Fördern, ohne zu überfordern

Neben der Nähmaschine, an der versunken eine asiatisch aussehende Frau arbeitet, stehen entlang der Wände eine Ledernähmaschine, ein Bügelbrett mit Eisen, eine Papierschneidemaschine, Rill-, Loch- und Heftmaschinen, eine Presse für Buchbindearbeiten. Auf Bestellung werden hier in der Ausrüsterei elektrische Geräte montiert, Näharbeiten erledigt, Drucksachen geheftet, gefalzt und verpackt. Korrekterweise müsste man sagen, die Ausrüsterei sei Teil der Direktion Sozial- und Gemeindepsychiatrie, die ihrerseits zum Medizinischen Dienst der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) gehöre. Aber eigentlich ist sie eine der insgesamt elf Geschützten Werkstätten auf dem Areal der Klinik Waldau hinter Ostermundigen.

Suche nach dem eigenen Rhythmus

Wer hier arbeitet, hat grosse psychische Krisen durchgestanden und bezieht eine IV-Rente. Die meisten haben die Klinik bereits wieder verlassen und kommen hierher zur Arbeit, im Minimum drei Stunden pro Tag, wie viel genau, legen sie selber fest. Als Lohn über ihre Rente hinaus können sie je nach Arbeitsleistung zwischen 2 und 4.50 Franken pro Stunde verdienen. Betreut und angeleitet werden sie unter anderen von Evelyne L’Eplattenier.

Als sie Anfang der achtziger Jahre hier begann, sei es für eine Anstellung in der «Arbeitstherapie» – wie das damals hiess – keine Bedingung gewesen, über das Handwerk hinaus etwas zu können. Man sei angestellt worden nach dem Motto: «Houptsach, dir chöit schriinere.» Auch sie sei ursprünglich der Meinung gewesen, am besten sei es, wenn man von den Leuten, die zur Arbeit kommen, möglichst wenig wisse, damit man ihnen unbelastet begegne. «Das ist falsch», sagt sie heute, «es ist wichtig, dass wir wissen, mit welchen Schwierigkeiten die Leute zu kämpfen haben.»

Zum Beispiel die Frau an der Nähmaschine, mit der sie sich auf Englisch verständigt: Sie komme am Morgen herein, bleibe nicht stehen, grüsse nicht, gehe an ihren Arbeitsplatz und beginne sofort zu arbeiten. Hier habe sie, sagt sie lächelnd, ein kleines Erfolgserlebnis zu verzeichnen: Seit zwei Tagen grüsse die Frau am Morgen «ganz vorbildlich». Lernen, wieder zu reden, wieder andere Leute ansprechen zu können, lernen, wieder Verantwortung zu übernehmen, auch für andere – in der Arbeitsagogik gehe es um mehr und anderes, als möglichst rasch wieder zum Rädchen in einer Produktionsmaschine zu werden.

Arbeitsagogik? L’Eplattenier erklärt: «In der Arbeitsagogik baut eine beruflich kompetente Person während der Arbeit begleitende Beziehungen zu den betreuten Personen auf. Mit ihrer persönlichen Grundhaltung, im Gespräch und mit Handlungsanweisungen versucht sie, die persönlichen und sozialen Kompetenzen der Leute zu stärken.» Fördern, ohne zu überfordern – jede Überforderung könne zu einem Rückfall in die akute Phase der Krankheit führen.

Die kleine Tür zur Arbeitswelt

Im letzten Frühjahr hat Evelyne L’Eplattenier eine Fachtagung über Sozialpsychiatrie mitorganisiert – über einen Teil der psychiatrischen Arbeit, der stark unter Druck steht, «obschon man heute die Patienten und Patientinnen nach der Krise immer schneller aus der Klinik entlässt.» An der Tagung war man sich einig: «Für die weitere Begleitung brauchte es dringend mehr sozialpsychiatrische Strukturen.» Aber das Geld fehlt.

Unterdessen bereitet sie eine Fachtagung für Arbeitsagoginnen vor. Informiert werden soll dort über eine neue sozialpsychiatrische Initiative, das «Job-Coach-Projekt». Damit wird versucht, Personen nach psychischen Krisen möglichst rasch wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dabei betreut und berät ein sogenannter «Job Coach» nicht bloss die betroffene Person, sondern auch die Beschäftigten und die Vorgesetzten des Betriebs. Ein kleiner Fortschritt, der einen grossen Rückschritt wettmachen soll: Finanziert werden die vermittelten Arbeitsplätze nämlich von der IV. Mit staatlichen Mitteln werden also jene Nischenarbeitsplätze für ehemalige Psychiatriepatientinnen und –patienten wieder geschaffen, die die Privatwirtschaft in den letzten Jahren zur Effizienzsteigerung gestrichen hat.

L’Eplattenier geht die Arbeit nicht aus. Und wie geht es mit ihren verschiedenen Engagements weiter? Sie arbeite gerne als Arbeitsagogin, sagt sie: «Manchmal träume ich davon, in diesem Bereich zusammen mit anderen Leuten irgendeinmal ein eigenes Projekt aufzuziehen.»

 

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Von Engagement zu Engagement

Nach der dreijährige Ausbildung zur Handweberin begannen für Evelyne L’Eplattenier die Wanderjahre: Vom Fliessband bis zur chemischen Reinigung arbeitete sie sich «kreuz und quer durch die Arbeitswelt», wie sie sagt. Zur Handweberei kehrte sie vor 22 Jahren zurück, als in der Psychiatrischen Klinik Waldau (UPD) eine Stelle frei wurde. Ein schwieriger Anfang: «Ich war jung, hatte null Erfahrung mit Psychiatrie, arbeitete mit bis zu sechs Patienten und Patientinnen, und man hat mir auch sehr schwierige Leute geschickt.» Sie begann, in der Ergotherapie der Klinik mitzuarbeiten: «Dort lernte ich viel im Umgang mit den psychisch Kranken.» 2001 hat sie die berufsbegleitende zweijährige Zusatzausbildung zur Arbeitsagogin abgeschlossen.

Evelyne L’Eplattenier ist seit zwanzig Jahren im VPOD und engagiert sich zur Zeit in den Vorständen der VPOD-Betriebsgruppe der UPD, des VPOD Bern Kanton und der Vereinigung ArbeitsagogInnen Schweiz (VAS). Daneben arbeitet sie in der Interessengemeinschaft Sozialpsychiatrie (IGS) mit.

Einmal pro Woche geht sie zu einer 84-jährigen Frau putzen. Als Arbeitsagogin ist sie zu 70 Prozent angestellt und verdient 4475 Franken brutto. Sie wohnt in Bern, ist 46 Jahre alt und hat als alleinerziehende Mutter einen heute 20-jährigen Sohn grossgezogen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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