Eigentlich wollen die Menschen sich nicht zurichten lassen

Als WoZ-Redaktor hat Res Strehle an Redaktionssitzungen oft die zunehmende politische Orientierungslosigkeit der Linken gegeisselt – und dabei nicht selten jene der RedaktorInnen mitgemeint. Seit er 1986 die WoZ verlassen hat, versucht er, politische Orientierung unter die Leute zu bringen: als brillant dozierender Freak und, seit diesem Sommer, mit einem denkbar unzeitgemässen Buch, einer Einführung in die politische Ökonomie von Karl Marx.

«Der Untergang der Bourgeoisie und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich», schrieben 1848 Karl Marx und Friedrich Engels im «Manifest der Kommunistischen Partei». Ihr Argument: Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist notwendigerweise zunehmend krisenhaft. «Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen?», fragten sie im gleichen Text und antworteten: «Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.» Heute brechen die kommunistischen Staaten, die sich auf Marx/Engels berufen haben, ökonomisch reihenweise zusammen. Der Kapitalismus aber, dessen immanente Krisenhaftigkeit ihn längst hätte in den Orkus der Geschichte stürzen sollen, beherrscht weiterhin die Welt, neuerdings so alternativlos wie anno dazumal. Irgendetwas muss schiefgegangen sein. Da sich die Geschichte nicht irrt, müssen sich jene geirrt haben, die ihre theoretischen Analysen zu teleologischen Geschichtsprognosen verlängert haben; jene, die aus Marxens dreibändiger «Kritik der politischen Oekonomie», dem «Kapital», das historisch notwenige Eintreffen des Kommunismus herauslasen. Heute sehen viele von jenen im Zusammenbruch der kommunistischen Staaten die Widerlegung der marxistischen «politischen Oekonomie».

Statt SP-Beitritt Profitratenanalyse

Und jetzt dies: Wenn Res Strehle, dieser theoriebesessene Don Quichotte, im Rahmen der Volksuni in Zürich oder Luzern oder Bern (dort nun schon im zweiten Jahr), seine Vorlesungen hält, kommen die Leute, fünfzig, sechzig, siebzig, und nicht nur die dümmsten. Dabei spricht Strehle ausgerechnet über «Kapital und Krise» und hat unter diesem Titel nun auch noch eine «Einführung in die politische Oekonomie» publiziert. Fallen da  orientierungslos Gewordene auf einen unzeitgemässen Scharlatan herein? Andererseits: Heute den Marxismus für widerlegt zu erklären und die Haarnadelkurve unter die Fittiche einer tendenziell reformfreudigen Regierungspartei zu nehmen, ist bedeutend einfacher, als, sagen wir, Marxens «Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate» im Kapitalismus zu widerlegen. Dabei steckt gerade in diesem Gesetz die marxistische Begründung, warum die Krise dem Kapitalismus immanent ist.

Jetzt geht Strehle vor seinem Auditorium leicht vornübergebeugt hin und her und beginnt sich zu konzentrieren: Da die produktiv fungierenden Kapitalisten durch Marktwirtschaft und Konkurrenz fortgesetzt gezwungen werden, ihre Produktionskosten zu senken, müssen sie menschliche Arbeitskraft durch Maschinen ersetzen, das heisst: Sie müssen in das Anlagevermögen investieren, was erstens zu einem relativ höheren Wertteil des konstanten Kapitals gemessen am Gesamtkapital, zweitens zu beschleunigter Akkumulation des Kapitals und drittens notwendigerweise zum tendenziellen Absinken der Profitrate führt, die ja aus dem Mehrwert m geteilt durch das Gesamtkapital C errechnet wird, welch letzteres wiederum die Summe von konstantem und variablem Kapital (c+v) ist. Anders: Je mehr Maschinen in der Fabrik, desto grösser c, desto grösser also die Summe c+v und desto kleiner logischerweise m geteilt durch c+v. Also fällt die Profitrate, und zwar solange, bis sich der Kapitalist sagt: Der Mehrwert ist zu klein, das Risiko zu gross, hier investiere ich nicht mehr. Die Folge ist eine Verwertungskrise mit Überakkumulation von Geldkapital, das sich in der Folge dorthin bewegen wird, wo bessere Verwertungsbedingungen bestehen, zum Beispiel in die Trikontländer.

