Die Konstruktion der «Krankenschwester»

 

Im Herbst 1990 habe ich für die WoZ ein dreiseitiges «Dossier» erarbeitet zur Ideologiegeschichte des Begriffs «Krankenschwester». Entstanden sind drei Beiträge: Eine Nacherzählung der Dissertation «Schwesterntum» des Historikers Alfred Fritschi, ein Gespräch mit vier Fachfrauen zur aktuellen Wirklichkeit ihres Berufs (das leicht gekürzt abgedruckt worden ist und hier vollständig erscheint) und ein Beitrag zum Verhältnis zwischen dem Pflegepersonal und der Ärzteschaft (der damals aus Platzgründen ganz weggefallen ist).

Hier wird nun zum ersten Mal die vollständige Arbeit zugänglich gemacht. Interessant mag sie zum Beispiel für heutige Pflegefachfrauen sein, die überprüfen wollen, warum respektive inwiefern sie keine Krankenschwestern mehr sind. (fl. 23.3.2016)

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1850-1930: Geistliche Herren, Militärs, Politiker und Ärzte machen einen Frauenberuf

Die Konstruktion der «Krankenschwester»

Die «Krankenschwester» ist nicht vom lieben Gott erfunden worden. Es waren hundert Jahre Männerarbeit nötig, bis die KrankenwärterInnen des 18. Jahrhunderts vollständig feminisiert und umgemodelt waren zu Heldinnen des Duldens, zu bedingungslos gehorchenden Mägden, selbstlosen Ersatzmüttern und entsexualisierten Liebesdienerinnen. In seiner Dissertation hat der Historiker Alfred Fritschi die Konstruktion der «Krankenschwester» nachgezeichnet.

«Wie unendlich wohl tut es Kranken und Angehörigen, wenn sie herausfühlen, dass sie an der Pflegerin nicht einen berechnenden Berufs-, sondern einen Gemütsmenschen vor sich haben. Darum, meine lieben Schwestern, kehrt zurück zur Innerlichkeit, zur Bescheidenheit, Selbstlosigkeit und Einfachheit!» So hat der Zürcher Stadtarzt Max Krucker 1921 an der Hauptversammlung des zürcherischen Krankenpflegevereins  gemahnt. 66 Jahre später behauptet Hans Rudolf Sahli, amtierender Präsident der Verbindung der Schweizer Ärzte (FMH): «Der Schwesternberuf ist ein Dienen am Nächsten und nicht ein Mittel, sich selber zu dienen. Die Selbstverwirklichung vollzieht sich in der 'Arbeit' des Dienens, Helfens und Pflegens selber. Sie lässt sich nicht durch einen möglichst hohen Lohn und immer kürzere Arbeitszeiten erzwingen.» (Ärztezeitung 35/1987)

Mitte des letzten Jahrhunderts haben kirchliche Sozialreformer, hohe Offiziere, Politiker und Ärzte das «Schwesterntum» zu konstruieren begonnen, indem sie die Berufskrankenpflege zuerst vergeistlicht und feminisiert, dann wieder verweltlicht und militarisiert haben. So schufen sie die «Krankenschwester»: eine zum Dienen Berufene ohne eigene Bedürfnisse. Generationen von Krankenpflegerinnen haben versucht, dieser Ideologie des «Schwesterntums» zu genügen.

Gottgefällige Schwestern

Zwischen 1840 und 1860 hat die Massenarmut in der Schweiz ihren Höhepunkt erreicht. Die Grossfamilien, die als Produktions- und Lebensgemeinschaften bis dahin auch soziale Auffangfunktionen gehabt hatten, waren während der frühkapitalistischen Industrialisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinandergebrochen. Die Industriearbeiterschaft verelendete.

Darauf reagierten die Kirchen. Zahlreiche pädagogisch und pflegerisch tätige «Schwesterngemeinschaften» wurden neu gegründet; die erste protestantische Diakonissenanstalt in Kaiserwerth von Pfarrer Theodor Fliedner 1836, die bedeutendste katholische Schwesterngemeinschaft, die «Kongregation vom Hl. Kreuz» in Ingenbohl, 1856 von Pater Theodosius Florentini.

Diese «Barmherzigen Schwestern» und Diakonissinnen waren in Mutterhäusern organisiert, die ihnen Kost, Logis und Altersvorsorge garantierten. Ohne materielle Sorgen konnten sie sich ihrer Arbeit widmen, die sie als «fraulichen Liebesdienst» verstanden. Schnell verdrängten diese billigen Profis die schlecht bezahlten und kaum ausgebildeten LohnwärterInnen, die bis anhin in den Krankenhäusern gearbeitet hatten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts haben die konfessionellen Mutterhausverbände die Pflege in den Krankenhäusern weitgehend zu ihrer Domäne und damit zur Frauensache gemacht. Gleichzeitig befand sich die als Erwerbsberuf ausgeübte Krankenpflege auf einem Tiefststand sozialen Ansehens.

Kriegsbereite Schwestern

Mit seiner Schrift «Un souvenir de Solférino» hat Henri Dunant 1862/63 auf das Ungenügen der Armeesanitätsdispositive in den zeitgenössischen Kriegen hingewiesen. Das daraufhin gegründete Rote Kreuz (SRK) versuchte deshalb, den «Rohstoff weiblichen Arbeitsvermögens» für die Armeesanität nutzbar zu machen. Leitfigur für diese militärisch inspirierte, säkularisierte Krankenpflege wurde die Engländerin Florence Nightingale, die, aus reichem Bürgerhaus stammend, ihre pflegerische Tätigkeit während des Krimkrieges 1854-1856 publizistisch erfolgreich auszuwerten gewusst hatte. Ärzte und Militärs des SRK förderten diese Mission bürgerlicher Weiblichkeit im Dienste rationalisierter Kriegsführung nach Kräften. In den militärischen Strukturen erschien das Paradigma hierarchischer Unterordnung «weiblichen» Heilens und Tröstens unter «männliche» Planung und Führung sozusagen naturgegeben.

