Etüden für neue Blicke auf die aktuelle Kunst

Zum Journal B-Originalbeitrag.

«Étude» ist ein Kunstvermittlungs-Kollektiv, das zurzeit aus sechs Personen besteht. Vier sitzen am Tisch: Laura Grubenmann und Nina Liška Rieben sind Künstlerinnen und Studentinnen an der Hochschule für Künste, Sarah Elser und Natalino Morabito studieren am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern.

Dieser Zusammenschluss von PraktikerInnen und TheoretikerInnen steht hinter einer Reihe von Veranstaltungen, die das Kunstvermittlungsangebot der Berner Kunsthalle pro Ausstellung einmal «um ein stark kollaboratives Format» erweitert. Was ursprünglich als Angebot von Kunststudierenden für Kunststudierende gedacht war, spricht unterdessen auch andere Leute an, die Spass haben an originell umgesetzten, klugen Ideen.

Mit Fäden, Crosstrainern und Zauberei

Vor einem Jahr hat das Kollektiv auf die Anfrage der Kunsthalle Bern unter dem Titel «Étude 0.1» eine Pilotintervention gemacht. Mit rotem Faden konnte das Publikum in der Ausstellung «Morgenröte, aurora borealis and Levantin: Into your solar plexus» die komplexen Bezüge zwischen den einzelnen Exponaten visualisieren. Bei dieser ersten Intervention sei auch wichtig gewesen zu merken, «dass die Kunsthalle das Format nicht definiert und dazu auffordert, in einem bestimmten Rahmen etwas zu machen. Étude hat die Freiheit, spontan auf die laufenden Ausstellungen zu reagieren.» Das war ausschlaggebend, dass das Kollektiv bereit war weiterzumachen.

Mit der zweiten Intervention begann die reguläre Nummerierung: Étude 1 reagierte auf die erste Ausstellung der neuen Kunsthalle-Direktorin Valérie Knoll, «Raw and Delirious». Dabei liess das Kollektiv den Zauberer «Mägic Henä» alias Markus Schrag auftreten, der die Ausstellung mit seinen Mitteln spiegelte.

Étude 2 stellte in die MIDCAREER PAINTINGS von Merlin Carpenter – eine Serie von grossformatigen, industriell hergestellten Packdecken auf Keilrahmen – unter dem Motto «No more Excuses» Fitnessgeräte vor die Bilder. Das sei eine Aktion «gegen die Rezeptionsversagensängste» des Publikums gewesen. Die Fixierung des Blicks, die sich mit der Position auf dem Fitnessgerät ergebe, habe zudem das Erkennen der einmaligen Struktur der nur scheinbar gleichen Industrieprodukte unterstützt. Dabei habe sich natürlich niemand auf die Geräte setzen müssen, man habe sie auch als kritischen oder ironischen Kommentar zur Ausstellung verstehen können.

Étude 3 reagierte auf die Werk-Beschreibungen, die Ende Jahr die Cantonale Berne Jura 2015 dem Publikum zur Verfügung stellte. Man hat die Adjektive herausgepflückt, sie auf neutrale Blätter geschrieben und es danach dem Publikum überlassen, zu den Wörtern die passenden Bilder auszuwählen. Das Resultat war Beliebigkeit und verwies auf die Frage: Wie willkürlich sind eigentlich die Formulierungen, die KuratorInnen und Medien ihrem Publikum für die Ausstellungen als Vermittlungshilfen mit- oder besser vorgeben?

Die Motivationen für das Engagement

Darin ist sich das Kollektiv einig: Die Methoden der Kunstvermittlung sollen nicht lehrerhaft konstruktiv, sondern dekonstruktiv und frei assoziierend sein. Es soll gerade nicht darum gehen, in einem pädagogischen Sinn die Sache bis zur Eindeutigkeit zu erklären und damit subjektive Wahrnehmungen zu qualifizieren. Es gehe darum, den Leuten zu zeigen, wie sie durch die Auseinandersetzung einen eigenen Weg zur ausgestellten Kunst finden können.

Sarah Elser, Studentin des Ausstellungs- und Museumswesens, hat Mühe mit Führungen, bei denen Kunst mit kunstgeschichtlicher Dogmatik ausgedeutscht wird. Mit ihrem Étude-Engagement will sie für sich lernen, spontan auf Ausstellungen zu reagieren, «so, wie ich sie selber verstehe, nicht so, wie geschrieben oder gesagt wird, dass sie zu verstehen sei».

Nina Liška Rieben begann sich für die Kunstvermittlung zu interessieren, weil das, was sie bisher unter diesem Begriff erlebt hatte, «ziemlich trocken» gewesen sei. Sie will herausfinden, wie man auf vorgegebene Kunst anders als sprachlich reflexiv reagieren kann. Ihr schwebt eine Art kritisch-künstlerische Kunstvermittlung vor: Sie will «auf Kunst mit Kunst reagieren».

Als Kunstgeschichtsstudent engagiert sich Natalino Morabito, weil er als Theoretiker mit der Kunstpraxis zu tun haben will. Das eine sei, die Diskurse mitzuverfolgen, mit denen in den einzelnen Disziplinen über die Kunst geredet werde. Wichtig seien daneben aber auch die Plattformen für den direkten Austausch: «Für mich ist Étude eine solche Plattform.»

Laura Grubenmann schliesslich hat ein Problem mit Ausstellungssituationen, in denen man schweigt, weil man befürchtet, das, was man sage, sei falsch. «Wir arbeiten daran, die Kunsthalle wieder zu einem Ort zu machen, an dem man sich aufhält, weil er anregend ist, nicht bloss, weil man sich stumm vor Bilder stellen und danach wieder nach Hause gehen will.»

Kunstvermittlung kann auch tönen

Dabei sind die Leute am Tisch keine esoterischen Bauch-Menschen, die unreflektiertes Kunst-Spüren einfordern. Sprache, da sind sie sich einig, sei als Medium der Reflexion «megawichtig». Bloss könne Sprache Kunst eben nicht «erklären». Sie könne sich ihr bloss «annähern», sie «umkreisen», ihr «einen Hintergrund geben». Also gehe es nicht darum, Kunst «in einer Schublade zu versorgen», sondern darum, ihr beim Betrachten «jene Freiheit zu geben, die sie eigentlich meint».

Originelles verspricht die nächste Intervention des Kunstvermittlungs-Kollektivs «Étude» morgen Abend. Natalino Morabito: «Bei der Auseinandersetzung mit der aktuellen Ausstellung von Wolfgang Breuer ist für uns die Frage wichtig geworden: Wie arbeitet dieser Künstler? Selber sagt er zwar, er arbeite nicht nach Kochrezepten. Trotzdem: Gibt es ein System in diesen Arbeiten? Und wenn es eines gibt, wie könnte man es zur Geltung bringen? Diese Frage haben wir an Musiker weitergegeben.» (siehe Kasten)

Diesmal heisst Kunstvermittlung also: Musik kommentiert Kunst. – Hingehen. Hinschauen. Hinhören.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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