Hoppla: Demokratische Kunst!

Letzthin fragte der «Tages-Anzeiger», warum die Intendanten-Löhne der grossen Zürcher Kulturinstitutionen – des Opernhauses, des Kunsthauses oder der Tonhalle – als Geheimsache behandelt würden. Immerhin lebten diese Häuser doch zu 40 bis 80 Prozent von öffentlichen Geldern (TA, 16.6.2016). Mehr als eine Sauregurkengeschichte war das nicht: In Zürich (und nicht nur dort) genügt es, wenn die Direktoren derartiger Häuser auf diese ab und zu gestellte Frage sinngemäss verlauten lassen, sie seien trotz Subventionen – so das Zürcher Schauspielhaus – eine nicht-börsenkotierte AG und deshalb zu keiner Auskunft verpflichtet.

Guido Kalberer, Ressortleiter Kultur, kommentierte den Bericht im Blatt mit dem Satz: «Zürich will Topleute und bezahlt Topsaläre, um in der ersten Liga mitspielen zu können, aber künftig bitte nur noch unter der Bedingung der Offenlegung der Saläre!» Damit waren die notorischen Kommentarspalten-VollschreiberInnen bedient («Leserbindung!»), und der «Tages-Anzeiger» hätte sich wohl routinemässig die nächste saure Gurke vorgenommen, wäre nicht etwas Unvorhergesehenes passiert.

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Als Kommentarspalten-Vollschreiberin betätigte sich diesmal nämlich auch die international renommierte Kunstkuratorin Bice Curiger, die als künstlerische Leiterin der Fondation Vincent van Gogh in Arles routinemässig die Kaderlöhne als Geheimsache verteidigte und den Spiess umdrehte: «Selbst im Feuilleton wird in der reichen Schweiz nur noch über Geld geschrieben. […] Es herrscht zu viel Süffisanz, Häme und Griesgram. Warum sind die Posten im Feuilleton nicht auch zeitlich befristet wie jene der Intendanten im Theater?»

Auf der Tagi-Redaktion muss man sich auf die Schultern geklopft haben: «Bingo! Ein Promi wettert!! Kostengünstiger Nachzug!!!» Eine Journalistin wurde abdetachiert, bei Curiger nachzufragen, wie sie denn ihre Stammtisch-Kraftmeiereien gemeint habe. Damit wurden diese zum redaktionellen Beitrag geadelt und sie war im Interview clever genug, ihr Feuilleton-Bashing weiterzuführen: Nach der zweiten Schurni-Frage waren die Kaderlöhne öffentlich subventionierter Häuser vom Tisch und die Interviewte zog gegen den allerdings unübersehbaren Leistungsabbau privater Medienkonzerne vom Leder, als hätte diese Polemik einen kulturpolitischen Zusammenhang zum vorgegebenen Thema (TA, 22.6.2016).

Als Curiger abschliessend gefragt wurde, ob denn die Aufgabe des Feuilletons tatsächlich nur noch sei, «exzellente Produktionen zu besprechen», antwortete sie unter anderem: «Meine Generation hat sich für die Demokratisierung der Kunst und der Kultur eingesetzt. Mittlerweile ist die Situation leider so, dass vertiefte Auseinandersetzung bald nur noch in Spezialistenorganen geboten wird. Vor lauter ‘Demokratisierung’ entsteht das Gegenteil, der Ausverkauf. Eine gefährliche Situation.»

Hoppla. – Auch nach mehrmaligem Lesen verstehe ich dieses Statement so, dass es für Curiger solange wichtig war, «Kunst und Kultur» zu demokratisieren, bis sie als Expertin in den Leitmedien die Definitionsmacht erlangt hatte, diese Demokratisierung für gefährlich zu halten. Bevor man allerdings verstehen würde, was da gefährlich sein soll, müsste man wissen, was unter «Demokratisierung der Kunst» überhaupt zu verstehen ist. Davon, dass Curiger als Kunstkuratorin in erster Linie von Kunst und nicht von einer breit gefassten Kultur sprach, gehe ich aus (die Journalistin hat nicht nachgefragt).

«Demokratisierung der Kunst»? Sicher ist: Wie die Demokratisierung der Gesellschaft die demokratische Gesellschaft zum Ziel hat, so muss das Ziel der Demokratisierung der Kunst eine irgendwie geartete «demokratische Kunst» sein. An diesem Punkt ist Selberdenken gefragt, denn meine siebenbändige Studienausgabe «Ästhetische Grundbegriffe» (Stuttgart 2005/2010) hat zwischen «Demiurg» und «Demut» eine ärgerliche Lücke: Demokratie ist in der Ästhetik kein Grundbegriff.