In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts musste man beim SRK jedoch erkennen, dass die einseitige militärische Ausrichtung der Organisation in der Bevölkerung wenig Sympathien genoss. Eine Imagekorrektur wurde nötig. Der damalige Zentralsekretär, Major Walter Sahli, schlug deshalb die «Schaffung eines Standes von sorgfältig ausgebildetem, frei erwerbendem und freizügigem Krankenpflegepersonal» vor, «bei welchem das religiöse Bekenntnis keine massgebende Rolle» spiele. Damit sollte der militärische Ursprung und primäre Zweck des SRK im Bewusstsein der Öffentlichkeit verschleiert werden. Selbstverständlich war der vorgeschlagene neue Berufsstand aber auch zur Stärkung der freiwilligen Armeesanitätshilfe gedacht.

Sahlis Vorschlag wurde verwirklicht. Das Parlament verabschiedete den «Bundesbeschluss vom 25. Juni 1903 betreffend die freiwillige Sanitätshilfe zu Kriegszwecken» oppositionslos. «Zur Hebung der Kriegsbereitschaft», wie Artikel 1 dieses Beschlusses festhält, wurde das SRK ab 1903 im Verlauf weniger Jahre zur national dominierenden Instanz im Ausbildungswesen für die Krankenpflege.

7-Tage-Woche, 14-Stunden-Tag

Während das kirchliche Engagement an der Krankenpflege zur Feminisierung des Berufsstandes geführt hatte, führte das militärische Engagement zu seiner neuerlichen Säkularisierung: So entstand zu Beginn dieses Jahrhunderts in der Schweiz die kirchlich ungebundene Berufskrankenpflege: ein Frauenberuf mit gnadenlosen Arbeitsbedingungen.

Eine «Spitalenquête» des Bundes Schweizerischer Frauenvereine unter 278 Psychiatrie- und Krankenschwestern ergab 1912 folgende Arbeitsbedingungen: 7-Tage-Woche; oft nur unregelmässige oder gar keine Ausgangszeit; durchschnittlicher 14,1-Stunden-Tag; Nachtdienst zusätzlich zur normalen Tagesarbeit (über 80 Prozent der Befragten mussten regelmässig oder zeitweise einen Teil der Nachtruhe opfern). Als der Kanton Basel Stadt 1920 in einem neuen Arbeitsgesetz eine ununterbrochene Mindestruhezeit von 10 Stunden zwischen zwei Arbeitstagen und einen wöchentlichen freien Nachmittag als obligatorisch festschrieb, galt diese auf sechseinhalb Tage verteilte 91-Stunden-Woche als Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Der Frauenberuf Krankenpflege hatte bereits in den zwanziger Jahren gegenüber den meisten anderen Kategorien von Lohnabhängigen erheblich schlechtere Arbeitsverhältnisse und Löhne. 1930 gab eine Krankenschwester in einem öffentlichen Referat folgenden Erfahrungsbericht: «Wer es nicht selbst miterlebt, weiss nicht, wie unendlich viele unserer Schwestern über ihre Kräfte arbeiten müssen, monate- und jahrelang. Die meisten von ihnen sind nach wenigen Jahren Spitaldienst gealtert, manche für ihr ganzes Leben in ihrer Gesundheit geschädigt, halb oder ganz invalid.»

Jahrzehntelang sind Krankenschwestern, die solche Zustände kritisiert haben, von der seit 1910 bestehenden Standesorganisation, dem «Schweizerischen Krankenpflegebund» (SKB), in keiner Weise unterstützt worden. Kein Wunder: Sowohl in den nationalen Leitungsgremien, als auch in den einzelnen Sektionen bestimmten in erster Linie Ärzte die Verbandspolitik. Sie war denn auch strikt antigewerkschaftlich.

Als der VPOD zum Beispiel 1931 gegen die «Irrenanstalt Königsfelden»  einen Personalboykott durchzusetzen versuchte, erklärte SKB-Präsident Carl Ischer: «Wenn die 'Schwester' zur Gewerkschafterin degradiert wird, so leidet das Wohl des Patenten, und wir sündigen gegen unser höchstes Berufsgesetz.» (FMH-Chef Sahli in der «Berner Zeitung» vom 8.1.1988: «Ich spreche der Gewerkschaft, konkret dem VPOD, das Recht ab, im Spital aktiv zu sein.»)

Der Trick mit der Berufung

Der «ideologische Effekt», so Wolfgang F. Haug, bestehe darin, dass eine «Hinwendung zum Wert als Abwendung vom Interesse» stattfinde. Der «ideologische Effekt» der «Schwesterntum»-Ideologie besteht demzufolge darin, dass die Hinwendung zur Berufung als Abwendung vom Beruf stattfindet. Dieser Ideologie dienten (und dienen bis heute) typische Argumentationsmuster:

• In den «Blättern für Krankenpflege» stand 1920 der Satz: «'Schwesternarbeit' lässt sich nicht bezahlen.» Die «Schwesterntum»-Ideologie hat das Vertreten berufspolitischer Interessen in der Berufskrankenpflege von vornherein zum korrumpierten Ansinnen gemacht (ganz im Gegensatz zum Arztberuf, wo das humanitäre Berufsethos eine optimale Berücksichtigung materieller Interessen nie behindert hat). Schwesternarbeit aber sollte Aufopferung, selbstloses Dienen, Selbstverleugnung sein, Selbstbeherrschung bis zur Selbstzerstörung, bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem Arzt. Als Haupttugenden galten für die «Berufenen» Bescheidenheit, Anpassungsfähigkeit und Güte.

