Offener Brief in der Grauzone

Bern, 1. Juli 2016

Liebe Lotta

Jetzt wanderst Du also zum zweiten Mal aus dem Zürcher Oberland an die US-amerikanische Ostküste aus. Mit der Adressänderungsanzeige hast Du mir Dein neues Büchlein, «Schreibstunden», zugeschickt, «mit Dank für unsere gemeinsamen Schreibstunden», wie Du mir schmeichelst.

Ich habe Dir zu danken für unsere gemeinsamen Schreibstunden auf der WoZ (wie sie bis zum Herbst 2003 hiess, erst danach wurde die WochenZeitung ja in WOZ umbenannt). Soweit unsere Arbeit aus Lehrstunden bestand, habe ich, wie Du weisst, von Dir gelernt, nicht umgekehrt. Und ich danke Dir für das schmale, aber gewichtige Bändchen, von dem Du auf einer beigelegten Karte schreibst, es sei weder ein «klassisches Verlagsprojekt» noch ein «intimes Tagebuch»: «Ich schreibe in der rasch wachsenden Grauzone, oder besser in der farbigen Medienwelt zwischen öffentlich und privat.»

Weil auch ich unterdessen schreibend in dieser Grauzone hause, erlaube ich mir, auf Dein Book on Demand in meinem elektronischen Textarchiv zu antworten. Haben wir nicht damals mehr als andere eine Praxis gesucht, die es ermöglichen sollte, auch das Private öffentlich zu machen, weil es politisch ist? Ist es da nicht sinnig, wenn wir heute in Formen kommunizieren, die öffentlich sind, ohne im Sinn des Kampfs um politische Hegemonie als öffentlich bezeichnet werden zu können?

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Den Essay über die «Schreibstunden» beginnst Du mit einer Reminiszenz an Deine ersten Schreibversuche als Vierjährige: «Meine Tätigkeit ist bedeutsam, das weiss ich, auch wenn niemand ausser mir diese eigenwillige Schriftsprache entziffern kann.» (S. 1) Später, als 18jährige, beschäftigt Dich die Sprache ausserhalb des Kommunikativen, Du zitierst Rilke: «Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort, / siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher, / […] noch ein letztes Gehöft von Gefühl». (S. 10) Du kennst diese Welt, kennst aber bereits 1975, als junge Erwachsene, auch die andere: «Durch das Schreiben, und seien es bloss dürftige Sprachfetzen im privaten Tagebuch, bleiben wir verbunden mit der menschlichen Sprache, die auf Verständigung, aufs Mitteilen zielt.» (S.17) Gegen die Sprache als Kommunikationsmittel sei das intime Tagebuch-Ich geradezu «die radikalste Form der Schriftzenszur». (S. 22)

In diesem Punkt hatten wir stets eine Differenz. Ich neigte früh zu Adornos Diktum, wonach eine «Gefahr der Sprache» darin liege, «an ihr kommunikatives Element sich zu verlieren und ihren Wahrheitsgehalt zu verhökern». Ich verstand das in einem naiv-strengen Sinn so, dass kommunizierende Sprache nicht «wahr» sein könne und «wahre» Sprache nicht kommuniziere. Dass Sprache in ihren Begriffen und deren Bedeutungen als politisch umkämpfte gesellschaftliche Konvention vieles, aber sicher nicht «wahr» sein kann, wurde mir erst später zum Problem. Damals war mein Problem die Frage, was «wahre Sprache» denn überhaupt leiste, wenn sie nicht kommuniziere.

Eine Antwort, die mir wichtig geworden ist, gab mir die Schriftstellerin Mariella Mehr, die ich, wie Du Dich erinnern wirst, 1983 als WoZ-Redaktor im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Jenischen kennengelernt habe. Bezogen auf die unterdrückte Geschichtsschreibung über die Minderheit, der sie angehört, hat sie mir in Bezug auf ihr eigenes literarisches Schreiben, das sich immer auch mit dieser Geschichte befasst hat, einmal gesagt, es gehe nicht darum, dass jemand lese, was sie schreibe – es gehe darum, dass es aufgeschrieben sei.

Weit über das hinaus, was Mehr damals gemeint haben mag, ist mir das Diktum zum Leitmotiv meiner eigenen Schreiberei geworden. Und noch dieses Websiteprojekt, das man aus heutiger journalistischer Sicht wohl bestenfalls als Skurrilität eines abgehalfterten Möchtegerns belächeln kann, zeugt davon: Es dient der «Selbstrekonstruktion als Text», wie ich es nenne, und soll die Grenzen dessen belegen, was ich erkannt habe und insofern die Grenzen meiner selbst. Es ist ein Projekt von geradezu autistischer Selbstbezogenheit (und insofern ziemlich verblasen literarisch), aber bestehend aus meistenteils journalistischen Gebrauchstexten, die tatsächlich publiziert worden sind und nun durch die Montage eine neue Bedeutung bekommen (für mich).