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Sicher ist, dass die Kunst in den letzten paar hundert Jahren nicht sehr viel mit Demokratie zu tun gehabt hat. Vielmehr war es so, dass in verschiedenen Zeitaltern verschiedene Kunstgattungen eine hegemoniale Stellung erlangt haben und diese Hegemonie stets in engem Zusammenhang mit den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen stand. Kurzum war es ungefähr so:

• Bis zum 16. Jahrhundert ist die religiös gebundene Skulptur und Malerei hegemonial, wobei das Kunstwerk dem Ritual dient. Seine Auratik ist total; Autonomie des Künstlers ist nicht vorgesehen, er wirkt bescheiden als Diener der Kirche.

• Das 16. Jahrhundert bringt den Übergang von der religiös gebundenen zur säkularen Kunst der Fürstenhöfe. Hegemonial wird nun die Musik: Durch Beizug des Orchesters erlangt das Madrigal zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Ausdruckskraft der Oper und die Repräsentativität, die einem Fürstenhof angemessen ist. Die Auratik dieser Kunst ist weiterhin beträchtlich (Opern können zwar anhand der Partituren reproduziert werden – aber eben nur, wenn man Chor und Orchester nebst den SolistInnen bezahlen kann). Die Namen der Komponisten beginnen in bescheidenem Mass kulturelles Kapital zu akkumulieren, so dass diese als Künstler eine gewisse Autonomie erlangen.

• Im 18. Jahrhundert löst allmählich das Schauspiel die Musik als hegemoniale Kunstform ab. Das hat nicht zuletzt mit dem Bedürfnis zunehmend vieler Kunstschaffenden zu tun, die aufklärerische Rede verbreiten und doch von der eigenen Arbeit leben zu wollen. Zwar ist die Schauspielschreiberei von abnehmender Auratik, dafür wachsen kulturelles Kapital und Autonomie der Autoren. Im Gegenzug sagen die aufgeschlosseneren Fürsten zu ihren Hofdramatikern: Haut uns so recht in Pfanne, damit auch wir, die das zulassen, als aufgeklärt gelten, aber tut’s in sauberen Blankversen, bietet was auf der Bühne und vor allem: Verwechselt letztere nicht mit dem wirklichen Leben.

• Dass gegen Ende des Jahrhunderts dann auch einige Fürsten auf der Guillotine enden, führt zur optimistischen Annahme, die aufklärerische Rede könne die Welt verbessern. Immerhin verändert sie sich soweit, dass man ab Anfang des 19. Jahrhunderts von bürgerlicher Kunst spricht, die nun die aufklärerische Rede in einem kostengünstigeren Format zur Blüte bringt: Hegemonial wird der Roman. Romane sind per Buchdruck verbreitete Massenware, auratisch demnach nicht mehr bedeutend. Zudem gerät ab Ende dieses Jahrhunderts das Kunstwerk in immer mehr Genres in den Sog der technischen Reproduzierbarkeit. Die Aura des Kunstwerks wird zunehmend obsolet. Kompensatorisch fordert die künstlerische Autonomie von sich und von der Welt das Äusserste. So werden die Künstler zu Genies.

• Mit dem 20. Jahrhundert folgt das Zeitalter der audiovisuellen Medien: Die Bilder lernen laufen und sprechen. Die Auratik dieser Kunst wird völlig nebensächlich, die Autonomie in einem materiellen Sinn Realität: Künstler (und ja: nun auch nennenswert viele Künstlerinnen) erlangen sie, indem sie dank staatlichen und/oder privaten Subventionen ein Kleingewerbe betreiben. So dürfen sie tun, was sie wollen, solange sie nicht Konkurs gehen.

• Das 21. Jahrhundert verspricht als hegemoniale Kunst eine, die IT-gestützt und immer mehr unter industriellen Bedingungen produziert als Massenware den Markt überschwemmt. Nach der Auratik wird voraussichtlich auch die Autonomie des einzelkämpferischen Künstlertums obsolet werden (auch wenn die PR-Industrie weiterhin gutaussehende junge Leute als saisonal grossartige Künstler und Künstlerinnen in den Medienhimmel schiessen und nach der Saison abstürzen lassen wird).

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum meine «Ästhetischen Grundbegriffe» zwischen «Demiurg» und «Demut» keine «demokratische Kunst» vorsehen. Es hat sie nie gegeben und es wird sie auch weiterhin nicht geben: Zwei bürgerliche Jahrhunderte lang weigerte sich die Kunst aller Sparten so gut es ging aus standespolitischen Gründen, den aristokratischen Habitus abzulegen, und nun geht sie direkt in IT-gestützte industrielle Produktion über, zieht sich also hinter die Fabriktore zurück, wo die Zuständigen bekanntlicherweise Demokratie zuletzt vorsehen.