• Die Ideologie wollte, dass  Krankenpflege nicht Beruf, sondern «Liebesdienst» sei. Dieser war aber nur möglich bei gleichzeitigem Ausschluss jeder erotischen Dimension. Deshalb verhüllten Krankenpflegerinnen mit der Tracht ihre Körperformen, entindividualisierten sich durch Uniformierung und belegten sich mit einem impliziten Inzesttabu, indem sie sich mit «Schwester» ansprechen liessen. Dieser soziale Zwang zur «reinen, weissen, schwesterlichen Frau», gekoppelt mit dem ökonomischen und moralischen Zwang zum Zölibat, hat die «Krankenschwester», so Klaus Theweleit, zu einer der verbreitetsten sexuellen Männerphantasien in dieser Gesellschaft werden lassen.

• Dafür, dass die «Krankenschwester» öffentlich und demonstrativ das kulturell dominante Idealbild eines christlich-weiblichen Altruismus zu leben hatte, kam sie in den Genuss hoher moralischer Anerkennung; eine Art Kompensation für ihre trostlosen realen Arbeits- und Lebensbedingungen. «Mit heller Begeisterung», so berichtete das SRK später, seien 1918/19 insgesamt 742 Krankenpflegerinnen während der Grippeepidemie in die Militärspitäler eingerückt. 69 von ihnen sind infolge Ansteckung und Erschöpfung gestorben.

Stauffacherin mit Verbandstruckli

Die Erklärungs- und Wertmuster des «Schwesterntums» entsprachen offenbar der psychischen Realität der meisten Krankenpflegerinnen und bestätigten sie in ihrem altruistischen Zwangssystem, das sie andererseits schutzlos der Arbeitswelt ausgeliefert hat. Gerade weil die Notwendigkeit, berufspolitische Ansprüche zu vertreten, von den Berufskonstrukteuren als der Berufung unwürdig erklärt worden ist, ist es den Krankenpflegerinnen nie gelungen, die Unmenschlichkeiten der herrschenden Verhältnisse im Krankenhaus und in der Gesellschaft in Frage zu stellen. Dafür hat die Ideologie des «Schwesterntums», verschmolzen mit der Rot-Kreuz-Ideologie, für die dreissigerJahre eine Leitfigur der geistigen Landesverteidigung hervorgebracht: die vaterländische Stauffacherin mit dem Verbandstruckli in der Hand.

«Über die Verschmelzung mit der Institution des Roten Kreuzes», so resümiert Alfred Fritschi in der hier zusammengefassten Dissertation, «hatte die weibliche Berufskrankenpflege der Schweiz ihre Möglichkeiten, eine eigenständige gesellschafts- und gesundheitspolitische Rolle wahrzunehmen, weitgehend preisgegeben.» Der heutige Arbeitskampf der Spitalbewegung ist auch der Versuch, diese Rolle vermehrt wahrzunehmen.

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«Schwesterntum»

Unter dem Titel «Schwesterntum – Zur Sozialgeschichte der weiblichen Berufskrankenpflege in der Schweiz 1850-1930» hat der Chronos Verlag 1990 die Dissertation des Historikers Alfred Fritschi publiziert. Dazu, dass diese erste Sozial- und Ideologiegeschichte des Krankenpflegeberufs in der Schweiz von einem Mann verfasst worden ist, schreibt Fritschi: «Ich bin mir bewusst, dass eine Frau unter Umständen in verschiedenen Punkten einen andern Zugang gefunden oder gewählt hätte. Eine streng geschlechtsspezifische Themenaufteilung in der historischen Forschung scheint mir jedoch nicht sinnvoll. [...] Ein tieferes Erkennen der Zusammenhänge unserer geschlechtsspezifischen Rollenfixierung kann auch ein konkret-persönliches 'männliches' Anliegen sein, bedeutet doch diese Rollenfixierung auch für Männer eine Verhinderung der Wahrnehmung virtuell allgemein-menschlicher Bedürfnisse und Fähigkeiten.»

Zur Geschichte der Krankenpflege sind in den letzten Jahren neben Fritschis Arbeit erschienen: Barbara Dätwyler/Ursula Lädrach: Professionalisierung der Krankenpflege. Zur Entstehung der Berufskrankenpflege in der Schweiz (Basel 1987. Und für die BRD: Claudia Bischoff: Frauen in der Krankenpflege (Frankfurt 1984).

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Gespräch unter Berufsfrauen der Krankenpflege

Weiterhin hilflose Helferinnen?

Helfen: Heisst das dienen oder unterstützen? Medikamente für die PatientInnen anstatt Eintrittsgespräche. Die diffusen Situationen der sexuellen Belästigung. Der Kadersog: Männer kehren in den Pflegeberuf zurück. «Wann beginnen wir uns zu wehren?» – Vier Berufsfrauen unterhalten sich über die überkommene Ideologie des «Schwesterntums» und über berufspolitische Perspektiven ihres Berufs.

Das Helfersyndrom

Marianne Huppenbauer: Als ich in den Beruf eingestiegen bin, hab ich gedacht, ich hätte selbstverständlich kein Helfersyndrom. Ich meinte, ich hätte diesen Beruf ganz rational ausgesucht – ich hab auch die einschlägigen Bücher von Schmidbauer[1] über die hilflosen Helferinnen gelesen. Je länger ich im Beruf drin bin, desto mehr merke ich, dass es eben doch kein Zufall ist, dass ich diesen Beruf gewählt habe. Es gibt eben den Aspekt doch, dass ich etwas machen will für die Leute, auch wenn ich nicht die naive Illusion vom Helfen habe.

