Antipsychiatrie, und dann?

Ein Vierteljahrhundert nachdem dissidente Psychiater ihre Wissenschaft als Antipsychiatrie neu erfinden wollten, artikuliert sich seit den frühen 80er Jahren zunehmend eine radikale Kritik, die als neue Antipsychiatrie bezeichnet werden kann. Sie wird nicht von Fachleuten vorgetragen, die für und über Kranke reden, sondern von Psychiatriebetroffenen, die wissen, dass es «Geisteskrankheiten» nicht gibt. Sie wollen die Psychiatrie nicht reformieren, sondern abschaffen.

Der Psychiater Ronald D. Laing begann in England seit den frühen sechziger Jahren damit, den Begriff der Schizophrenie zu zerzausen. Für diese Diagnose gebe es keine objektiven klinischen Kriterien: Der typische psychiatrische Patient sei eine Funktion des typischen Psychiaters und des typischen psychiatrischen Krankenhauses, im übrigen sei das pathologische Verhalten von sogenannten Schizophrenen der Versuch, unter unerträglichen Familienbedingungen psychisch zu überleben. Laings Kollege David Cooper übernahm diese These der «familialen Pathodynamik» als Ursache für Verrücktheit und stellte sie in Zusammenhang mit den übrigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Seine These: Die Familie, nicht die Arbeit, ist die zentrale Vermittlungsinstanz der Unterdrückung und Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft. In Italien weiteten Psychiater um Franco Basaglia die These Coopers aus: Nicht nur die Familie, sondern auch Schulen, Fabriken oder Krankenhäuser würden die Herrschaft des spätkapitalistischen Systems sichern. Die traditionelle Psychiatrie, forderte die sogenannte Antipsychiatrie, sei als Instrument der Herrschenden zu demaskieren, die psychiatrischen Kliniken als «Institutionen der Gewalt» (Basaglia) ersatzlos zu schliessen.

Noch weiter trieb die Kritik Anfang der 70er Jahre das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg. Programmatisch forderte es, dass das Arzt-Patient-Verhältnis abgeschafft werden solle und die Behandlung unter «Patienten-Kontrolle» gehöre. Therapie wird als untrennbar von der Herstellung von revolutionärem Bewusstsein gesehen: «Es wird für jeden Patienten die subjektive Notwendigkeit erarbeitet, die bestehenden Verhältnisse umzustürzen.»

Der revolutionäre Schwung der Antipsychiatrie führte im psychiatrischen Alltag zu bedeutenden Reformen: In Italien wurden gar für Jahre die psychiatrischen Kliniken geschlossen. In vielen Ländern entstanden als Alternativen zu den grossen Kliniken gemeindenahe Einrichtungen, die der Selbstbestimmung der psychisch Kranken grösseren Raum gewähren sollten. Diese – alte – Antipsychiatrie wurde grundsätzlich von Fachpersonal, meistens Psychiatern (fast ausschliesslich Männern) vertreten. Sie hielt jedoch, trotz aller Radikalität, wenn es darum ging, Psychiatriekritik mit Gesellschaftskritik zu verknüpfen, an der Existenz von psychischen Krankheiten und damit an der grundsätzlichen Notwendigkeit psychiatrischer Intervention fest.

Die Auflösung des Krankheitsbegriffs

Jetzt haben die Sozialpädagogin Kerstin Kempker und Peter Lehmann, der Verleger des Antipsychiatrieverlags in Berlin, ein Buch herausgegeben, das mit Beiträgen von knapp fünfzig Autoren und Autorinnen als gültige Standortbestimmung einer anderen, neuen Antipsychiatrie stehen kann, die als Psychiatriekritik bedeutend schärfer ist, als Gesellschaftskritik aber vage bleibt. Bereits beim Durchblättern des Buches wird klar, dass diese neue Antipsychiatrie nur noch in zweiter Linie, sozusagen flankierend, von Fachleuten vorgetragen wird. Primär reden nun die «Psychiatriebetroffenen», die sich auch «Psychiatriebedrohte», «Psychiatrieflüchtlinge» oder «Psychiatrieüberlebende» der «psychiatrischen Industrie» nennen. Sie sprechen von ihrem «Wahnsinn», andere reden davon, ab und zu «Krisen» zu durchleben und dann «ver-rückt» zu sein, nie jedoch bezeichnen sie sich als «krank».

