Der demokratische Minderheitssozialist

Solothurn, 23. Oktober 2014. Der Mittag ist vorüber, in der Gaststube des Restaurants «Kreuz» sitzen kaum mehr Gäste. Immer, wenn ich hier eintrete, denke ich an Rolf Niederhauser, der über die genossenschaftliche Gründungszeit dieser Beiz ein Buch geschrieben hat, das seinerzeit den Titellänge-Rekord in der Disziplin Deutschschweizer Literatur brach: «Ein paar Leute haben es satt zu warten auf das Ende der blossen Vermutung, dass es bessere Formen menschlicher Gemeinschaft gibt». Und eigentlich war dieser Titel noch zu kurz, denn der Satz ist es wert, zu Ende zitiert zu werden: «[…] dass es bessere Formen menschlicher Gemeinschaft gibt, mit einer vagen Hoffnung zu warten auf Zukunft, auf Sozialismus in der Schweiz».[1] Ich habe das Buch damals, 1978, verschlungen. Vier Jahre später gehörte ich zum WoZ-Zeitungskollektiv – einer Produktionsgenossenschaft wie jene im «Kreuz» Solothurn. Es gab damals einen gemeinsamen Traum. Darin wuchsen im Land demokratisch-sozialistische Selbstverwaltungsinseln unmerklich zusammen.

Ich setze mich an einen Tisch und schaue durch die Fenster auf die sonnige Fischergasse hinaus. Dahinter, im Schatten, das Landhaus. Immer, wenn ich das Landhaus sehe, denke ich an Max Frischs Rede anlässlich der Literaturtage im Mai 1986, oben im grossen Saal. Es bestehe kein Zweifel daran, sagte er, «dass die Aufklärung, das abendländische Wagnis der Moderne, weitherum gescheitert» sei. Man ende, schloss er, Voltaire zitierend, notwendigerweise damit, «den Garten zu bestellen; alles übrige, mit Ausnahme der Freundschaft, hat wenig Bedeutung».[2] In der vordersten Reihe des Publikums sass damals das Dutzend Autoren und Autorinnen, die dem 75-jährigen Frisch zuvor mit Kurzlesungen die Reverenz erwiesen hatten. Unter anderen Rolf Niederhauser und Peter Bichsel. Ich war – anwesend als Journalist –, empört und gebannt zugleich über diese eloquente Grabrede auf jene Aufklärung, auf die sich das Zeitungsprojekt, für das ich mich engagierte, routinemässig berief. Über meinen Kommentar setzte ich dann den Titel:«Frisch schreibt nicht mehr. Wie weiter?» Das war vor achtundzwanzig Jahren.

Punkt halb zwei betritt Peter Bichsel die Gaststube. Er winkt und kommt auf den Tisch zu. Bichsel am Stock. So habe ich ihn noch nie gesehen. Er ist unterdessen fünf Jahre älter als Frisch damals drüben im Landhaus.

Nach dem Ende der Aufklärung

«Bichsel als Person des öffentlichen Lebens in der Schweiz, Bichsel und die Politik/Gewerkschaft/SP/Schweiz». Diese Stichworte führen uns zusammen, weil sie die Vorgabe bilden für einen journalistischen Beitrag im Quarto-Heft zu seinem 80-sten Geburtstag.

«Person des öffentlichen Lebens»? Achtundzwanzig Jahre vor seiner Rede im Landhaus hatte Max Frisch 1958 eine andere gehalten, die den Titel «Öffentlichkeit als Partner» trug. Damals fragte er danach, «welche Verantwortung der Schriftsteller gegenüber der Gesellschaft habe». In seiner Antwort berief er sich auf «Spieltrieb», «Machlust» und das «Schreiben, um zu sein» – mit anderen Worten auf die Autonomie der Literatur als Kunst um den Preis der Persönlichkeitsspaltung in Künstler und Staatsbürger: «Natürlich hat man seine Meinungen, manchmal sogar leidenschaftliche, die moralischen und die politischen Interessen als Mensch und Staatsbürger; das Interesse des Künstlers aber gilt der Darstellung.» Damals hatte Peter Bichsel noch keine Zeile veröffentlicht und war als junger Primarlehrer im Jahr zuvor eben in die Sektion Zuchwil der SP, der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, eingetreten.

«Öffentlichkeit als Partner heute? Eine überraschende Frage», sagt er jetzt am Beizentisch. Und bevor er antworten kann, baut sich vor ihm ein Freak auf: «Herr Bichsel!», sagt er, und: Er brauche 75 Rappen. Bichsel schaut ihn an, lächelt, holt sein Portemonnaie aus der Tasche, zählt 75 Rappen auf den Tisch. Der andere steckt die Münzen zufrieden ein und marschiert grusslos davon. «Mindestens danke sagen könntest du!», ruft ihm Bichsel nach, und der andere ruft, ohne sich umzudrehen, schon vorn an der Türe: «Danke!»

«Er will immer 75 Rappen», murmelt Bichsel und fährt fort: «Öffentlichkeit als Partner? Ich würde sagen: Das ist heute kein Thema mehr, weil es die Öffentlichkeit nicht mehr gibt.» – Das sei nun aber auf die überraschende Frage auch eine überraschende Antwort. Weshalb er denn noch schreibe? – «Sicher nicht mehr, um Gegner zu überzeugen. Sondern um zu versuchen, den letzten Treuen eine Freude zu machen. Oder wenigstens, um sie bei der Stange zu halten.» Klar könne man sich fragen, warum sich die Autoren und Autorinnen heute kaum mehr in die öffentliche politische Debatte einmischten. «Ich zum Beispiel schreibe nun schon seit Jahrzehnten für die ‘Schweizer Illustrierte’ Kolumnen. Darin stehen auch heute Sätze oder ganze Abschnitte, die in den siebziger Jahren Reaktionen ausgelöst hätten. Heute gibt es sie kaum mehr. Und wenn, dann von Leuten aus meiner Generation.» Das Kolumnen-Schreiben falle ihm zunehmend schwer, Ende Jahr höre er auf damit.