Esther Spinner: Auch heute, wenn ich Schülerinnen nach der Motivation für ihren Beruf frage, kommt bei einem grossen Teil das Wort «helfen». Und an sich ist ja helfen nicht einfach etwas Negatives, auch wenn der Herr Schmidbauer diese Bücher geschrieben hat. Aber was heisst helfen? Wo schlägt das Helfen ins Dienen und in die Selbstaufgabe um?

Prisca Wüest: Problematisch wird's, wenn du hilfst, weil du's gut findest, und du siehst gar nicht, was von der Patientin her wichtig ist. Sind die Medikamente für sie wirklich wichtig, nur weil wir's aus medizinischer Sicht gut finden? Wäre es nicht besser, dass sie ein Bad bekommt oder dass wir mit ihr spazieren gehen? Dort kommen wir in den Clinch zwischen der medizinischen Pflege und der Betreuungspflege…

Heidi Schmocker: …also in den Clinch mit der Wirtschaftlichkeit…

Wüest: …genau, das bringt kein Geld ein, wenn ich mit den Leuten spazieren oder etwas trinken gehe, obschon das vielleicht in der bestimmten Situation viel wichtiger ist, als wenn ich die Patientin von Kopf bis Fuss schrubbe oder ein Medikament hineinstosse. Aber spazieren können wir nicht verrechnen. Also bringt's kein Geld ein.

Spinner: Das Helfer-Syndrom beginnt dort, wo wir jemandem etwas überstülpen: Du brauchst jetzt doch sicher ein Vollbad, du möchtest doch jetzt die Haare gewaschen haben, Mammeli, also machen wir das. Die andere Seite ist der gute Aspekt am Helfen. Wie gehst du um damit, dass du nicht einfach reinfliegst in die Selbstaufgabe und ins Besserwissen? Es gibt ja wirklich Lebenssituationen, wo du auf Unterstützung angewiesen bist.

Schmocker: Aber jetzt sagst du «unterstützen». «Helfen» und «unterstützen» sind für mich zwei verschiedene Dinge. In der Zusatzausbildung zur Gesundheitsschwester sind für mich Wörter wie «unterstützen» oder «begleiten» wichtig geworden. Das Wort «helfen» brauche ich nicht mehr.

Huppenbauer: Gut, Du hast jetzt einfach Mühe mit diesem Wort…

Schmocker: …weil's besetzt ist, ja.

Huppenbauer: Einverstanden. Natürlich sollte man das nicht. Aber wenn ich jemandem in die Schuhe helfe, weil sie's selber nicht schafft, kann ich das ja auch als «unterstützen ihrer Aktivitäten» bezeichnen, damit sie's das nächste Mal wieder selber kann.

Spinner: Ich mach ein anderes Beispiel: Wenn ich irgendwo an einem Bett stehe und ein achtzig Kilo schwere Patientin bricht neben mir zusammen. Was mache ich? Mein Rücken ist nicht besonders gesund. Wenn ich clever reagiere, schaue ich, dass sie nicht so hart fällt, ich versuche, «unterstützend zu fallen»…

Schmocker: …«begleiten» heisst ja effektiv auch: mir nicht meinen Rücken kaputt machen…

Spinner: …aber die erste Reaktion ist doch: Du versuchst, sie zu halten. Ich muss gestehen, dass ich vor vielen Jahren solche Patientinnen allein aufs Bett gelegt habe.

Huppenbauer: Einverstanden. Hier kann ich auch sagen, das sollte man nicht. Aber wenn ich mitten in einem Gespräch bin, die Patientin weint, und ich sollte doch schon lange weiter, weiss aber, sie braucht jetzt dieses Gespräch, es ist für sie wirklich wichtig. Und vielleicht gelingt es mir sogar, mich zu konzentrieren, und ich bleibe noch eine Viertelstunde länger. Ist es jetzt gut, dass ich geblieben bin, oder habe ich mich aufgeopfert?

Spinner: Hier wird es ist wirklich sehr schwierig. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir überhaupt anfangen, darüber zu reden. Was wäre denn sinnvoll? Ich kann ja wirklich nicht sagen: Hören Sie jetzt auf zu weinen. Ich komm morgen früh viertel nach acht wieder.

Schmocker: Solche Beispiele gäbe es auch in der Gemeindepflege viele. Man sagt sich dann oft: Weil diese Persönlichkeit sowieso schon an der obersten Grenze kompliziert ist, akzeptiere ich beim Verbandwechsel eine Körperhaltung, die für meinen Rücken schlecht ist. Sonst müsste ich sagen: «Nein, unter diesen Umständen mache ich bei Ihnen überhaupt nichts.»

Spinner: Von aussen ist es eben einfach zu sagen: Die Schwestern sind selber gaga, dass sie sich aufopfern. Ihr müsst euch halt weigern. In der konkreten Situation ist diese Weigerung sehr schwierig: Es geht ja immer um eine einzelne Person. Auch beim Verbandwechsel geht's nicht nur um den Verband, sondern um die Beziehung.

Das medizinische Weltbild

Spinner: Einer der Hauptwerte des «Schwesterntums» ist heute der Glaube an das medizinische Weltbild. Wenn du zum Beispiel um acht Uhr Liquemin [Medikament zur Herabsetzung der Blutgerinnung, Red.] spritzen musst, wird natürlich jede Schwester schauen, dass sie das zwischen viertel vor und spätestens viertel nach spritzt, lieber noch punkt acht. Aber wenn es um ein Eintrittsgespräch mit einer Patientin geht, da kann dir nach fünf Tagen eine locker sagen: «Weisst Du, ich bin noch nicht dazu gekommen.» Sie würde nie sagen: «Ich bin nicht dazu gekommen, das Liquemin zu spritzen.» Das beschäftigt mich auch als Lehrerin: Wie bringe ich diese Wertvorstellungen zu den Köpfen hinaus, bei mir selber, bei den Schülerinnen und in den Abteilungen, die ich betreue? Ich sage den Schülerinnen ja auch: Also, wenn da steht «acht Uhr Liquemin», dann spritz das Liquemin. Diese Dominanz des medizinischen Weltbilds verhindert die Eigenständigkeit unseres Berufs massiv.