Diese Auflösung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs ist der zentrale Punkt dieser neuen Antipsychiatrie. Im Buch wird er dokumentiert mit siebzehn Betroffenenberichten, die den ersten Teil des Buches bilden. «Was als Psychose bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit nur ein extremes Gefühl. Davor brauchen wir keine Angst zu haben», schreibt die kanadische Antipsychiatrie-Aktivistin Irit Shimrat. Und der schwedische Theaterwissenschafter Maths Jesperson: «Verrücktheit ist keine Krankheit. Sie ist ein tiefgehender Konflikt. Und mehr noch: Sie ist der Versuch, einen Weg aus diesem Konflikt heraus zu finden.» Und Andy Smith, Software-Designer in London: «Experten sind die, die Stimmen und Visionen haben, nicht die Ärzte und Psychiater, die das Schizophrenie nennen.» Deshalb bittet der Germanist Thilo von Trotha «alle, die in meiner Nähe sind»: «Vertraut darauf, dass die verrückte Phase in meinem Leben – wahrscheinlich früher als ihr denkt – abklingen wird! Lasst Euch dieses Vertrauen nicht durch noch so ‘fachkundige’ und ‘kompetente’ Agenten der psychiatrischen Propaganda nehmen.» Nötig sei in solchen «verrückten Phasen» lediglich, «einen Raum zu haben und Menschen, die dir die Hand halten und starke Empfindungen aushalten können, wenn die Welt untergeht!», so die Erzieherin Evelyn Hantke-Sohn.

Das Verblüffende an dieser unpolemischen Auflösung des Krankheitsbegriffs ist, dass sie nachvollziehbar ist. Von solchen Zuständen und Ängsten, wie sie hier beschrieben werden, erzählen auch «gesunde» Menschen. Offenbar kommt man nicht in die Mühlen der Psychiatrie, weil man «krank» ist, sondern, weil man das Pech hat, seine Krise sozial auffällig auszuleben und deshalb denunziert, eingesperrt und den gängigen psychiatrischen Massnahmen ausgesetzt wird: Erst Elektroschocks und Neuroleptika setzen als Wirkungen und Nebenwirkungen somatische Schäden und chronifizieren so die Krise zur Krankheit. Die These der neuen Antipsychiatrie lautet also: Wer in die Fänge der Psychiatrie gerät, ist zwar sozial auffällig, offenbar für sich und die lieben Mitmenschen untragbar, aber nicht krank. Wer psychiatrisch behandelt worden ist, ist zwar sozial wieder unauffällig, wie es sich gehört, aber krank gemacht.

In diesem Argument steckt einige Sprengkraft: Wenn es richtig ist, dass es «Geisteskrankheiten» nicht gibt, gibt es auch keine Legitimation, Menschen gegen «Geisteskrankheiten» zu behandeln. Sie «heilen» nicht «kranke» Menschen, sondern stellen sozial auffälliges «Krankengut» ruhig. So helfen die Kliniken mit, gesellschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren, die grundsätzlich weder Raum noch Zeit noch soziale Netze zulassen, die nötig wären, um Menschen durch psychische Krisen begleiten zu können.

Kampf gegen die Psychiatrie

Aus dieser Sicht der Dinge kämpft die neue Antipsychiatrie nicht nur gegen die herrschende psychopharmakologisch, elektrotechnisch, chirurgisch und gentechnologisch ausgerichtete Psychiatrie, sondern auch gegen die Reformansätze, die auf Initiativen der alten Antipsychiatrie in den sechziger und siebziger Jahren zurückgehen.

Kritisiert wird im Buch (vor allem von Peter Lehmann) auch die «Gemeindepsychiatrie». Sie wird nicht primär als Vergrösserung des Selbstbestimmungsrechts des ver-rückten Menschen durch Vermeidung einer Internierung interpretiert, sondern als Unterwanderung der gesamten Gesellschaft durch ein «System der pharmakologischen und sozialen Totalüberewachung». Das «dauerhafte Niederspritzen» durch «neurotoxische Psychodrogen» (Lehmann), das heisst durch regelmässig verabreichte, langwirkende Depot-Neuroleptika bei der klinik-externen Betreuung, verlegt die Klinikmauern lediglich in die Menschen hinein. Lehmanns Kritik ist vernichtend: Die unter Neuroleptika-Einfluss stehenden Betroffenen könnten zwar aufgrund der sie behindernden körperlichen, psychischen und geistigen Auswirkungen kaum einer geregelten und schon gar nicht einer anspruchsvollen Arbeit nachgehen. Dafür sei ihre Körper für die «psychiatrische Industrie» ein «lebendiger Absatzmarkt für die Ware Neuroleptikum». Weil diese Neuroleptika-«Therapien» «angemessene Gemeindedienste» notwendig machten, «um mit den zurückgebliebenen chronischen Behinderungen umzugehen», diene dieses System auf Kosten der «Behandelten» auch zur Schaffung von Arbeitsplätzen für «psychiatrisch Tätige».

