Schwamendingen ist Bümpliz in Zürich

Hans Stucki ist Geschäftsführer der Quartierkommission Bümpliz-Bethlehem (QBB) und deshalb ein Berufsbümplizer wie kein zweiter. Letzthin hat er ein Buch gelesen, während dessen Lektüre er mehr als einmal laut «Donnerwätter!» gesagt habe. Wenn man bedenkt, dass dieses Buch von Zürich-Schwamendingen handelt und von Susann Sitzler, einer Basler Journalistin geschrieben worden ist, die seit mehr als zehn Jahren in Berlin lebt, ist das schon ein bisschen speziell.

«Donnerwätter!» hat Stucki zum Beispiel gesagt, als er gelesen hat, mit welchem Vorurteil Sitzler im März 2006 in den Zürcher Kreis 12 gereist ist, um auf Einladung des Schwamendinger Gewerbevereins für drei Monate dort zu leben und über ihre Erfahrungen ein Buch zu schreiben. Schwamendingen sei, meinte sie damals zu wissen, «so uncool wie Turnschuhe aus der Migros»: «Erst war es ein Arbeiterquartier, dann sind die Arbeiter Bünzli geworden. Ausländer und Arbeitslose sind gekommen und haben daraus ein Getto gemacht. Dann haben die Bünzli angefangen, SVP zu wählen.»

Hinter solchen Klischees findet Sitzler als Reporterin eine Wirklichkeit, an der sie vor allem die «Brüche» zu interessieren beginnen, die aus ihrer Sicht für schweizerische Verhältnisse neu sind: «In Schwamendingen kann man nicht verdrängen, dass die alte, einheitliche Schweiz, in der alle an die selben Dinge glauben, sich in absehbarer Zeit aufgelöst haben wird.» Zwar seien «in der Patina des Quartiers […]  viele Jahre abgelagert, in denen es dem Land selbstverständlich gut ging. In denen die gesamte Bevölkerung in Frieden und Wohlstand lebte und sich weite Rasenflächen zwischen den Häusern und den Anspruch auf zwei Stunden Mittagsruhe leisten konnte. In denen man sich praktisch vollkommen sicher war.» Aber heute sei das nicht mehr so: «Der Aufschwung hilft nur denen, die sich bisher oben halten konnten. Das ist neu für die Schweiz, und es macht die Leute radikaler.»

Diese Radikalität hat einen sozialen Verdrängungsprozess in Gang gesetzt: «Die Neuen sind hungrig und aggressiv. Die Alteingesessenen sind gegenüber diesem Hunger und dieser Aggressivität im Kampf um Wohlstand nicht gewappnet. Sie sind zu satt zum Kämpfen, und sie haben den Kampftrieb in den Jahren der Bequemlichkeit verloren. Jetzt fühlen sie sich den Fremden ausgeliefert.» Innert hundert Jahren findet dieser Prozess in Vorstädten wie Schwamendingen oder Bümpliz bereits zum zweiten Mal statt: Waren damals die Alteingesessenen die Bauern und die Neuen die Arbeiter, so sind heute die Nachkommen der letzteren die Alteingesessenen, die sich von der immer internationaleren Nachbarschaft bedroht fühlen.

Frappiert hat Hans Stucki bei der Lektüre von Sitzlers Buch, dass sie hinter den Klischees von Zürich-Schwamendingen Strukturen, Bruchlinien und Entwicklungen gefunden und auf den Begriff gebracht hat, die auch er in Bümpliz exakt so beobachtet: «Ob sie über die Geschichte oder die Architektur, den Verkehr oder die Schulen redet – überall, wo sie ‘Schwamendingen’ schreibt, könnte ebenso gut ‘Bümpliz-Bethlehem’ stehen.» Bedeutsam sei das, weil die Zukunft der Schweiz, so Stucki, in den Vorstädten liege: «Was hier heute abgeht, ist entscheidend für das Land», sagt er. «Darum müssen wir die Vorstädte ernst nehmen. Sie sind, wie Sitzler sagt, tatsächlich die Avantgarde.»

Stucki ist ein ausgesprochen freundlicher Mensch. Aber wenn pünktlich vor der nächsten Weihnacht der nächste bornierte Medienmensch beim QBB-Geschäftsführer vorspricht, um sich für seine Reportage auf die Schnelle das Klischee von der Betonwüste von Bethlehem bestätigen zu lassen, könnte es sein, dass ihm Stucki Sitzlers Buch um die Ohren haut.

Susann Sitzler: Vorstadt Avantgarde. Details aus Zürich-Schwamendingen, Zürich (Limmat-Verlag) 2007.

Der Beitrag erschien in: Daniel Gaberell [Hrsg.]: Bern West. 50 Jahre Hochhausleben, Bern (herausgeber.ch) 2007, 50.

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