Schmocker: Für mich gibt es hier einen Unterschied zur Gemeindekrankenpflege. Wenn es heisst, Medikamente verabreichen, so nimmt das zwar die Haushaltshilfe ernst. Sie kontrolliert, ob die Patientin das Medikament auch wirklich schluckt. Wir Schwestern dagegen gehen bei ihr vorbei, weil wir wissen, dass eigentlich vor allem der Besuch wichtig ist. Wenn wir sie informiert haben über das Medikament, ist es ja auch ihr Entscheid, ob sie es schluckt oder nicht.

Huppenbauer: Aber im Spital bin ich vor allem andern verpflichtet, die ärztlichen Verordnungen auszuführen. Wenn man etwas in Frage stellt, heisst es im «Insel»-Spital von den Ärzten her jeweils schnell, es sei hier halt so, weil die «Insel» ein Unispital sei, ein Forschungsbetrieb. Aber Forschung im weitesten Sinn könnte ja auch Richtung Menschlichkeit gehen.

Spinner: Genau. Auch die Pflege könnte ein Forschungsbereich sein.

Die sexuelle Belästigung

Schmocker: Was ich bei Patienten immer wieder erlebe, ist dieses Hure-Madonna-Bild, das auf mich projiziert wird. Einerseits werde ich zum Engel gemacht – ich werde sogar ab und zu so bezeichnet – komme in den Träumen dieser Männer vermutlich sogar als das vor. Andererseits bin ich für sie auch eine Frau und sehe manchmal, dass in ihren Köpfen ganze Filme ablaufen, dass ich in ihren Träumen auch als Frau vorkomme.

Spinner: Von dort sind wir dann schnell bei der sexuellen Belästigung, sowohl von den Ärzten als auch von den Patienten her. Die Schwierigkeit dünkt mich, dass wir hier mit gesamtgesellschaftlichen Rollenverhalten konfrontiert werden. Ich bin zum Beispiel überzeugt, dass es nicht von ungefähr kommt, wenn ein alter Mann, der einen Parkinson hat und früher sogenannt anständig gewesen ist, jetzt plötzlich beginnt, den Schwestern an die Brüste zu greifen. Das hat nicht nur mit der Parkinsonschen Krankheit, sondern auch mit der gesellschaftlichen Situation zu tun, dass der sich das jetzt wagt.

Huppenbauer: Aber wie reagierst du denn, ausser dass du sagst: «Geit's no?»

Spinner: Das weiss ich oft auch nicht. Aber grundsätzlich bin ich dafür, dass wir uns lieber einmal zuviel wehren als zu wenig. Wir müssen aufpassen: Es ist zwar eine andere Art Belästigung, wenn der Mann mit dem Parkinson grabscht, als wenn mir das auf der Strasse passiert, aber es ist trotzdem eine. Wir dürfen das nicht beschönigen und so tun, als sei es keine Belästigung.

Huppenbauer: Was ich aber erlebe, sind häufig diffuse Situationen: Wenn zum Beispiel ein alter Mann kommt und mir an das Namensschildchen greift, das wir auf Brusthöhe tragen, um es zu lesen, dann weiss ich nicht, kann er's wirklich nicht lesen oder will der mir an die Brust fassen und macht's besonders raffiniert. Diese diffusen Sachen: Immer irgendwo eine Hand, gerade bei alten Männern…

Wüest: …wo du denkst, sie sind ein wenig unsicher, wenn sie sich abstützen. Aber eigentlich weisst du nie, ist es ein Abstützen oder ein Anfassen.

Spinner: Ich merke an mir, dass ich deshalb im Umgang mit Patienten und Patientinnen verschieden reagiere und zum Beispiel Patienten weniger berühre. Ich habe mal eine halbseitig gelähmte Frau vom Bettrand aufgenommen und als sie stand, hat sie gesagt: «Ou, Schwöschter hebet Si mi no en Momänt, so hät mich scho lang niemert me ghebt.» Das hat mich wunderschön gedünkt und ich habe sie gerne noch ein wenig gehalten. Zugleich ist mir klar gewesen: Wenn das ein Mann gesagt hätte, ich hätte auf der Stelle losgelassen. Ich hab ja, verdammt noch mal, dieses ganze Rollenzeug auch nicht gemacht.

Huppenbauer: Andererseits kann es, pardon, wahnsinnig schön sein, einen Rücken  oder die Beine einzureiben. Gerade, wenn ich an die Person sonst nicht herankomme. Ist das dann verwerflich, wenn ich das mitmache?

Schmocker: Ich merke, dass ich mich je länger desto mehr auf mein Gefühl verlasse: Wenn das Diffuse bei mir so ankommt, dass ich das Gefühl habe, der stützt sich auf, weil er's gern macht, dann wehre mich, indem ich zum Beispiel sage: «Zeigen Sie mal, ob Sie nicht allein gehen können.» Manchmal bin ich dann richtiggehend hart, weil ich auch merke, dass ich die vorgegebenen gesellschaftlichen Rollen nicht durchbrechen kann.

