Die Glühbirne von Livermore

Alle Jahre wieder, wenn ich in den ersten Januartagen ins Büro gehe, stolpere ich auf den Trottoirs über weggeworfene Tannenbäumchen, die auf ihre Verbrennung warten. Das sind «Christbäume», die man als Kerzenträger gebraucht hat, damit die Kinderaugen schön leuchten ob all dem ausgepackten Wegwerfplunder. Mit der christlichen Weihnacht haben sie etwa gleichviel zu tun wie ein Strauss Gladiolen in der WC-Schüssel oder ein Fernseher, den man in Weisswein badet. Wenn’s wegen der leuchtenden Kinderaugen unbedingt einen Kerzenhalter brauchte, gäbe es ja auch Tannenbäumchen aus Plastik, und für den gehobenen Geschmack könnte man sie aus Edelmetall oder Marmor produzieren.

Aber nein: Die europäische Christenheit lässt quadratkilometerweise Jungholzpflanzungen roden zur höheren Ehre der eigenen Dekadenz (ad maiorem Dei gloriam). Mein Ärger: Kleine Bäume sind Symbole für die Potentialität des Lebens. Jedes Bäumchen trägt in sich die Kraft, mich zu überleben und zehnmal grösser zu werden als ich. Davor habe ich Respekt. Dagegen symbolisieren Bäumchen, die man masshaft abholzt vor allem dies: Hundertausende, die sich jahraus jahrein Tag für Tag klein machen und verschleissen lassen, kaufen sich Ende Jahr einen toten Baum, um ihn hämisch anzuglotzen und zu denken: Wenn ich kleingehalten werde, sollst auch du keine Chance haben zu wachsen. So macht sich der Knecht, wie es in der Bibel steht, die Erde Untertan.

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Allerdings symbolisieren all diese Rot-, Weiss-, Nordmann-Tannen und Blaufichten auf den Trottoirs noch etwas anderes, das mich ärgert. Werden sie im Dezember zum Kauf angeboten, haben sie zwei herausragende Eigenschaften: Zum einen gelten sie als «schön», befriedigen also warenästhetische Ansprüche, weil sie regelmässig gewachsen sind; zum anderen sind sie als Waren so präpariert (nämlich über der Wurzel abgesägt), dass sie schnell kaputt gehen. (Weihnachtsbäume aus Plastik, Metall oder Stein wären wiederverwendbar und würden deshalb schon nächstes Jahr das Geschäft mit den gewachsenen Bäumen vermiesen.)

Harald Welzer erzählt in seinem Buch «Selber denken. Eine Anleitung zum Widerstand» (Frankfurt [Fischer] 2014) die Episode von der Glühbirne auf der Feuerwache in der kalifornischen Stadt Livermore: «[Dort] wird jährlich der Geburtstag einer [Glüh]-Birne begangen, die im Jahr 1901 eingeschraubt worden war und seither Helligkeit verbreitet. Diese Geschichte ist für moderne Menschen überraschend, denn sie gehen aus Erfahrung davon aus, dass der Glühfaden einer handelsüblichen Birne nach einer gewissen Betriebsdauer natürlicherweise durchbrennt. Dass er das tut, ist aber lediglich das Ergebnis der frühesten belegten Absprache eines Kartells der Glühbirnenhersteller, die 1924 gemeinschaftlich beschlossen, die Lebensdauer der Glühfäden technisch zu begrenzen, und zwar auf rund 1000 Stunden.» (S. 268)

Heute kann man davon ausgehen, dass grundsätzlich jedes technische Gerät so in den Handel kommt, dass es nach Ablauf der Garantiefrist allgemach den Geist aufgibt. Man nennt diesen technischen Fortschritt «geplante Obsoleszenz». Der deutsche Diplom-Betriebswirt Stefan Schridde sammelt im Dienst nachhaltiger Produktequalität jeden Hinweis auf Murks, der neu glänzt in den Verkaufsregalen. Eine lehrreiche Sisyphusarbeit.