Dann habe Frisch damals im Landhaus drüben also Recht gehabt, Aufklärung als literarischer Anspruch sei tatsächlich erledigt? – «Ja. Kurz- und mittelfristig gedacht ist dieser Anspruch gescheitert: Aber… es ist eine bittere Sache, das Ende der Aufklärung, eine wirklich bittere Sache. Immerhin war sie an die zweihundertfünfzig Jahre lang lebendig. In dieser Zeit hat sich viel verändert, die Leute und ihr Denken.» – Keine Öffentlichkeit und keinen Aufklärungsanspruch mehr: Ob das der Grund sei, dass seine jüngeren Kolleginnen und Kollegen heute oft nicht mehr zu unterscheiden seien von Kleingewerblern anderer Branchen, von Leuten, die keine andere Mission hätten, als am Markt missgünstig gegenüber Konkurrenz ihre Ware feilzubieten? – «Was wollen sie anderes in einer apolitischen Zeit? Abgesehen davon war es ja auch in den sechziger oder siebziger Jahren nicht so, dass die Schriftsteller die Politik gemacht hätten. Sie haben bloss reagiert. Wenn junge Fortschrittliche etwas veranstaltet haben, haben sie sich zur Verfügung gestellt, haben mitgemacht und sich solidarisiert. Die Jungen heute würden sich genauso solidarisieren, da bin ich überzeugt.»

Wie Bichsel zum Linken geworden ist

Peter Bichsel trat mit 22 in die SP ein und war damals zweifellos weitherum das jüngste Parteimitglied. Erst nach 1968, sagt er, seien die Leute seiner Generation vermehrt der Partei beigetreten. Seine erste Parteiversammlung 1957 wurde dann gleich zu einer denkwürdigen: «In Zuchwil gab es damals ein paar alte Sozialdemokraten, belesene Leute, Büchergilde Gutenberg-gebildete Männer, engagiert atheistisch, daneben ausgezeichnete Bibel-Kenner. Gute Typen. An meiner ersten Versammlung waren die SP-Kandidaturen für die bevorstehenden Gemeinderatswahlen traktandiert. Aus der Versammlung fragte einer: Könnten wir als Kandidaten nicht diesen jungen Lehrer aufstellen? Da hat sich einer der Alten zu Wort gemeldet und gesagt: ‘Dä lööt ihr mir in Ruei, dä chönne mer no bruuche.’ Ein grosses Kompliment für mich damals. Da war ja noch nichts mit Schriftstellerei und Prominenz. Hätte dieser Mann nicht gesprochen, wäre ich möglicherweise plötzlich mit kaum 23 Jahren im Zuchwiler Gemeinderat gesessen.»

Bichsel hat nie für ein politisches Amt kandidiert. Stattdessen hat er zu schreiben begonnen. Allerdings schon deshalb keine «littérature engagée», weil er die französische Debatte um diesen Begriff nie verstanden habe, wie er sagt: «Über Engagement wurde in Frankreich immer hochphilosophisch geredet. Sartre war noch einer der Verständlichsten. Als Schriftsteller auf die Strasse zu gehen, an einer Demonstration eine Rede zu halten, gilt in Frankreich bis heute als das Allerletzte. Das Gespräch über engagierte Literatur ist dort politische Philosophie und findet im Salon statt.»

Darum gehörten die Existentialisten nie zu seinem Vorbildern. Viel wichtiger wurde ihm um 1960 sein väterlicher Freund Willi Ritschard, ein sozialdemokratischer Gewerkschafter, der damals das Solothurner Gewerkschaftskartell präsidierte. Über ihn lernte Bichsel dessen Vorbild Max Weber (1897-1974) kennen – eine zeitgeschichtliche Figur, die auch für ihn wegleitend wurde. Weber war Sozialdemokrat auf der Linie des religiösen Sozialismus von Leonhard Ragaz und verweigerte 1930 den Militärdienst. Seit 1926 war er Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und seit 1939 SP-Nationalrat des Kantons Zürich. Ende 1951 wurde er in den Bundesrat gewählt, zwei Jahre später trat er zurück, nachdem seine von den Bürgerlichen bekämpfte Finanzreform an der Urne gescheitert war. Kurzum: Weber war einer von denen, für die Werte wichtiger sind als Macht. Als gelernter Heizungsmonteur bildete sich Ritschard in der von Weber gegründeten «Arbeiterschule» weiter. Ab 1955 sassen sie beide gemeinsam in der nationalrätlichen SP-Fraktion.