Wüest: Ich denke, vielfach brauchen sie das, gerade alte Männer, dass wir ihnen die Grenzen setzen. Und zwar nicht, indem ich sie wegstosse, abweise, sondern, indem ich ihnen klar meine Haltung zeige und danach allenfalls etwas anderes erst entstehen kann.

Spinner: Gut. Aber dann steht eine meiner Schülerinnen mit ihren 18, 19 Jahren an einem Bett und kommt nicht mehr weg, weil der Typ sie irgendwie zurückhält. Er hält sie weder am Arsch noch an der Brust, einfach an der Hand und redet: «Wüssed Si» und: «Gälled Si». Die steht dort und sagt nichts, kommt dann zum Zimmer heraus und stöhnt, wie sie wieder habe herhalten müssen. Das beschäftigt mich als Lehrerin. Wir müssten doch viel früher lernen zu sagen: «Lassen Sie mich los. Ich bleib hier, ich rede mit Ihnen, solange ich mag, aber lassen sie mich los.» Was für dich sexuelle Belästigung ist, kannst ja nur du selber bestimmen.

Huppenbauer: Dazu kommt noch das Problem innerhalb des Pflegeteams: Die eine Frau ist speziell empfindlich, eine andere weniger. Wie kannst du dann als Team noch funktionieren? Dann heisst's: Die ist halt komisch und jene extrem. So können einen die Patienten dann ganz schön gegeneinander ausspielen.

Spinner: Klar. Bei mir als Feministin heisst es dann sofort, ich hätte was gegen Männer. Deshalb plädiere ich hier dafür, dass wir nur noch Frauen pflegen. Und die Männer sollen die Männer pflegen. Dann müsste sich etwas verändern, und zwar radikal.

Schmocker: Aber diese Trennung könntest du ja erst machen, wenn es genügend Männer im Pflegebereich gäbe.

Spinner: Man sollte die Trennung jetzt machen. Dann müssten sich die Männer etwas einfallen lassen.

Männer in der Pflege

Wüest: Einmal hat sich ein Mann für unser Gemeindeschwestern-Team beworben. Aber ein Mann zu sieben Frauen: Das war uns klar, das geht nicht. Schon nur deshalb, weil der sicher eine hundertprozentige Stelle gehabt hätte und trotz Teamleitung sofort der Chef gewesen wäre, auf jeden Fall informell. Ich habe das überall erlebt, wo ich bisher gearbeitet habe: Wenn ein Mann in ein Team kommt, hat er sofort eine Kaderstellung. Das ist einfach klar: Ein Mann, der längere Zeit bleibt, der wird befördert, mit dem macht man Karriereplanung. Mich hat nie jemand gefragt, ob ich Karriere machen wolle.

Spinner: Ich glaub, das ist der Hauptgrund, warum ich meine, so sollte es nicht weitergehen: Heute gibt es etwa 10 Prozent Männer in der Pflege, aber bereits über 30 Prozent in den Kaderpositionen. Meine Befürchtung ist: Die Krankenpflege bleibt ein Frauenberuf, aber mit einem männlichen Kader. Wir müssen zwar Männer haben im Beruf, aber zuvor muss sich etwas völlig ändern, zum Beispiel in bezug auf die Karriereplanung für Frauen. Und das ist nur möglich, wenn sich die gesellschaftlichen Geschlechterrollen ändern. Im Hinblick auf das, was wir zum Beispiel heute verdienen, sagt jeder Mann, und sogar zu Recht, so kann ich die Familie nicht ernähren. Dabei gibt es natürlich viele Frauen, die mit diesem Lohn Kinder ernähren. Aber selbstverständlich können diese Frauen mit Kindern dann eben nicht ein Jahr lang an eine Kaderschule.

Huppenbauer: Männer würden immerhin soweit eine Aufwertung des Berufs bringen, dass es höhere Löhne gäbe.

Spinner: Fragt sich allerdings, ob für Männer und Frauen.

Huppenbauer: Aber im Bereich Psychiatrie, wo es mehr Männer gibt, sind doch die Löhne höher.

Schmocker: Gut, im Bezug auf die Arbeitsbedingungen, bei Lohnfragen würden mehr Männer vermutlich eine Aufwertung bringen. Aber ob für den gesamten Beruf, das bezweifle ich. Wie erhalten wir uns die spezifischen Qualitäten unseres Frauenberufes? Ich merke bei mir zum Beispiel: Männer im Beruf, gut, aber bitte nicht im Team, bei der direkten Zusammenarbeit...

Der Personalmangel

... aber eigentlich glaube ich, dass unsere berufspolitischen Perspektiven in der nächsten Zeit vor allem durch den Personalmangel erzwungen werden.

Spinner: Das stimmt. Vermutlich fehlt heute im Durchschnitt zwanzig bios dreissig Prozent des Pflegepersonals. Dazu kommt: Die jungen Leute werden von unseren Arbeitsbedingungen abgeschreckt, weil sie wissen, wie gross der Personalmangel ist. Du gehst ja nicht in einen Beruf, wo du weisst, du bist nachher allein auf der Abteilung.

Huppenbauer: Unsere Gruppenleiterin hat jetzt konkret im September die Freipläne nicht mehr schreiben können. Darüber hinaus haben wir ein Zimmer mit drei Betten geschlossen, weil wir einfach zu wenig Leute sind.

Wüest: Was die Gemeindepflege betrifft, führt der Personalmangel in den Spitälern zusätzlich dazu, dass viele Alterspatientinnen zum Teil in unmögliche Situationen nach Hause entlassen werden. Wir machen dann die Feuerwehrübungen.

Spinner: Ein weiteres ist die unheimliche Fluktuation. Ich vermute, dass im Schnitt jedes Jahr bis zu 50 von 100 Schwestern gehen. Versuch mal, in dieser Situation ein Team aufzubauen.