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Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Leute in den hochindustrialisierten Ländern von StaatsbürgerInnen immer mehr zu KonsumentInnen machen lassen. Sie haben sich von Leuten, die – wie illusorisch auch immer – im Bewusstsein lebten, so gut wie die Mächtigen im Land für das grosse Ganze mitverantwortlich zu sein, zu solchen machen lassen, die im Bewusstsein leben, berechtigt zu sein, sich für nichts als für den persönlichen Vorteil zu interessieren, solange sie das Geld haben, für Waren und Dienstleistungen zu bezahlen. Zwar ist der Konsument unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit die gemeingefährliche Schwundform des Staatsbürgers; aber nur, wenn er noch immer mehr konsumiert, wächst die Wirtschaft weiter.

Letzthin hatte ich in privatem Rahmen Gelegenheit zu einem Gespräch mit einem Mann, den man als Manager einer grossen Firma wohl zur Spezies der Wirtschaftsführer zählen muss. Das Gespräch drehte sich um wirtschaftliches Wachstum als Motor des sozialen Fortschritts und darum, dass dieser Motor wegen der Endlichkeit der Ressourcen früher oder später aussetzen wird. Ein wenig überrascht war ich dann doch, als dieser Mann seelenruhig sagte, selbstverständlich werde das jetzige Wirtschaftssystem an die Wand fahren, man wisse bloss nicht genau, wann. Deshalb müsse man sich vorsehen, damit man im entscheidenden Moment über die Privilegien verfüge, zu überleben und neu starten zu können.

Ich habe aus diesem Gespräch gelernt, dass nicht nur in Bezug auf einzelne Waren, sondern auch in Bezug auf das ganze Wirtschaftssystem die geplante Obsoleszenz in Rechnung zu stellen ist – als russisches Roulette für die Privilegierten sozusagen: Man wettet darauf, dass auch der Systemcrash Gewinner produzieren wird und tut schon jetzt das Möglichste, beim Neustart in der Poleposition zu stehen.

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Klar ist es zynisch, mit geplanter Obsoleszenz das Wachstum zu beschleunigen und sich gleichzeitig auf die Zeit nach dem Crash vorzubereiten. Aber was sonst? Immerhin muss auch ich als bestandener Rotgrüner zugeben: Wenn Maschinen schneller kaputt gehen und dadurch mehr neue verkauft werden, dann fördert das das Wirtschaftswachstum; sichert das Arbeitsplätze; erhöht das die staatlichen Einnahmen; stabilisiert das tendenziell die sozialen Netze; kommt das nicht zuletzt der rotgrünen Klientel zugute.

Und auch ich als Rotgrüner kann ja «Cleantech» nur dann begrüssen, wenn trotz Ressourcenschonung und grösserer Energieeffizienz das wirtschaftliche Wachstum weitergeht; die Arbeitslosigkeit nicht steigt; die Steuereinnahmen des Staates nicht einbrechen; die sozialen Netze nicht reissen; bei gleichbleibender sozialer Ungerechtigkeit die rotgrüne Klientel nicht schlicht und ergreifend verelendet.

Kurzum: Realpolitisch gesehen sitzen alle in der gleichen Fortschrittsmaschine. Wer vorn am Steuer sitzt, streitet sich deshalb im Fernsehen am liebsten publikumswirksam darüber, ob die Maschine, die auf die Wand zurast, rotgrün, blauschwarz oder allenfalls braun gespritzt werden soll; wie viele billige Plätze es auf dem Rücksitz der Maschine geben darf und ob sie mit Sicherheitsgurten oder gleich mit Handschellen gesichert werden sollen. Die politische Forderung, die Fortschrittsmaschine abzubremsen und mit gedrosseltem Motor Richtung Nachhaltigkeit abzuzweigen, ist für rechte und linke Realos gleichermassen undenkbar. Denn dann müsste man – damit alle genug haben – im Dienst sozialer Gerechtigkeit Umverteilung gegen unten praktizieren. Und dies durchzusetzen, hat definitiv nichts mit dem Courant normal der Realpolitik zu tun.

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Immerhin habe ich an einem dieser Januartage, durchs Quartier gehend, eine konstruktive Idee gehabt: Am Ende meiner journalistischen Karriere könnte ich als Ich-AG eine Firma gründen, die Weihnachtsbäume herstellt. Mein Slogan: «Lerchs Weihnachtsbäume! Geplant obsoleszent und doch nachhaltig!» Produktename: «Christbaum fondue», gefertigt aus extrahartem Hartkäse; im Set mit Rechaudkerzen und glänzenden Kugeln aus Vacherin Mont d’Or. (1.2.2015)

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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