt Geld verdienen

Einer der berührendsten Auftritte ist für jenem Chlous, der Auskunft gibt, mit seinem Begleiter jeweils jener in einem Altersheim. Dort seien sie in den letzten Jahren jeweils drei über neunzigjährige Frauen begegnet, die sich über ihren Besuch immer herzlich gefreut hätten. «Es geht einem schon nahe, wenn man merkt, wieviel man bringen kann lediglich dadurch, dass man jemandem die Hand reicht und ihm einen Moment zuhört», sagt der Chlous. Und der Schmutzli ergänzt, es komme vor, dass man nach einem Auftritt hinausgehe und denke: Gut, dass es fertig ist. Und es komme vor, dass sie sich beide aus den Augenwinkeln eine Träne wischten.

Die Mitglieder der «Samichlouszunft» sind bescheidene Leute: Für einen dreiviertelstündigen Auftritt werden einer Familie 40 Franken verrechnet, einer Firma 130. An den sogenannten «Zunfttagen» gehen zudem alle Entschädigungen an die Zunft – mit dem Geld werden später zum Beispiel neue Auftritte in Heimen oder Spitälern unterstützt. Der Samichlous, sagt, er sei zufrieden, wenn seine Einnahmen schliesslich reichten, um den Mantel und den Bart reinigen zu lassen. Der Schmutzli lächelt, als er den Chlouse-Idealismus mit einem Satz kommentiert, den er gerne den Gewerkschaften widmen möchte: «Wer nichts weiter tut als Geld verdienen, verdient nichts weiter als Geld.»

 

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Hinter den Bärten

Der Samichlous ist um die 40 Jahre alt und seit 14 Jahren im Dienst. Von Beruf ist er Strassenbauer, 13 Jahre war er Polier, seither arbeitet er beim kantonalen Strasseninspektorat. Sein Chlouse-Engagement ist möglich dank dem Verständnis seines Chefs und in diesem Jahr dank sieben eigenen Frei-Tagen. Aus dem Polierverband ist er ausgetreten, zum Eintritt in den Staatspersonalverband hat er sich bisher nicht entschliessen können. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Die ältere weiss unterdessen, warum ihr Vater Anfang Dezember nie Zeit hat, zur Arbeit zu gehen.

Der Schmutzli ist 65, pensioniert und seit fünf Jahren in der Zunft aktiv. Er hat eine Buchdrucker-Lehre und danach die Polizeirekrutenschule gemacht. Fast vierzig Jahre stand er danach in verschiedenen Funktionen als Polizeibeamter im Dienst der Stadt Bern. Er ist bis heute Mitglied der Gewerkschaft VPOD und des Polizeibeamtenverbands. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne und eine Tochter. Diese ist heute die Ehefrau vom Samichlous.

Kontakt: www.samichlouszunft-bern.ch

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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