Huppenbauer: Ich bin jetzt anderthalb Jahre im Anna-Seiler-Haus des «Insel»-Spitals: Als ich kam, waren alle neu und jetzt sind mehrere wieder gegangen. Etwa anderthalb Jahre geht's also, bis ein Team wieder wechselt. Leute von aussen sagen immer wieder: Warum macht ihr denn überhaupt Überzeit? Jetzt sind wir wieder beim Helfersyndrom. In diesem Beruf können wir nicht nein sagen.

Wüest: Darum packen sie uns auch immer wieder in diesem Punkt, wenn sie sagen: Jetzt habt ihr schon wieder eine Forderung? Aber es geht doch schliesslich um die Patientinnen. Jetzt tut doch nicht so.

Huppenbauer: Das macht's auch so schwierig…

Wüest:  …zum Beispiel unsere Stunde Piquetdienst, die uns der Arbeitgeber nicht bezahlen will. Dort sagt er: Ihr macht es ja für die Patientinnen. Im Fall, dass eine Hilfe braucht, kann sie euch anrufen. Dann stehst du da mit deiner Stunde Piquet, für die du Bezahlung forderst.

Spinner: Was mich auch beschäftigt: Wann beginnen wir uns zu verweigern? Solange wir die ganzen Widersprüche im Spital tragen und sagen: Wir haben zwar nur fünf Schwestern für die zwanzig Leute, aber wir machen das Möglichste: solange passiert nichts. Wir müssen das der Gesellschaft zurückgeben. Wir müssen sagen: Wir pflegen nicht mehr Leute, als wir pflegerisch verantworten können. Und dann sollen sie draussen anstehen, mit und ohne Beine. Im Spital, das ist mir auch klar, kann ich nicht sagen: «Tschau zäme, ihr liegt heute in der Scheisse, mich geht's nichts an.» Aber wenn sie draussen stehen, dann muss die Gesellschaft reagieren.

Schmocker: Genau das hat Fritschi in der Zusammenfassung seiner Dissertation geschrieben: «Schwestern auferlegen sich die letztlich unerfüllbare Aufgabe, strukturell und politisch verursachte Unmenschlichkeiten durch grenzenlose Aufopferung zu überbrücken. Sich ausschliesslich im Dienste der leidenden Menschheit wähnend, machen sie sich zu wichtigen Mitträgerinnen der herrschenden Werte und Machtverhältnisse im Krankenhaus und in der Gesellschaft.» Genau das ist es. Wir sind wirklich die Mitträgerinnen.

Huppenbauer: Aber konkret: Die meisten Frauen mögen abends nicht noch an eine Sitzung, sie mögen sich nicht in den Berufsverbänden engagieren, im VPOD oder im SPK.

Spinner: Dabei wäre das ein Teil unseres Jobs. Wenn ich allerdings hundert Prozent arbeite, muss auch niemand meinen, dass ich daneben noch etwas mache. Das hat ja auch System.

Huppenbauer: So ist es wirklich schwierig, etwas zu verändern.

(Protokoll: Fredi Lerch)

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Die Gesprächsteilnehmerinnen

Marianne Huppenbauer, 30. Nach dem Gymnasium Bürohilfe, dann Sekretärin und Programmiererin. 1987 Diplom als Krankenschwester am Lindenhofspital Bern. Arbeitet heute im Anna-Seiler-Haus, einer Abteilung des Inselspitals in Bern.

Heidi Schmocker, 32. Zunächst Arztgehilfin. 1981 Diplom als Krankenschwester, Engeriedspital Bern. 1988/89 Weiterbildung zur Gesundheitsschwester. Arbeitet heute als Gemeindeschwester in Bern.

Esther Spinner, 42. 1970 Diplom als Krankenschwester, Triemlispital Zürich. 1989-1990 Kaderschule Aarau. Arbeitet als Kliniklehrerin am Universitätsspital Zürich.

Prisca Wüest, 31. 1980 Diplom als Psychiatrieschwester, St. Urban (LU), Zusatzausbildung als Heilpädagogin auf anthroposophischer Basis. Arbeitet seit Mai 1986 als Gemeindeschwester in Bern.

[1] Gemeint sind: Wolfgang Schmidbauer: Hilflose Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek (Rowohlt) 1977 und ders.: Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe, Reinbek (Rowohlt) 1983.

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Die Ärzteschaft verteidigt ihre Privilegien

Der Machtkampf am Krankenbett

Die Ärzteschaft weiss alles und befiehlt; wer pflegt weiss nichts, aber dient gern. So will es die Ideologie. Die Praxis zeigt: Abbau der Hierarchien ist in gewissen Bereichen geradezu Voraussetzung für die Qualität der Pflege.  Die Praxis zeigt auch: der Abbau der Hierarchien ist für die meisten ÄrztInnen undenkbar. 

«Sie sind wie der Soldat im Dienst. Und wie der Soldat für sich allein keine Macht darstellt [...], so sind auch Sie nur die Hand, die geschickte, sorgfältige Hand; der Geist aber, der die Hand leitet, ist der Arzt.» So sind die neueintretenden Schülerinnen 1908 in der «Schweizerischen Pflegerinnenschule» begrüsst worden. Bis heute verteidigen die «Götter in Weiss» mit ihrem naturwissenschaftlich aufgeblähten Allwissenheitsanspruch ihren uneingeschränkten Machtanspruch am Krankenbett – und gleichzeitig beträchtliche ökonomische Privilegien.