Nach Webers Tod am 2. Dezember 1974 sagte Ritschard, Weber sei «ein guter Vater geworden für eine ganze Generation von Schweizer Arbeitern», «viel mehr ein Arbeiterlehrer als ein Arbeiterführer». An den Schluss seines Nachrufs setzte er ein Zitat des Verstorbenen aus dem Jahr 1926: «Nicht wissenschaftliche Erkenntnis, sondern das Sittengesetz bildet die Grundlage, um die Welt umzugestalten. Nur aus einem Sozialismus, dessen Wurzeln der Glaube an die Gerechtigkeit und die Liebe zur Menschheit sind, kann die ungeheure Kraft kommen, die nötig ist zur Erneuerung des menschlichen Lebens und zum Aufbau einer sozialistischen Gemeinschaft.»[3]

Diese stark ethisch grundierte sozialdemokratische Tradition hat auch Peter Bichsel geprägt. Die zweite Prägung: die Ereignisse des Jahres 1968. Zwar sei er schon damals – mit dreiunddreissig – «irgendwie ein alter Mann» gewesen, immerhin habe damals gegolten: «Trau keinem über dreissig». Aber ihm habe geschienen, diese jungen Leute seien stärker als er: «Und wenn ich mich auch mitunter vor ihrer Stärke fürchtete, ich hoffte doch sehr, dass sie durchhalten und ihre Überzeugungen mittragen werden in ihr Alter.»[4] Bereits als er das 1984 schrieb, fügte er die resignierte Frage bei, wo diese Leute unterdessen geblieben seien.

Jetzt, im «Kreuz», wird klar, dass für Bichsel «1968» wichtig geblieben ist, auch wenn auf dem langen Weg durch die Institutionen die Institutionen nicht selten stärker waren als jene, die aufbrachen, um sie zu verändern oder gar aus den Angeln zu heben: «1968 war für mich, der immer links gedacht hat, ein schwieriger Lernprozess», sagt Bichsel. «Diese Leute haben viel gefordert mit ihrer Frage: Wo bleibt die Relevanz? – auch als Frage an die Literatur, beispielsweise. Ich habe selten so deutlich wie damals gespürt, dass ich einen Lernprozess mitmache. Es ging um Begriffe wie Marcuses ‘repressive Toleranz’. An ihnen habe ich lange herumgebissen mit dem Vorsatz: Ich will das begreifen. Und ich habe es, glaube, ich schliesslich auch begriffen. Das war für mich wichtig.» Dann erzählt er, er sei ja damals oft in Berlin gewesen und habe viele Leute kennengelernt: «Ich habe Rudi Dutschke gekannt, und ich habe all die späteren RAF-Leute gekannt…» An diesem Punkt verstummt er und wechselt danach das Thema.

Bichsel wird Ghostwriter

Linker Pragmatismus aus Menschenliebe mit dem Akzent auf dem gewerkschaftlichen Gerechtigkeitsgedanken: Da wird es zwischen Bichsel und Ritschard in den sechziger Jahren kaum Differenzen gegeben haben. Dass Ritschard dem rechten, Bichsel dem linken Flügel der Partei zugeordnet wurde, hatte andere Gründe, vor allem wohl die Frage der internationalistischen Perspektive eines linken Engagements. Im Oktober 1977 schrieb Bichsel im «Magazin des Tages-Anzeigers»: «Die Auseinandersetzungen zwischen Linken und Linken bei uns sind nichts anderes als die Auseinandersetzung zwischen nationalen und internationalen Linken. Die nationale Linke macht mit, für sie ist die Umverteilung ein nationales Problem. Nationaler Sozialismus? – Das entsprechende Substantiv ist bekannt!»[5]

Sicher spielt Bichsel auch auf diesen Widerspruch an, wenn er jetzt im «Kreuz» sagt: «Ein überzeugter Linker war Willi Ritschard nie. Aber er war ein Herzenssozialist.» 1964 wurde er in den Solothurner Regierungsrat gewählt und amtete seither als kantonaler Finanzdirektor. Und die Karriere des Schuhmacherssohns und Handwerkers war noch nicht zu Ende: Als Anfang Dezember 1973 im Bundeshaus der Nachfolger des SP-Bundesrates Hans-Peter Tschudi gewählt werden sollte, nominierte die Partei zwar den Aargauer Arthur Schmid als offiziellen Kandidaten, jedoch zirkulierte in den Wandelhallen auch der Name eines inoffiziellen: Willi Rischard.

Und dann kam ein Gerücht auf, das vermutlich die ganze SP-Fraktion hinter Schmid scharen sollte. Es lautete: Der unterdessen als Schriftsteller prominent gewordene Peter Bichsel habe Bedenken gegenüber der Politik Willi Ritschards. In dieser Situation verfasste Bichsel am 3. Dezember 1973 einen Offenen Brief an die Mitglieder der SP-Fraktion: «Die Behauptung ist völlig aus der Luft gegriffen. Ich habe mich nie irgendwo in diesem Sinne geäussert.» Vielmehr sei es so, dass er mit Ritschard «seit Jahren befreundet» sei und für ihn «politische Gespräche mit Willi immer sehr wichtig gewesen» seien: «Mein eigenes Engagement hat nicht wenig mit seiner Person zu tun, nicht weil wir uns in allem einig [wären], sondern weil es sich lohnt, mit ihm über Meinungsdifferenzen zu diskutieren.»[6] Zwei Tage später ist Ritschard zum Bundesrat gewählt worden – zweifellos mit zahlreichen SP-Stimmen.

