«Ich traue der Wirklichkeit noch zu wenig»

Nach Martin Looslis «Zündschnur» hat der Lektor des Zytglogge Verlags, Willi Schmid, als zweites Buch seiner Reihe «Sisyphos» (Literarische Kostbarkeiten, Experimente, Erstlinge) drei Texte der in Bern lebenden Zytglogge-Zytig-Literaturredaktorin Maya Bianchi (* 1962) herausgegeben.

«Irrfahrten» (1982) ist der früheste der drei Texte und beschreibt «eine Reise von der Mutter zum Vater und zurück». Aus der Sicht der ältesten von drei Schwestern wird eine Ferienreise geschildert, die ihr Vater, zusammen mit seiner neuen Familie, von einem Nobelhotel am Meer zum nächsten unternimmt, während ihre Mutter, nach der sich die drei sehnen, «zu Hause» geblieben ist. Die Scheidung der Eltern, die hoffnungslosen Besuchsrituale, Briefausschnitte des reichen, unsteten, besitzwütigen Vaters an seine Töchter sind zwischen die Reisebeschreibung eingeschoben. Der ganze Text liest sich als Begründung für den Brief an den Vater, der vorangestellt ist: «Lieber Vater! Die Sommerferien werden wir dieses Jahr kaum gemeinsam verbringen. Ich habe beschlossen, die jahrelange Regelmässigkeit unserer Besuche bei Dir zu durchbrechen. […] Ich bin jetzt zwanzig.» (9) Der präzise, lakonische Blick auf den kaputten Vater, die direkte, unsentimentale Sprache lassen einen autobiografischen Anteil an dieser Emanzipationsgeschichte vermuten. Wie eine Abrechnung liest sie sich; mag sein, sie ist eine.

«Sandkorn oder Die doppelt geliebte Frau» (1986) schildert den Weg einer jungen Frau vom ersten, allen Mut erfordernden Gang ins Lesbencafé, zu ihren Erfahrungen mit Kontaktanzeigen, mit scheiternden, unglücklichen Beziehungen bis zur Ferienfahrt zu zweit auf «die Insel», wo «die Sprache nicht mehr Waffe ist» und im heissen Sand «der Kugelschreiber harzt». Der Ablauf dieser Geschichte wird überlagert von gesteigerten literarischen Ambitionen der Autorin: Die Erzählperspektive springt vom «sie» zum «ich»; im ersten Teil des Textes taucht gar ein «er» auf, der später verschwindet. Zunehmend wichtig wird das Sprachverspielte, die Suche nach dem originellen Wort.

Noch einen Schritt weiter geht Bianchi im dritten Text, «BLINDGÄNGER & traumbücher» (1986). Der Text beginnt mit einem «Abriss der mitspielenden Person», die «ErSie» heisst. Mit diesem Einfall erweist sie ihre Referenz dem gebürtigen Berner Auto Matthias Zschokke (* 1954), der nach «Max» (1982) und «Prinz Hans» (1984) seinen dritten Roman «ErSieEs» (1986) genannt hat und darin ErSieEs zu Beginn des Textes ebenfalls in einem Personenverzeichnis vorstellt. Wie Zschokke zersplittert Bianchi ihre ErSie-Geschichte formal und inhaltlich in Fragmente: Es geht um ein verpasstes Flugzeug, um London. später um Schottland, es geht um einen Fragebogen für ein Lach-Attest und um ziemlich absurde Dialoge zwischen einem Maler und einem Schriftsteller. Aber eigentlich geht es um den Text als Sprachspiel, dessen Regeln sich aus der Schreibarbeit assoziativ ergeben. Das macht den Text unberechenbar von Abschnitt zu Abschnitt, oft von Satz zu Satz. Erzählpassagen wechseln mit Dialogen, mit Briefausschnitten, mit Reihungen von unverknüpften Aussagesätzen. Der Text wächst – durchsetzt mit Sprachspielen und Kalauern, haarscharf an der Grenze zum Beliebigen – entlang eines bloss noch erahnbaren roten Fadens. «Geschichten aufstapeln, eine Schicht rausziehen, noch eine, noch eine, noch eine – Scherbenhaufen», schreibt Zschokke in «ErSieEs». Diese Formulierung trifft auch die Machart von Bianchis drittem Text.

Aus der vermutlich autobiografisch durchsetzten Wirklichkeit der «Irrfahrten» hat sich Maya Bianchi in eine zunehmend künstlichere Wörterwelt geschrieben. das Gefühl, «neben der Welt» zu stehen, wir denn auch verschiedentlich ausgedrückt: «Exakt drei Schritte neben ihm passiert die Wirklichkeit» (133); «Die Frauen geben ihr ein bisschen Wirklichkeit» (229); «Schon vor dem Abflug sammle ich mit der Kamera Beweise, ich traue der Wirklichkeit noch zu wenig, wenn ich kein Abbild zum Zerreissen haben» (241). Die wirkliche Lust am Schreiben ohne Rücksicht auf das Wirkliche hat für diesmal 350 Seiten weit getragen. Und jetzt? In welcher Wirklichkeit steht Bianchis Wirklichkeit der Sprache? Welche Welt «mit Schreibzeug anfassen» (238), und wozu? Auf diese Fragen muss die Autorin Antworten suchen, bevor sie weiterschreiben kann.

Maya Bianchi: Die doppelt geliebte Frau. Drei Ansätze. Gümligen (Zytglogge-Verlag) 1988.

Maya Bianchi hat sich am 10. April 1993 das Leben genommen. In ihrem Nachruf schrieb Marie-Louise Zimmermann: «Sie hat intensiv gelebt, geliebt, gelitten und geschrieben. Wie eine Stichflamme, die nun – unerwartet und unbegreiflich – erloschen ist.» («Berner Zeitung», 16.4.1993) «Stichflamme» hatte 1992 Bianchis zweites Buch geheissen. 

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