Sind Fragen bis hierher? Dazu kommt, dass das immer schneller akkumulierte Geld gesamtgesellschaftlich gesehen stärker in die Investitionsgüter – in kostensparende Maschinen – als in die Konsumgüter fliesst. Das führt, wie Rosa Luxemburg analysiert hat, in die «Disproportionalitätenkrise», die sich dann als Überproduktion im Konsumgüterbereich zeigt. Kurz: Zu viel Geld fliesst in zu viele neue Maschinen, die zu viele Konsumgüter herstellen, die niemand kauft. Voilà, soviel zur Krisentheorie. Der Dozent bleibt stehen und lächelt.

Einspruch: Der Kapitalismus lebt!

Wenn das so stimmen würde, wäre der Kapitalismus längst untergegangen!

Jetzt hebt Strehle seinen Mahnfinger und sagt: Aufgepasst. Marx spricht vom Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, und zwar, weil es «entgegenwirkende Tendenzen» gibt, «welche die Wirkung des allgemeinen Gesetzes durchkreuzen und aufheben und ihm nur den Charakter einer Tendenz geben», wie er sagt. Zweifellos hat Marx schief gewichtet, dass er der Disposition dieser Tendenzen von den 2500 Seiten des «Kapitals» nur gerade deren neun gewidmet hat. Aber immerhin benennt er sie: 1. Erhöhung des Ausbeutungsgrads, 2. Bezahlung der Arbeit unter ihrem Wert, 3. Verbilligung des konstanten Kapitals, 4. relative Überbevölkerung, 5. der auswärtige Handel und 6. Zunahme des Aktienkapitals, nachzulesen im 3. Band des «Kapitals», Kapitel 14. Diese Tendenzen müssen bei der Diskussion ökonomischer Krisensituationen stets mitgedacht werden; zusammen mit neueren Diskussionsbeiträgen – jenem der Autonomie oder jenem der feministischen Oekonomie – die Licht auf blinde Flecken der Marx’schen Orthodoxie geworfen haben. Und dann, mit didaktischer Verve: Entscheidend sei, ob wir selber uns diese Öffnung der Perspektive ermöglichen, ohne die Methode des historisch-dialektischen Materialismus aufzugeben. «Wir werden damit Klassenkämpfe womöglich noch immer nicht initiieren, das ist nicht allein Frage der Theorie, aber jedenfalls in ihrer ganzen Vielfalt wahrnehmen. Und das heisst auch, unsere eigenen Beitragsmöglichkeiten in ihrer ganzen Vielfalt erkennen.»

Einspruch: Der Kommunismus ist tot!

Das tönt ja gerade so, als ob heute noch das notwendige Eintreffen des Kommunismus für die Zukunft fehlerfrei prognostiziert werden müsse. Tatsache ist aber: Es gab ihn und er ist ökonomisch gescheitert, ganz abgesehen von seinen Nebenwirkungen, der politischen Repression, dem faktischen Ökokollaps in vielen Industrieregionen Osteuropas.

Jetzt nickt Strehle verständnisvoll und sagt: Stimmt. Fragt sich bloss, ob der Kommunismus, den wir kennen, jener ist, den Marx gemeint hat. Derjenige der Sowjetunion beruht ja zum Beispiel nicht zuletzt darauf, dass Lenin den Doppelcharakter der Technologie nicht begriffen hat. In einem Brief hat Marx einmal geschrieben: «Die Aufhebung des Privateigentums wird erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der ‘Arbeit’ [im Kapitalismus, fl.] gefasst wird.» Das heisst: Die Verstaatlichung der Produktionsmittel ist für die kommunistische Revolution zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend. Technologie bedeutet nicht nur Produktionsanlagen, Maschinenparks, sondern auch Arbeitsorganisation. Und das heisst im Kapitalismus Zergliederung und Schematisierung der Arbeitsabläufe, Isolierung und Entfremdung der Arbeitenden, kurz: Taylorismus. Der Doppelcharakter der Technologie, gleichzeitig Produktionsmittel und Arbeitsorganisation zu sein, ergibt aber erst die Höhe des Gebrauchswerts der Ware Arbeitskraft im kapitalistischen Arbeitsprozess. Eine kommunistische Revolution, die sich mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel begnügt, läuft auf einen Staatstaylorismus hinaus, der unweigerlich neue kapitalistische und patriarchale Akkumulationsmodelle mit sich bringt. Siehe Sowjetunion.

Einspruch: Wir leben nicht mehr 1848!