Anlässlich des offiziellen Empfangs des Neugewählten in der Stadt Solothurn stellte sich Ritschard am 11. Dezember dann unüberhörbar in die Tradition seines Lehrers Max Webers: «Die Lehren für die gewerkschaftliche und für die politische Arbeit muss man aus dem Leben nehmen. Auch dann, wenn man einen sittlich oder auch wissenschaftlich noch so fundierten Wunsch hat, muss man ihn zuerst mit den Realitäten konfrontieren. Politik und politische Begriffe dürfen nicht zum Geheimjargon werden. Sonst stiften sie höchstens Verwirrung und sie nützen nichts. […] Für mich ist Demokratie erst verwirklicht, wenn sie eine soziale Demokratie ist. Über das konkrete Umsetzen dieser Prinzipien in praktische Politik gibt es natürlich ein fortdauerndes Ringen der Meinungen. Die Demokratie lebt von diesem Ringen um den besten Weg. Was Demokratie aber nicht brauchen kann, das sind kaltschnäuziges Managertum und Intellektualismus ohne Herz.»[7]

Ritschard wurde Vorsteher des Verkehrs- und Energiedepartements (EVED). Es ist davon auszugehen, dass eine seiner ersten Amtshandlungen war, seinen Freund Bichsel zu fragen, ob er als Berater für ihn arbeiten würde. Bichsel sagte zu und nahm die Arbeit bereits im Januar 1974 auf. Mit Datum vom 3. März unterschrieben die beiden dann einen Vertrag, in dem Bichsels Pflichtenheft wie folgt umrissen wurde: «Der Beauftragte verpflichtet sich […], folgende Geschäfte zu besorgen: / a. Entwürfe für zu publizierende Sachdarstellungen und Meinungsäusserungen irgendwelcher Art, wie z.B. Erklärungen, Vorworte, Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften. / b. Entwürfe für Ansprachen des Departementsvorstehers. / c. Ueberprüfung und Bearbeitung von Publikationen des EVED. / d. Ueberwachung und Studium des einschlägigen Schrifttums und Erstellen von entsprechenden Summarien. / Das Auftragsgebiet kann – soweit es den Sachbereich des Departementes beschlägt – erweitert werden.» Dass es bei diesem Beratermandat für Ritschard noch um etwas anderes gegangen ist, sagt Bichsel im «Kreuz» jetzt so: «Es ging für Willi darum, mit mir einen zu haben, der die linke Flanke der Partei abdecken konnte.»

Bis zu Ritschards Wechsel ins Finanzdepartement (Anfang 1980) arbeitete Bichsel intensiv für ihn, danach nur noch sporadisch. «In der ersten Zeit», sagt er, «habe ich nicht den ganzen Aufwand abgerechnet, weil ich sonst zu viel verdient hätte. Ich habe wirklich gekrampft. Es gab 70-Stunden-Wochen.» Laut den Rechnungen, die er damals monatlich gestellt hat, verdiente er für seine Arbeit einen Stundenlohn von 40, ab 1. Januar 1976 von 50 Franken brutto plus die Spesen für seine Autofahrten von Solothurn nach Bern.

Ritschards brisantestes Geschäft

Was Peter Bichsel damals an Textmaterial produziert hat, liegt heute in den Schachteln 58 bis 61 seines Archivs im Schweizerischen Literaturarchiv: Knochenarbeit eines politischen Ghostwriters. Zur Volksabstimmung über die Gründung des Kantons Jura vom 28. Mai 1978 zum Beispiel gibt es zwei gleichermassen staatsmännische Statements: das eine kommentiert die Annahme, das andere die Ablehnung der Vorlage (sie wurde mit 82,3 Prozent der Stimmen angenommen).[8] Das gleiche bei der Volksinitiative «zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen» vom 18. Februar 1979 (sie wurde mit 51,2 Prozent der Stimmen abgelehnt).[9]

Diese Atomanlagen waren in jenen Jahren zweifellos das brisanteste energiepolitische Geschäft: Eben in Betrieb genommen worden waren die Werke Beznau 1 und 2 (1969 und 1971) sowie Mühleberg (1972), Gösgen ging während Ritschards Amtszeit ans Netz (1979), Leibstadt war im Bau; weitere Werke wurden geplant und später nicht gebaut (Kaiseraugst, Graben/BE, Rüthi/SG). Am Beizentisch sagt Peter Bichsel jetzt: «Das AKW Kaiseraugst habe ich verhindert.» – Wie er das meine. – Ritschard, sagt er, sei ein Befürworter der Kernkraft gewesen. Über Jahre habe er sich bemüht, ihm die technischen und gesellschaftspolitischen Gefahren dieser Technologie bewusst zu machen.

Blättert man die Reden durch, in denen Ritschard auf Aspekte dieser Technologie zu sprechen kommt, fällt als erstes auf, dass er laut Typoskript meistens von «Atom-», nicht industriefreundlich von «Kernkraftwerken» gesprochen hat. Wiederholt variierte er folgende gesellschaftspolitische Argumentation: Atomkraftwerke sind ein notwendiges Übel, gebaut werden sollen bloss so viele wie unbedingt nötig, und zentral sind immer und überall die Fragen nach der Sicherheit und nach der Verantwortung. Im September 1974 formulierte er sein sozialdemokratisches Ja zu dieser Technologie so: «Glauben sie mir, mein Entscheid für die Atomkraftwerke fällt mir nicht leicht und wird mich dauernd belasten. Es ist kein Herzensentscheid und ich kenne alles Negative, was mit ihm verbunden ist. Mein Entscheid ist ein persönlicher Kompromiss. Wir leben zwar in einer Art Wohlstand. Es geht dem Arbeiter heute sicher viel besser als noch vor einigen Jahren, aber der Schritt von diesem Wohlstand zur Armut ist klein – da gibt es keine grosse Spanne. Wer auf seinen regelmässigen Lohn angewiesen ist und von Mitte Monat an sehnlichst darauf wartet – also ein Lohnabhängiger –, der ist von jener Stunde an, wo er keinen mehr erhält, zum Armen geworden. Ich möchte nicht in persönlicher Sentimentalität machen, aber glaubt mir, ich weiss, was arm sein heisst, und ich fürchte mich davor. Andere Gründe für den Bau eines Atomkraftwerks gibt es für mich nicht. Aber es gibt Gründe genug, die mich skeptisch machen und deshalb werde ich mich immer und überall für die kleinlichsten Sicherheitsmassnahmen einsetzen.»[10]

