Via Zypern in den Ausverkauf

Gewöhnlich trifft sie um halb neun an der Rhonesandstrasse 9 ein. Hier, in diesem Geschäftshaus im Zentrum von Brig, leitet Yvonne Kindler eine Boutique der Kookaï-Gruppe. Zuerst erledigt sie das Nötige, bringt Pakete zur Post, holt Kleingeld, macht, weil sie später nicht mehr dazu kommt, private Einkäufe. Zurück im Geschäft beginnt sie die Pakete der Nachlieferungen auszupacken, sie geht mit dem Staubsauger entlang der Gestelle, in denen Hosen, Blusen, Jacken, Jupes und Kleider hängen, nimmt wenn nötig den Boden feucht auf, wischt den Staub von den Tablaren, auf denen Pullover, Tops und Taschen liegen. Dann schaltet die Beleuchtung ein. Punkt zehn öffnet sie das Geschäft.

Schlechte Erfahrungen in Visp

Die Briger Filiale ist eine von 31, die der französische Konzern Kookaï in der Schweiz betreibt – 556 Geschäfte in 40 Ländern sind es insgesamt. Das Schweizer Hauptgeschäft befindet sich in Basel. «Ab und zu kommt eine Kookaï-Promoterin vorbei», sagt Yvonne Kindler, «aber gewöhnlich werden mir die Anweisungen per Fax übermittelt».

Der Vormittag ist schnell vorbei: Zwischen zwölf und halb zwei bleibt das Geschäft geschlossen. Kindler besucht regelmässig ihre betagten Eltern, die ganz in der Nähe wohnen. Die Mutter hat gekocht, dafür macht sie den Abwasch und räumt auf. Um halb zwei steht sie wieder im Geschäft. Wenn wenig los ist, erledigt die das Administrative, macht Wochenabschlüsse, Monatsabschüsse, den Jahresabschluss. Bevor sie Feierabend macht, rechnet sie ab. Auf dem Nachhauseweg geht sie die Tageseinnahmen einzahlen.

Yvonne Kindler ist zufrieden mit ihrer Arbeit. Aber in den frühen 90er Jahren hat sie in Visp andere Erfahrungen gemacht. Als Damenmode-Verkäuferin war sie dort bei einem Monatslohn von weniger als 3000 Franken brutto mit derart schlechten Arbeitsverhältnissen konfrontiert, dass sie das kantonale Arbeitsamt eingeschaltete und schliesslich die Stelle wechselte. Auch im nächsten Damenmode-Geschäft, ebenfalls in Visp, hatte sie kein Glück: Nach einem Jahr fiel ihre Stelle dem Personalabbau zum Opfer.

1995 musste sie für mehr als ein Jahr stempeln gehen. Weil sie nicht ohne Arbeit sein konnte, half sie in einem Kino aus. Der Lohn, den sie dort verdiente, wurde ihr vom Stempelgeld abgezogen. «Jede Föifer. Zeitweise war ich noch einen Hunderter über dem Existenzminimum.» Sie sei zwar keine Rassistin, fährt sie fort: «Aber wenn ich Ehepaare aus Ex-Jugoslawien gesehen habe, die hier nie etwas einbezahlt haben, aber beide stempelten… Und uns hat man auf dem Arbeitsamt nach drei Wochen angeschnauzt: Was, Sie haben immer noch keine neue Arbeit?»

Die strengsten Wochen des Jahres

Nach einigen Ferientagen auf Zypern, die sie in den kommenden Tagen mit ihrer Schwester verbringen wird, beginnen für Yvonne Kindler die strengsten Wochen des Jahres: der Ausverkauf, der je nach Geschäftsgang spätestens Mitte Juni beginnt. Kontinuierlich setzt Kookaï in den folgenden Wochen die Preise herunter bis auf schliesslich 87,5 Prozent Rabatt. «Alles muss weg. Wir haben nie Waren aus der vorhergehenden Saison.» Für sie bedeutet das, jedes Stück mit einem Kleber zu versehen, auf dem die aktuelle Grösse des Rabattes angezeigt wird: «Immer wenn der Rabatt ändert, müssen sämtliche Angaben überklebt werden. Das gibt Arbeit.»

Anstrengend ist auch die schnäppchenjagende Kundschaft, vor allem die Leute «ohne Anstand und Respekt»: «Wenn geklaut wird, wenn Leute immer wieder zur Anprobe kommen, ohne etwas zu kaufen, wenn sie die Kleider auf den Boden schmeissen oder mit Make-up verschmieren, dann wird’s mühsam.» Ab und zu müsse sie jemanden zur Ordnung rufen: «Hallo! Wir sind hier kein Saustall!» Mitte Juli geht der Ausverkauf zu Ende. Dann wird das leere Geschäft vollständig geputzt. Jeweils zwischen dem 25. und dem 27. Juli liefert Kookaï die neue Kollektion.

Auch weil Yvonne Kindler ihre Arbeit – unterstützt von einer Aushilfe – allein macht, hat sie im Rahmen der Kookaï-Vorgaben ihre Freiheiten: «Das passt mir.» Trotzdem träumt sie manchmal, den verhassten Bergen und dem strengen Winter endgültig zu entkommen: «Ich wünsche mir, zu verreisen und nie mehr zurückzukommen; irgendwo zu leben, wo immer Sommer ist, auch wenn ich auf die Dinge verzichten müsste, die hier normal sind.» Klar: Etwas arbeiten würde sie auch dort gern – am liebsten eine kleine Boutique führen.

 

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Dreissig Jahre im Verkauf

Yvonne Kindler wohnt und arbeitet in Brig, wo sie 1952 auch geboren ist. Nach der obligatorischen Schulzeit absolvierte sie die einjährige Hauswirtschaftsschule und ein Welschlandjahr in Rolle (VD). Danach begann sie bei «innovation» (heute Loeb) eine Lehre als Verkäuferin für Kinder- und Damenmode. Nach dem Lehrabschluss arbeitete sie zuerst zehn Jahre bei «Rockomat», eine Firma, die damals in den Restaurants des Oberwallis Flipperkästen, Spiel- und Musikautomaten betreut hat. Danach wechselte sie für neun Jahre ins «Funky Yellow», die erste Briger Boutique für Damenmode. Ende der 80er Jahre war sie ein Jahr für die «Minibuffet AG» in den SBB-Zügen unterwegs. Nach einem Abstecher in zwei Modehäuser in Visp und einer längeren Arbeitslosigkeit wurde sie im Herbst 1996 Geschäftsführerin der Kookaï-Filiale von Brig.

Kindler arbeitet pro Woche 34 Stunden in fünf Tagen, was als 80 Prozent-Pensum gilt. Damit verdient sie, wie sie sagt, netto mehr als die 3000 Franken, die ihre Gewerkschaft, die Unia, als Brutto-Minimallohn pro Monat fordert. Als Hobbys nennt sie das Ferienmachen, die Betreuung ihrer Eltern, dazu das Baden im Sommer und das Solarium im Winter.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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