Demokratischere Formen undenkbar

Die MitarbeiterInnen der Drogenentzugsstation K 2 in der Waldau Bern begründeten am 2. Dezember 1989 ihre Kollektivkündigung so: «Das hierarchische Modell (bestimmender Arzt/ ‘dienendes’ Pflegepersonal) könnte durch demokratischere Formen ersetzt werden.» Und: «Die vorhandenen Hierarchien und Strukturen wurden dazu benutzt, den von uns angestrebten Veränderungsprozess zu verhindern.» Für die Ärzteschaft, so Waldau-Direktor Wolfgang Böker, schien die Abschaffung von Hierarchien «undenkbar». Der Oberarzt des K 2, Joachim Nelles, ergänzte: «Wir von der ärztlichen Seite haben dargelegt, dass der Arzt in letzter Instanz die Möglichkeit haben muss, ja oder nein zu sagen, wenn er letztendlich die Verantwortung trägt.» In diesem Sinn argumentierte auch die kantonale Gesundheitsdirektion. (siehe WoZ Nr. 9/1990) Zehn von elf MitarbeiterInnen sind damals gegangen, das K 2 ist für ein halbes Jahr geschlossen worden. Bei der Wiedereröffnung der Abteilung mit neuem Personal und altem Konzept hat Nelles Anfang August 1990 gesagt: «An dieser Institution ist ein demokratisches Teamleitungsmodell nicht möglich.» Solange die Station eine medizinisch geleitete Abteilung einer Klinik sei, trage die Ärzteschaft die alleinige Verantwortung.

Zu viel Wissen schädlich

Von entscheidender Bedeutung für die Rolle des Pflegepersonals in der Praxis ist dessen Ausbildung. Weil zu gut ausgebildete KrankenpflegerInnen für die Privilegien der Ärzteschaft gefährlich werden könnten, fordern  reaktionäre Standes-Vertreter für sie folgerichtig weniger theoretische Ausbildung. So der amtierende FMH-Präsident Hans Rudolf Sahli: «Der Schwesternberuf ist seinem Wesen nach ein eminent praktischer Beruf. Er erfordert viel Können und – entgegen der Auffassung einiger für die Schwesternausbildung Verantwortlicher – relativ wenig Wissen. [...] Der Wissensvermittlung wird heute eine grosse, ihr de facto nicht zukommende Wichtigkeit beigemessen. [...] Die Befähigung, die Berufung sind nicht in erster Linie eine Frage der Schulbildung und des Wissens, sondern viel mehr eine Frage des praktischen Könnens und einer angeborenen Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe gegenüber dem Kranken.» (Schweizerischen Ärztezeitung, 35/1987)

Das Arzt-Schwestern-Spiel verändert sich

Anders in den USA: Dort haben 1988 65 Prozent der Krankenpflegerinnen ihre Ausbildung an einem College absolviert oder weisen einen Matura-Abschluss auf. Dementsprechend postulieren sie auch selbstbewusstere berufspolitische Ziele: Sie wollen, dass die Krankenpflege ein autonomer Beruf mit genau definiertem Expertenbereich wird. Sie wollen ausserdem kooperativ, als gleichwertige Partnerinnen mit ÄrztInnen, PhysiotherapeutInnen, ApothekerInnen, Sozialarbeiterinnen und ZahnärztInnen zusammenarbeiten.

Die Zeitschrift Krankenpflege 6/1990 hat unter dem Titel «Das Arzt-Schwestern-Spiel» eine US-amerikanische Langzeitstudie vorgestellt, die die Beziehungsmuster zwischen der Ärzteschaft und dem Pflegepersonal von 1967 mit jenen Ende der 1980er Jahre verglich: «Um 1967 bestand eine klare Übereinkunft zwischen Arzt und Schwester, wonach die Beziehung streng hierarchisch verlaufen muss.» Seither haben verschiedene Faktoren zu einer Veränderung der Beziehungsmuster geführt:

• Das Image der Ärzteschaft bröckelt: «Die Kommerzialisierung der Medizin, die sich auch in den horrenden Arztgehältern zeigt, hat die öffentliche Meinung über die angebliche Selbstlosigkeit der Mediziner erschüttert.»

• Die schnell fortschreitende Spezialisierung macht es unmöglich, dass ein Mediziner allein alles über einen Patienten weiss: «Das Arzt-Schwestern-Spiel, das ja genau auf der totalen Allwissenheit des Arztes basiert, verkommt somit zur künstlichen Farce.»

• Die geschlechtsspezifische Diskriminierung wird kleiner. Einerseits nimmt die Zahl der Ärztinnen zu (den 9 Prozent von 1967 stehen 38 Prozent 1989 gegenüber), andererseits ergreifen wieder vermehrt Männer den Krankenpflegeberuf.

In der Gemeindekrankenpflege hat sich eine kollegiale Zusammenarbeit mit den ÄrztInnen durchgesetzt: «Auf den Gebieten der Geriatrie, Pädiatrie und Psychiatrie wird interdisziplinär zusammengearbeitet – nur so kann die Qualität der Pflege von chronischkranken Menschen gewährleistet werden. Solche Modelle stehen den hierarchischen Strukturen des Arzt-Schwestern-Spiels genau diametral entgegen.»

Während eine «Kommission zur nationalen Zusammenarbeit» bereits 1971 als Hauptmerkmal einer für alle befriedigenden Zusammenarbeit «ein verbindendes und kollaboratives Beziehungsmodell ohne hierarchische Struktur» nannte, ist kürzlich die ärztliche Standesorganisation, die Amerikanische Medizinische Vereinigung, in die Gegenoffensive gegangen. Mit ihrem Vorschlag einer neuen Klasse von Pflegepersonal, der «registered care technicians», soll das «Schwesterntum» von ehedem wieder hergestellt werden: Der Schwerpunkt der neuen Ausbildung liegt auf der korrekten Ausführung der ärztlichen Verordnungen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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