Während der Auseinandersetzung um das Atomkraftwerk Kaiseraugst wurde 1975 das Baugelände besetzt, und 20000 Personen demonstrierten gegen den geplanten Bau. 2008 hat Peter Bichsel gegenüber dem «Beobachter» klargemacht, dass Ritschard – wie vor ihm Weber – seine Werte über die Macht stellte: «Bundesrat Willi Ritschard drohte mit Rücktritt, falls das Militär gegen AKW-Demonstranten eingesetzt würde.»[11] Sicher gab es schliesslich andere Gründe, warum diese Anlage vor den Toren Basels nicht gebaut worden ist: finanzielle, technische, politische. Aber die Haltung des zuständigen Bundesrates hatte zweifellos Gewicht. Und auf sie hat Bichsel kontinuierlich Einfluss genommen: Deshalb gehört er tatsächlich zu denen, die das AKW Kaiseraugst verhindert haben.

Er spreche von 70-Stunden-Wochen als Ritschard-Berater, frage ich jetzt: Wo denn damals die Literatur geblieben sei? – «Kolumnen habe ich seit 1975 immer geschrieben. Aber daneben nicht mehr viel. Auf diese Frage antworte gewöhnlich, ich hätte in jener Zeit gerade nichts anderes zu tun gehabt und deshalb für Ritschard gearbeitet.» Gegenüber Peter Rüedi hat er 1979 sein literarisches Schweigen so begründet: «Ich habe weder das Bedürfnis, noch fühle ich mich verpflichtet, ein grosser und produktiver Schriftsteller zu sein oder zu werden.» Heinz F. Schafroth hat das damalige literarische Verstummen mit Bichsels «radikale[r] Problematisierung der Sprache, des Schreibens und des Erzählens» in Zusammenhang gebracht.[12] Vermutlich hat er zu weit gesucht: Nach bis zu siebzig Stunden nationaler Verkehrs- und Energiepolitik pro Woche muss sich Bichsel verschärft die Frage gestellt haben: Wo bleibt die Relevanz der Literatur?

Gewerkschafter mit Wappenscheibe

Peter Bichsel ist als Gewerkschafter Mitglied der Unia, der grössten Gewerkschaft der Schweiz, zuständig für die Arbeitnehmerschaft in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Bau und private Dienstleistungen. Unia-Mitglied ist er, weil er um 1968 in den Bau- und Holzarbeiterverband eingetreten ist, damals, als Willi Ritschard im Kanton Solothurn dessen Sekretär war. Seither ist Bichsel dabei. Bloss hiess der Verband seit 1974 Gewerkschaft Bau und Holz (GBH), seit 1993 Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), und seit die GBI 2004 mit dem Smuv, der Gewerkschaft für die Metall- und Uhrenindustrie, fusioniert hat, heisst seine Gewerkschaft Unia.

Walter Renschler, der Sekretär des Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD zwischen 1974 und 1994, habe verschiedentlich zu ihm gesagt: «Dass Du bei Bau und Holz bist! Wir haben doch eine Gewerkschaft für Künstler». Darauf habe er jeweils gesagt: «Das interessiert mich nicht.» Weil Renschler insistiert habe, habe er ihm dann einmal gesagt: «Weisst du, Bau und Holz ist die einzige Gewerkschaft, die Gelegenheitsarbeiter aufnimmt.» Jetzt lacht er und fährt fort: «Das war eine dieser 68er-Überzeugungen: Man gehört in eine Gewerkschaft. Obschon wir die Gewerkschaften ja damals gehasst haben, weil sie am rechten Flügel der SP standen. Seither haben sie ihre Position kaum verändert, stehen aber unterdessen am linken Flügel, weil sich die SP kontinuierlich nach rechts verschoben hat.»

Über die Frage, was es eigentlich bedeutet, politisch links oder rechts von jemandem zu stehen, hat Bichsel einmal öffentlich nachgedacht: «Links» und «rechts», schrieb er damals, könne nicht «allein» definiert werden, «sondern nur im Bezug auf etwas – links von etwas, rechts von etwas». Dabei gelte Folgendes: «Wer links von mir steht, der nimmt mir das Recht, in Ruhe ein Linker zu sein. […] Aber Politik ist Unruhe – die Entpolitisierung der Politik hat begonnen.»[13] Das war 1982. Seither ist die SP noch immer mehr zu jener politischen Partei geworden, in die man eintritt, um in Ruhe links sein zu können. Peter Bichsel war immer ein linker Sozi, zwar nie ein «linksextremer», aber stets ein «linksradikaler». Wer politisch links steht aus Menschenliebe wird die extremistische Ultima ratio der Gewalt gegen Menschen nie befürworten können – aber wer nicht anders kann, als die Wörter ernst zu nehmen bis in ihre Wurzeln, ist und bleibt radikal.

«Nach fünfundzwanzig Jahren in der Gewerkschaft», erzählt er, «konnte ich wählen zwischen einem Sackmesser und einer Wappenscheibe. Ich habe mich für die Wappenscheibe entschieden. An der Jubiläumsfeier waren wir dann gegen dreissig, die geehrt wurden. Zwei erhielten die Wappenscheibe, ein Schreiner und ich. Diese Scheibe hängt bis heute am Fenster vor meinem Bett und ist das Erste, was ich jeden Morgen sehe: ‘25 Jahre GBI / Peter Bichsel’. Eine ästhetisch schöne Scheibe, und ich bin stolz darauf. Aber mehr habe ich mit der Gewerkschaft nie zu tun gehabt.»