Ob das jemanden interessiert, interessiert mich nicht. Denn die Website ermöglicht den Zugang zur «Grauzone», von der Du sprichst, für weniger als 150 Franken im Jahr (Server-Speicherplatz und Domain-Name). Für einige Stunden einigermassen bezahlter Arbeit bin ich fürs nächste Jahr der Mühsal enthoben, unter meinem Namen weitere Bücher machen zu müssen. Ich will nicht arrogant klingen, aber präsentieren Bücher nicht immer öfter marktgängig zugerichtete Lektoratskunst von der Stange? Natürlich weiss auch ich, warum das so ist: Die Verwertungskette Verlage-Druckereien-Buchhandel ist nur noch im schmalen Bestseller-Bereich und bei mäzenatisch vorfinanzierten Publikationen wenn nicht gewinnbringend so doch zumindest selbsttragend zu finanzieren. Der Spielraum für verlegerisch profilierende Quersubventionierungen anderer Textsorten ist praktisch nicht mehr vorhanden. Wer nichts kann oder können will als schreiben, eignet sich immer schlechter zum öffentlich wahrgenommenen «Autor» («Autorinnen» sind mitgemeint). Für mich ist deshalb die Grauzone der richtige Ort.

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Aber wenn sie auch der Deine wäre, würde mich das nicht nur erstaunen, es würde mich erschrecken – ich würde mich fragen: Ist es schon so weit, dass Leute wie Lotta Samisdat unter neoliberalen Bedingungen veröffentlichen müssen?

Auf der WoZ hast Du politisch radikal, aber mit weltzugewandter Pragmatik die Sprache als das gegebene Mittel der kritischen Kommunikation zu nutzen versucht. Du warst die zeitungsmacherische Pionierin, die medienpolitisch verstand, warum das, was wir mit unserem Projekt versuchten, die schiere Chancenlosigkeit war, die es aus politischen Gründen zu nutzen galt (nämlich ohne gewinnorientierte Kapitalinteressen im Rücken eine öffentliche Stimme in die Zukunft zu tragen, die gerade deshalb unabhängiger würde reden können als «die bürgerlichen Medien», von denen wir damals sprachen). Ich dagegen gehörte zu jenen eher schrägen WoZ-Figuren (die es immer auch gegeben hat), die nicht schrieben, weil sie mit der WoZ linke Politik machen, sondern die linke politische WoZ machten, weil sie schreiben und davon leben wollten.

Auch ich hatte damals – wie alle diese schrägen Figuren – verdruckste, konventionell-literarische Ambitionen. Erst die kontinuierliche journalistische Beschäftigung mit dem, was konventionellerweise als Literatur galt und dem, was diese Literatur sozial hervorbrachte – nämlich die halb auf akademischer Dogmatik, halb auf Beziehungskorruption gegründete Freikirche des Literaturbetriebs – lehrte mich, dass es beim Schreiben wohl im Ernst nicht darum gehen kann, dort dazu zu gehören. Für mich geht es seither darum: Schreiben, damit es geschrieben und einigen Heutigen signalisiert ist: Auch du hast nicht recht – und möglichst vielen Späteren: Sag bloss nicht, du hättest es nicht wissen können.

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Ich rede von mir um anzudeuten: Dein Weg ist ein anderer. Ich hoffe, dass das Book on Demand in der Grauzone für Dich ein Abstecher ist. Mit «Einzig und allein» (2003) und «Kein Frieden mehr» (2008) hast Du über «Die USA im Ausnahmezustand» und dann über «Die USA im Kriegszustand» zwei bedeutende Vermittlungsarbeiten in Buchform geleistet, die jetzt, da Du neuerlich emigrierst, mit einem dritten Band ergänzt werden müsste.

Für Dein Verständnis der Sprache wäre ein solches Projekt folgerichtig. In den «Schreibstunden» erzählt Du, wie Du im Rahmen des schriftlichen Examens zur Erlangung des Lizentiats einen Essay zu verfassen hattest über Marxens 11. Feuerbachthese, nach der es bekanntlich nicht darauf «ankömmt», die Welt wie Philosophen verschieden zu «interpretiren», sondern darauf, sie zu verändern. Du habest Dir mit Deinem Text damals selber «den Weg in die journalistische Zukunft» gewiesen, schreibst Du: «Interpretationen sind ein unabdingbarer Teil jeder Veränderung. Schreibende können das möglichst gut, doch vielleicht nicht viel mehr tun.» (S. 51)

Deine Interpretation einer Weltmacht, die drauf und dran ist, sich zu «trumpieren», wäre wohl nicht nur für mich wichtig und vielleicht ein unabdingbarer Teil der Veränderung. (Nach Grossbritanniens Brexit mag ich auch Donald Trumps Wahl zum neuen US-Präsidenten nicht ausschliessen – das Ressentiment der Sitzengebliebenen gegen die globalisierte Urbanität ist enorm geworden, auch in der Schweiz.)

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So oder so werde ich die Ergebnisse Deiner zukünftigen Schreibstunden mit Respekt und Interesse mitverfolgen. Und dass Du – so oder so – weiterschreibst, schliesst der Schluss Deines Essays zumindest nicht aus: «Schliesslich schreibt man genau deshalb, um ein paar Zeichen zu hinterlassen und bei einigen Menschen in Erinnerung zu bleiben.» (S. 65) Merkwürdig, einen solchen Schlusssatz hättest Du in der Zeit unserer WoZ-Schreibstunden vermutlich als zu pathetisch gestrichen. Dass Du ihn nun hier stehen gelassen hast und er mich nicht stört beim Lesen zeigt, wie viel unserer Zeit bereits vergangen ist: Für uns ist dieser Satz nicht mehr pathetisch, sondern sagt einfach: So ist es. 

Danke für alles und nur das Beste für Dein nächstes neues Leben

fredi

Lotta Suter: Schreibstunden, ISBN 978-1-889314-71-6. Zu bestellen via www.amazon.de / vgl. auch www.beinnard.com

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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