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Wenn dieser grobe Holzschnitt der europäischen Kunsthistorie nicht ganz falsch ist, stellt sich die Frage: Wie sähe denn hier und heute eine demokratische Kunst aus? So:

• Demokratische Kunst ist ent-auratisiert. Kunst, die ihre Aura verteidigt, um verkäufliche Ware zu sein, ist Kunsthandwerk und wer solches betreibt, ist sicher ein Krämer, ab deswegen noch kein Künstler (Frauen sind mitgemeint). Als Gewerkschafter habe ich selbstverständlich jedes Verständnis dafür, dass Künstler und Künstlerinnen irgendwie leben müssen – aber «Geld verdienen» ist laut meinem Nachschlagewerk auch kein ästhetischer Grundbegriff. Kunst ohne Aura dagegen legt keinen Wert darauf, als optimiertes Produkt am Markt zu bestehen. Kulturell bedeutend an demokratischer Kunst ist der Prozess, der jedem Produkt vorangeht.

• Demokratische Kunst vermeidet die Nähe zur Kategorie der Autonomie: Unter dem sozialen Aspekt (Autonomie von institutionellen Zwängen) bleibt sie ausser bei dilettierenden Steinreichen sowieso illusionär, und unter dem ästhetischen Aspekt (Autonomie als uneingeschränkte künstlerische Freiheit) bleibt sie verbunden mit dem Geniekult, der heute mit narzisstischem Wahn mehr zu tun hat als mit künstlerischer Originalität.

• Schliesslich ist die Zuschreibung «demokratisch» in demokratischer Kunst keine ästhetische Kategorie – der Begriff gehört ins Feld der politischen Ethik. Wer von «demokratischer Kunst» spricht, muss auch davon sprechen, dass ihre Ästhetik bloss eine Hilfswissenschaft dieser politischen Ethik ist. Das heisst: Der Sinn einer künstlerischen Stellungnahme (die ein «Werk» sein kann, aber nicht muss) lässt sich mit inhaltlicher Originalität und formaler Raffinesse allein nicht bestimmen – dieser Sinn ergibt sich erst aus der ethisch verbindlichen Positionierung des Künstlers/der Künstlerin: Der «Rahmen» definiert die Stellungnahme.

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Hoppla. – Ent-Auratisierung stellt den Begriff des «Kunstwerks» in Frage; die Vermeidung der Kunstautonomie jenen des «Künstlers»/der «Künstlerin»; und die Degradierung der Ästhetik zur Hilfswissenschaft löst den Begriff einer traditionell verstandenen «Kunst» überhaupt auf. In der Summe ergeben diese drei Dekonstruktionen wohl ungefähr das, was Josef Beuys 1967 mit dem Begriff der «Sozialen Plastik» und dem Bonmot «Jeder Mensch ist ein Künstler» gemeint haben mag.

In diesem Kontext hat auch Bice Curiger (* 1948) über die «Demokratisierung von Kunst und Kultur» nachzudenken begonnen. Fragt sich, was sie heute meint, wenn sie vor lauter «Demokratisierung» «eine gefährliche Situation» erkennt, gegen die «anzukämpfen» sie die Feuilletons verpflichten will.

Es ist schwerlich zu bestreiten, dass dreissig Jahre Neoliberalismus die ästhetischen Werte erodiert haben. Die zentrale ästhetische Kategorie heisst heute «Markt»: Was sich am Markt verkauft, ist Kunst; was sich am Markt nicht verkauft, ist keine. Je mehr Kunstware in den reichen, kulturalisierten Gesellschaften auf den Markt drängt, um sich anheischig zu machen, «Kunst» zu sein, desto mehr entsteht tatsächlich – mit Curigers Begriff – «Ausverkauf». Und je mehr Ausverkauf, das ist schon klar, desto mehr geraten die Preise unter Druck.

Für jemanden, der auf dem Kunstmarkt sein Geld verdient, kann diese Perspektive in der Tat «gefährlich» sein. Allerdings spricht trotzdem nichts dagegen, sich als Utopie eine demokratische Kunst auszudenken – eine Kunst, von der man nicht möglichst gut leben kann, sondern die man leben muss, nicht weil sie «schön» oder «wertvoll», sondern weil sie (zum Beispiel im Interesse der Demokratie) notwendig ist.

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