Das stimmt nicht ganz: Am 25. September 1987 hat er vor der Delegiertenversammlung der Gewerkschaft Bau und Holz in Davos eine Rede gehalten. Bei dieser Gelegenheit hat er den Kollegen und Kolleginnen die Sache mit dem «Virus Reichtum» erklärt: Wie jeden andern sehe man auch den Virus Reichtum nicht und verleugne ihn deshalb so lange wie möglich. Aber wer angesteckt sei, den erkenne man an seinem Denken: «Wir sind zwar nicht alle reich, aber wir denken bereits alle wie die Reichen.» Dass der Virus derart grassiere, komme daher, weil «auch unsere Arbeiter nicht die Armen dieser Welt» seien. Sie seien bloss die Armen der Schweiz, und der Virus bewirke, dass sie statt mit den Armen der Welt mit den Reichen der Schweiz solidarisch sein wollten. Dieser Virus Reichtum sei es, «der in uns allen drinsteckt, der uns alle entsolidarisiert, der uns alle mehr und mehr unfähig macht, gewerkschaftlich zu denken».[14]

«Komm», sagt Bichsel jetzt. Vom Bändchen, in dem die «Virus Reichtum»-Rede abgedruckt sei, habe er in seiner Schreibstube noch Belegexemplare. Ich könne eines haben.

Abgesang auf die Grube Olden

Gemächlich spazieren wir die Kronengasse hoch und plötzlich sagt Bichsel: «Schriftsteller wird man ja freiwillig.» Was er damit meint, verstehe ich erst richtig, als ich auf der Rückfahrt nach Bern im Zug die Rede über den Virus Reichtum nachlese. Einleitend hat er damals den Bau und Holz-Delegierten gesagt: «Ich fühle mich ganz einfach verpflichtet, einer Gewerkschaft anzugehören und damit meine Solidarität mit jenen auszudrücken, die wirklich arbeiten.» Wirklich arbeiten? Die Formulierung sagt auch: Schriftstellerei ist keine Tätigkeit, bei der man «wirklich» arbeitet. Wobei damit zweifellos nicht die Differenz zwischen Hand- und Kopfarbeit gemeint ist, sondern jene zwischen existenzsichernder Lohnarbeit und einem Privatgelehrtentum, das durch eigene Lohnarbeit, Lebenspartnerschaft, Erbschaft, Mäzenatentum oder staatliche Unterstützungen abgesichert ist.

«Schriftsteller wird man freiwillig»: Ob das der Grund sei, warum er sich nach der Gründung der «Gruppe Olten» 1971 so schnell den Namen eines Dissidenten unter den Dissidenten gemacht habe? – «Ach, die Gruppe Olten! Wir trafen uns damals aus Protest gegen Maurice Zermattens Übersetzung des ‘Zivilverteidigungsbüchleins’ in Olten am Tag, als Zermatten als Präsident zur Jahresversammlung des Schriftstellervereins SSV eingeladen hatte. Wir trafen uns, um zu reden. Die Idee, an der auch Max Frisch interessiert war, ging in die Richtung eines Diskussionsclubs im Sinn der deutschen ‘Gruppe 47’. Drum auch das Wort ‘Gruppe’.»

Bichsel bleibt mitten in der Gasse stehen und fährt auf seinen Spazierstock gestützt fort: «Wir sagten uns: Wir treffen uns einmal, zweimal pro Jahr. Alle können mitbringen, wen sie wollen, keine Aufnahmekriterien, niemand muss bereits zwei Bücher publiziert haben. Keine Formulare, nichts. Fertig mit der SSV-Vereinsmeierei. Vielleicht funktioniert’s, vielleicht funktioniert’s nicht.» Und dann habe diese unglückselige Diskussion über die Subventionen begonnen. Man habe gesagt: Wenn wir einen Verein gründen, kommen wir an staatliches Geld. Dagegen habe man ja nicht viel sagen können: «Aber dafür auch nicht. Als dann ein Unbedarfter die erste Version der Vereinsstatuten zur Vernehmlassung verschickte und ‘Staduden’ darüber schrieb, sagte Jörg Steiner, das seien jetzt eben die Staduden der Grube Olden. Entstanden ist in dieser Gruppe danach nichts: keine inhaltliche Diskussion, kein politisches Engagement. Sie ist schnell zu dem geworden, was zuvor schon der SSV gewesen und unterdessen der AdS geworden ist: ein Subventionsempfänger ohne berufspolitische Funktion. Ausser, dass ein paar Sekundarschullehrerinnen und romanisch sprechende Vikare und Pfarrherren ohne schlechtes Gewissen ins Hotelbuch ‘Schriftsteller’ schreiben können, weil sie ja in einem Schriftstellerverband sind. Vierzehn Tage, bevor die Gruppe Olten 2002 aufgelöst worden ist, sind Jörg Steiner und ich ausgetreten. Auf die AdS-Mitgliedschaft haben wir beide verzichtet.»