In  der Perspektive der umfassenden Kritik an jeglichem psychiatrischen Zugriff interessiert die Diskussion medizinischer Argumente nur noch am Rand. Nötig bleibt der medizinische Diskurs (wie das Buch in einem zweiten Teil dokumentiert) für Angriffe gegen die «Tyrannei der Psychotherapie» (Jeffrey M. Masson, Psychoanalytiker in Ann Arbor, USA), den «Psychoboom» (Urs Ruckstuhl), die biologistische Gentech-Psychiatrie (Marc Rufer) oder für die fachlich fundierte Forderung eines Elektroschock-Verbots (Peter Breggin, Psychiater in Bethesda, USA). Wichtiger als der medizinische ist jedoch der juristische Diskurs, weil, wie «Psychiatriebetroffene» wohl wissen, die Drohung mit rechtlichen Schritten häufig der einzige Weg ist, psychiatrische Selbstherrlichkeit zu erschüttern. Deshalb gibt ein dritter Teil des Buches einen Überblick über die juristischen Waffen gegen Zwangspsychiatrie in Deutschland, Österreich und der Schweiz (hierzu mit Beiträgen des Journalisten Peter Rippmann und des Psychex-Anwalts Edmund Schönenberger). Ausführlich dargestellt wird in diesem Abschnitt das «Psychiatrische Testament», eine juristisch hieb- und stichfeste schriftliche Erklärung, wie man behandelt, respektive nicht behandelt werden will, sollten Dritte einen als geisteskrank und behandlungsbedürftig diagnostizieren.

«Statt Psychiatrie»: Perspektiven

«Hoffnungen, dass von psychiatrisch Tätigen Impulse zur Verbesserung der Situation von Betroffenen ausgehen, sind nicht realitätsgerecht» (Peter Lehmann). Die Psychiatrie, ob innerhalb oder ausserhalb der Anstaltsmauern, ist aus der Sicht der neuen Antipsychiatrie nicht reformierbar. Deshalb geht es ihr um die «Entpsychiatrisierung», um die «Durchsetzung diagnoseunabhängiger Menschenrechte und des Rechts auf Unterstützung bei sozialen Problemen und psychiatrischen Ausnahmezuständen». Deshalb geht es darum, «heute eine Gegenmacht zur Psychiatrie aufzubauen». Ein vierter Teil des Buches dokumentiert deshalb Projekte der «antipsychiatrische Selbsthilfe», von der nordamerikanischen Selbsthilfe-Bewegung, über das Europäische Netzwerk von Psychiatrie-Betroffenen bis zur Irren-Offensive Berlin.

Zur Überwindung der herrschenden Psychiatrie setzt die neue Antipsychiatrie drei Schwerpunkte:

«1. rechtliche Gleichstellung mit gesunden und [somatisch, fl.] kranken Normalen (d. h. strafrechtliche Verfolgung von Behandlung ohne Zustimmung);

2. Aufklärung über Gefahren moderner psychiatrischer Behandlungsmassnahmen und über die folgenschweren Gefahren der Übernahme des psychiatrischen Krankheitsmodells;

3. Unterstützung individueller Resozialisierungsmassnahmen sowie finanzielle Förderung psychiatrieunabhängiger Selbsthilfe- und Unterstützungsprojekte (Kommunikationszentren, ‘Krisen’-Einrichtungen, Weglaufhäuser usw.) bei schrittweiser Reduzierung von Finanzmitteln der Anstalts- und gemeindenahen Psychiatrie.»

Einerseits hat die Konzeption der neuen Antipsychiatrie zweifellos etwas Brillantes: Sie ist radikal, konsequent und in den Grundannahmen einfach: «Die Psychiatrie» als Herrschaftsinstrument ist nicht reformierbar, wer darin arbeitet, begeht im Interesse von Staat und chemischer Industrien durch Verordnung oder Verabreichung der «chemischen Knebel» Neuroleptika fortgesetzt schwere Körperverletzung und verrät jene, denen zu helfen er vorgibt. Deshalb kommen als «Subjekte der Veränderung» ausschliesslich «die Betroffenen selbst» in Betracht (Lehmann), die den psychiatrischen Zugriff als disziplinierende Verletzungen an Leib und Seele – und als nichts sonst – selber erlebt haben.

Andererseits ist die neue Antipsychiatrie radikal genug, um sich (vorderhand und also: in dieser Form) in keiner Praxis bewähren zu müssen. Jenen Leute, die hier und heute in akute psychische Krisen schlittern, ist mit ihren utopischen Forderungen nicht geholfen. Und auch wenn eines Tages genügend antipsychiatrische Weglaufhäuser und «Krisen»-Einrichtungen existieren würden: Wer würde sie finanzieren (wenn nicht der Staat)? Welche Leute würden darin arbeiten und zu welchen Arbeitsbedingungen? Wären sie irgendwie ausgebildet (und von wem)? Und wer würde verhindern, dass diese Strukturen mit der Zeit zu neuen Institutionen der Gewalt und der sozialen Kontrolle werden würden?

Kerstin Kempker/Peter Lehmann [Hrsg.]: Statt Psychiatrie. Berlin (Antipsychiatrieverlag) 1993.

Aktuell

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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