Du unterstellst, der richtige, der vollständige Kommunismus sei erst noch zu erkämpfen. Aber wir können doch nicht noch einmal vorne beginnen. Wir leben doch nicht mehr 1848!

In solchen Situationen kann Strehle strahlen wie ein Lausbub und zwinkern mit den Augen: Also gut. Die Krise des Kapitalismus ist immer auch eine Verwertungskrise: Kapital wird nicht mehr investiert, weil das Risiko zu gross und die Rendite zu klein geworden sind. Das heisst, die kapitalistische Produktion muss fortwährend und überall um bessere, rentablere Verwertungsbedingungen kämpfen. Es ist aber nicht gott- oder kapitalgegeben, ob in einer Region Verwertungsbedingungen für das Kapital da sind, sondern das hängt davon ab, ob sich Menschen in Verwertungsverhältnisse hineinpressen lassen oder nicht. Darum ist die teleologische Geschichtsauffassung des historischen Materialismus nicht haltbar. Es gibt einerseits die Unwägbarkeiten der entgegenwirkenden Tendenzen, die die Krisen hinausschieben und es gibt andererseits den Widerstand der Menschen gegen ihre fortgesetzte Zurichtung zur Ware Arbeitskraft. Dass dieser kapitalistische Verwertungsprozess nicht reibungslos verläuft, sondern latent oder offen krisenhaft, hängt eben gerade damit zusammen, dass menschliches Leben, Natur und Gesellschaft a priori nicht in diese Verwertungslogik hineinpassen und deshalb stets aufs Neue zugerichtet werden müssen. Dabei muss der Begriff «Widerstand» breit gefasst werden: Arbeits- und Leistungsverweigerung, Absentismus, Schlamperei, Trödlerei, aktive und passive Sabotage; aber auch die Konsumption ohne Arbeit, Klauen, Plünderung von Supermärkten, professionell betriebener Sozialhilfeempfang. All dies ist Widerstand als Infragestellung der Bedingungen, unter denen meine Arbeitskraft kapitalistisch verwertet wird, Widerstand also gegen die Logik des Kapitals.

Darum – jetzt schaltet Strehle den Hellraumprojektor aus und setzt sich – ist politische Ökonomie alles und nichts. Alles, weil sie daran hindert, die Welt nur in der Vorstellung ändern zu wollen. Nichts, weil sie für sich allein theoretisch bleibt, wenn nicht sogar ökonomistisch den Blick auf andere Realitätsfelder verstellt. Sie muss sich einfügen in eine viel umfassendere Logik des Widerstands. Nur Kapitallogik zu kennen, macht blind für Alternativen. Die Kapitallogik nicht zu kennen, macht blind für die Realisierungsschwierigkeiten von Alternativen.

Einspruch: Alternativen sind undenkbar!

Wenn Religion Opium fürs Volks ist, dann ist politische Ökonomie, die hier und heute von Alternativen spricht, eine Chemiefabrik für MultitoxikomanInnen. Welche andere Welt soll denn heute noch denkbar sein?

Jetzt runzelt Strehle die Stirn. Gerechtigkeit ist nicht nur die Forderung einer privilegierten und weitgehend gekauften ArbeiterInnenaristokratie in den kapitalistischen Metropolen der Welt. Wer bestreitet, dass alle Menschen das Recht auf Gerechtigkeit haben? Diese Weltordnung aber zwingt zwei Drittel der Menschheit unter die Armutsgrenze. Darum müssen wir auch weiterhin Alternativen suchen. Wie die aussehen könnten? Nötig ist, die Subsistenz der Leute zu stärken; nötig ist durchzusetzen, dass Arbeitskräfte und Böden keine Waren mehr sind; nötig ist die Selbstorganisation von unten, die Basisdemokratie. Und nötig ist, der Freiheit wieder ihren vom Kapital unabhängigen Wert zu geben. Schwierig vorzustellen ist das nicht. Schwierig umzusetzen schon.

Fünfzig, sechzig, siebzig Leute haben aufmerksam zugehört.

Res Strehle: Kapital und Krise – Einführung in die politische Ökonomie. Mit einem Nachwort von Detlef Hartmann. Berlin (Schwarze Risse Verlag) 1991.

(4.10.1991)

Dieser Text wurde nicht veröffentlicht. Der zweite Versuch (in der Form einer Rezension), mich mit diesem Buch auseinanderzusetzen, findet sich hier: «[Warum Res Strehle die WoZ verlassen hat]»

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