Der letzte linke Wertkonservative

Unterdessen sind wir nach links in die Hauptgasse eingebogen. Nach einigen Schritten geht Bichsel voran durch einen mit Schaufenstern gesäumten Durchgang und öffnet eine Lifttüre. 1995, sagt er, sei er aus der SP ausgetreten, habe aber seine Mitgliederbeiträge weiterhin bezahlt. Genau genommen sei er damals öffentlich ausgetreten und heimlich gleich wieder eingetreten. Und als wir in seine Schreibstube kommen, sagt er: «Was ich Dir noch ausdrucken muss, ist meine Grabrede auf Aschi Leuenberger. Er war einer der besten von uns.»

Ernst Aschi Leuenberger starb Ende Juni 2009 mit 64 Jahren an Krebs. Als Gewerkschafter war er zum Beispiel bis 2005 acht Jahre lang Präsident des Eisenbahnerverbandes SEV, als Ständerat des Kantons Solothurn ist er schliesslich im Amt verstorben. Am 8. Juli 2009 hat Bichsel in seiner Trauerrede gesagt, Leuenberger sei «kein Karrierist» gewesen, sondern «ein felsenfester 68er, der den Marsch durch die Institutionen ernst nahm, und dabei die Institutionen ernst nahm»: «Ich hoffe nicht, dass – wie ich in der Beiz gehört habe – mit ihm der letzte Sozialist gegangen sei. Aber ich fürchte, dass mit ihm einer der letzten linken Wertkonservativen gegangen ist. Einer, der erst mal die wirklichen Werte – und nicht das schnöde Bankgeheimnis – dieses Landes bewahren wollte, einer, der die Geschichte der modernen Schweiz kannte wie wenige andere, einer, der daran glaubte, dass dieses Land die Grundlagen, die Institutionen hätte, ein gerechtes, ein humanes, ein solidarisches Land zu werden.»[15]

Unterdessen sitzen wir in der Sofa-Ecke von Bichsels Schreibstube, dessen Fenster sich auf die Hauptgasse der Solothurner Altstadt öffnet. Er spricht von seiner strenggläubig-pietistischen Jugend, weil ich ihn gefragt habe, ob er eigentlich neben allem andern nicht auch ein bisschen Pfarrer sei. Nun erzählt er: Ausgestiegen aus der kindlich-engen Frömmigkeit sei er mit etwa sechzehn Jahren über sein zunehmendes Interesse für die Theologie und über die intensive Lektüre von Karl Barths Büchern: «Die Intellektualisierung des Glaubens hat mir geholfen auszusteigen. Religiös interessiert bin ich bis heute geblieben, weil mich die menschliche Erfindung Gott fasziniert. Mein Glaubensbekenntnis heisst: Ich weiss, dass es keinen Gott gibt, aber ich glaube an ihn. Ich glaube an diese menschliche Erfindung.» Bloss das Heilsversprechen vom Jenseits und vom ewigen Leben, das sei für ihn «ein Blödsinn». «Erst spät, als ich Leonhard Ragaz gelesen habe, habe ich begriffen, dass ich eigentlich ein Ragazianer bin.» Aber wenn er hier gefragt werde, ob er ein Pfarrer sei, wolle er auch noch dies sagen: «Die 68er, das war unter anderem auch eine Ansammlung von Sonntagsschullehrern, auch ich war einer. Es gab damals viele von ihnen, gute und schlechte – Aschi Leuenberger war einer der besten.»

Der Grund, warum er als Pietist schliesslich Sozialist geworden sei, sei jedoch ein anderer: «Es war der Hollywood-Western! Diese nachvollziehbare Herstellung der Gerechtigkeit. Das mag ich jener Filmindustrie gönnen: Die hat ja ihre Western nicht gedreht, um Sozialisten und Kommunisten heranzuziehen. Aber bei mir hat’s so funktioniert, weil ich etwas falsch verstanden habe.» Er lacht. Allerdings sei er später immer ein etwas spezieller Sozialist geblieben, denn er habe in seinen «pietistischen Sektenjahren» gelernt, «in Minderheiten zu leben»[16]: «Darum sagte ich immer: Sobald die SP 51 Prozent hat, trete ich aus. Die Mehrheit des Sozialismus interessiert mich nicht.» – In diesem Fall interessiere ihn aber auch der Sozialismus als Gesellschaftsmodell nicht. – «Der Sozialismus interessiert mich, und ich hoffe auf ihn, ich kämpfe für ihn. Aber nur, bis er die Mehrheit erreicht hat. Wir wissen ja, was wir haben, wenn diese Mehrheit erreicht ist: den real existierenden Sozialismus. Wenn die SP 51 Prozent hat, tritt Blocher in die SP ein und beginnt sie zu reformieren.»

Wacht auf, Verdammte dieser Erde

Bevor ich gehe, macht Peter Bichsel für mich noch eine kleine Führung durch sein Schreibstubenreich: «Erfahrung ist fast immer eine Parodie auf die Idee» hat er von Hand gross auf einen Zettel geschrieben und an die Wand gepinnt; eine Goethe-Maxime, von ihm leicht redigiert: das Wort «fast» hat er mit schwarzem Filzstift doppelt durchgestrichen. Darunter Robert Walsers berühmtes Diktum aus der Textsammlung «Die Rose» von 1925: «Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.»

An der gegenüberliegenden Wand ein hochgestellt rechteckiger, klobiger Holzrahmen, der eine Tabakpfeife birgt – eine unübersehbare Parodie auf René Magrittes «La trahison des images»; auf jene weltbekannte, gemalte Pfeife, unter die der Maler den Satz schrieb: «Ceci n’est pas une pipe». Als ich Bichsel fragend anschaue, sagt er: «Die Lieblingspfeife von Max Frisch.» Und als ich frage, wie er dazu gekommen sei, hat er’s erzählt und danach die Episode zur schwarzen Fahne, die ebenfalls an dieser Wand hängt: Am 7. Dezember 1983 wurde Otto Stich zum Bundesrat gewählt als Nachfolger von Willi Ritschard, der einige Wochen zuvor auf einem Spaziergang oben auf dem Weissenstein tot zusammengebrochen war. Stich nahm die Wahl als Mann des rechten Parteiflügels und wilder Kandidat an und verhinderte damit jene der offiziellen SP-Kandidatin Lilian Uchtenhagen als erste sozialdemokratische Bundesrätin. An jenem Tag waren viele Linke im Land sauer auf Stich, auch Bichsel. Und weil Stich wie Ritschard Solothurner war, wurde auch er in der Kantonshauptstadt mit einem Festzug offiziell empfangen, der durch die Hauptgasse zog. Bichsel sass an jenem Tag oben in seiner Schreibstube. Als Zeichen seines Protests hängte er diese kleine Anarchistenfahne aus seinem Fenster im dritten Stock. Ob Stich sie wahrgenommen hat, ist nicht überliefert.

Unterdessen hat sich Peter Bichsel an seinen Arbeitstisch gesetzt und beginnt an einer etwa zwanzig Zentimeter hohen Porzellanfigur zu hantieren. Sie sei ihm nach Jörg Steiners Tod im Januar 2013 von dessen beiden Töchtern geschenkt worden, sagt er. Unverkennbar stellt sie den blaubefrackten Karl Marx dar, der auf einer Drehscheibe steht, die den Deckel einer Spieldose bildet. Einen Schlüssel drehend, spannt Bichsel nun deren Feder. Es erklingt die Melodie der «Internationalen» und Marx beginnt, sich tanzend im Kreis zu drehen, in flottem Tempo eine, zwei Strophen lang. Dann wird das helle Pling-Pling der metallenen Tonzungen langsamer und der ruckelnde Marx bleibt mitten in einer Phrase stehen: «…ihr Arbeitsleute / Wir sind die stärkste der Par.» – Peng! haut Bichsel mit spitzbübischem Lachen beide Handflächen aufs Tischblatt, dass es knallt. Und siehe da: Die Musik setzt noch einmal ein und der Porzellan-Marx dreht, bevor er endgültig stehen bleibt, fürs Publikum noch eine halbe Ehrenrunde.

[1] Zitiert nach Gunhild Kübler, Rolf Niederhauser, in Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur, S. 3.

[2] Max Frisch, Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb, in ders., Schweiz als Heimat?, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1990, S. 461 + S. 469.

[3] Willi Ritschard/Peter Bichsel, [Nachruf auf Max Weber ohne Titel], Typoskript, SLA-PB-C-3-2-b-2.

[4] Peter Bichsel, Bis zum nächsten Mal, in ders., Kolumnen, Kolumnen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2005, S. 229.

[5] Peter Bichsel, Sir – you know…, in, ders., Kolumnen, Kolumnen, a. a. O., S. 120.

[6] Peter Bichsel, An die sozialdemokratische Fraktion der Bundesversammlung Bern, Bellach, 3.12. 1973, SLA-PB-C-3-e-1.

[7] Willi Ritschard und Peter Bichsel, Amtsantrittsrede als Bundesrat, in SLA-PB-C-3-a-3. – Es handelt sich offensichtlich nicht um die Amtsantrittsrede im Parlament, sondern um die Rede anlässlich des offiziellen Empfangs als neugewählter Bundesrat in Solothurn.

[8] Willi Ritschard und Peter Bichsel, Liebe Jurassier, 24.9.1978, in SLA-PB-C-3-2-d-3.

[9] Willi Ritschard und Peter Bichsel, Atominitiative 2.[1979], in SLA-PB-C-3-2-c-2.

[10] Willi Ritschard und Peter Bichsel, Probleme schweizerischer Politik, September 1974, in SLA-PB-C-3-2-c-1, Typoskript S. 25 f.

[11] Christoph Schilling, Atomkraft. Der Mythos Kaiseraugst, in Beobachter Nr. 5, 5.3.2008.

[12] Gespräch mit Peter Rüedi, in Weltwoche, 11.4.1979, zitiert nach Heinz F. Schafroth, Peter Bichsel, in Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur, S. 6.

[13] Peter Bichsel, Der Abschied von Links, in ders., Schulmeistereien, Darmstadt und Neuwied, Luchterhand, 1885, 192 ff.

[14] Peter Bichsel, Virus Reichtum, in ders., Des Schweizers Schweiz. Aufsätze, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1997, 55 ff.

[15] Peter Bichsel, Trauerrede für Ernst Leuenberger, 8. Juli 09, Typoskript, S. 4.

[16] Nachträgliche Anmerkung: Dieses Argument vom Leben in der Minderheit, das mich zum Titel des Beitrags angeregt hat, hat Bichsel auch an anderer Stelle hervorgehoben: «Ich bin im Pietismus aufgewachsen und habe mich dort eingeübt in die Minderheit. Das hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Ich geniesse es, in der Minderheit zu sein.» (Peter Bichsel: «Ein Wort zur Zeit», in: Neue Wege, Nr. 5/2018, S. 20)

Abgedruckt in Quarto, Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs Nr. 40-41/2015, S. 132-145; dort unter dem Titel: «Der demokratische Minderheitssozialist. Der Schriftsteller Peter Bichsel als Person des öffentlichen Lebens». – Ich bedanke mich beim SLA/Rudolf Probst für die Erlaubnis, den Text an dieser Stelle zweitveröffentlichen zu dürfen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5