Am 23. Juli 1974 wird die Jordanierin Rasmieh Hussein, die mit ihrem Ehemann und acht Kindern in einem VW-Bus als Fahrende unterwegs ist, in der Schweiz erstmals aktenkundig: Um 11.15 Uhr betritt sie mit ihrer 12jährigen Tochter die Geschäftsräumlichkeiten der Firma Gelbert in Zürich. Während die Verkäuferin ihr eine grössere Banknote wechseln will, greift Rasmieh Hussein in das Notenfach und kann, nach einem Handgemenge, mit 300 Franken im Ärmel aus dem Geschäft flüchten. Drei Tage später wird sie auf einem Zeltplatz verhaftet. Die 873 Franken, die sie auf sich trägt, werden beschlagnahmt. Sie wird der Verkäuferin gegenübergestellt und identifiziert, nach fünftägiger Untersuchungshaft freigelassen. Vermutlich in der Meinung, mit den fünf Tagen Haft und dem beschlagnahmten Geld sei der Diebstahl von 300 Franken abgegolten, verlässt die Familie Hussein die Schweiz Richtung Italien.
Am 22. April 1975 verurteilt das Bezirksgericht Zürich Rasmieh Hussein in Abwesenheit zu drei Jahren Landesverweis und drei Monaten Gefängnis unbedingt; der Strafantrag hatte auf 10 Monate gelautet. Der «Schwarzpeter», die Zeitung der Aktion Strafvollzug (ASTRA), schreibt später: «Üblicherweise erhält jemand in der Schweiz, der nicht vorbestraft ist, für einen solchen Vorfall drei bis vier Wochen 'bedingt'.» Die Urteilsbegründung hält jedoch fest: «In objektiver Hinsicht sind die Voraussetzungen des bedingten Strafvollzugs gegeben. In subjektiver Beziehung erheben sich aber schwerste Bedenken. (...) Da sie nicht in geordneten Verhältnissen lebt und mit ihrer ganzen Familie herumvagabundiert, ist nicht zu erwarten, die Angeklagte lasse sich durch die in der Verurteilung liegende Warnung vor weiterem Delinquieren abhalten. Der bedingte Strafvollzug ist der Angeklagten deshalb zu verweigern.»
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Anfang August 1976 reist die Familie Hussein mit fünf ihrer Kinder erneut in die Schweiz ein. Rasmieh Hussein wird verhaftet und – nachdem die in Abwesenheit Verurteilte nicht innert fünf Tagen ein ordentliches Verfahren beantragt hat, weil die arabisch sprechende Jordanierin den Paragraph 197 der zürcherischen Strafprozessordnung nicht versteht – am 6. August zum Strafvollzug ins Bezirksgefängnis Meilen eingewiesen. Sie wird von Gefängnisarzt Jürg Weisser für hafterstehungsfähig erklärt und wegen Asthma und leichter Bronchitis behandelt. Weil sie die Haft in einer Einzelzelle schlecht vertragen habe, wird sie am 12. August ins Frauengefängnis nach Hindelbank überführt. Dort bringt man sie auf der Erstmaligenabteilung unter. Am 17. August wird sie vom stellvertretenden Anstaltsarzt Werner König für arbeits- und hafterstehungsfähig erklärt; gegen die festgestellte Asthma-Bronchitis verordnet er Medikamente. Trotz Intervention des «Schweizerischen Beobachters», der zu finanziellen Garantien bereit wäre, weist die zürcherische Fremdenpolizei am 24. August den Ehemann Farrid Gamal Hussein und die fünf Kinder aus der Schweiz aus. Sie reisen via Hindelbank, wo die Anstaltsdirektion Zeuge des Abschieds wird. Rasmieh Hussein habe ihren Mann unter Tränen und Schreien gebeten, sie aus dem Gefängnis zu holen und zumindest seine und der Kinder Ausweisung bis zu ihrer Entlassung zu verhindern.
Am 24. und 31. August wird Rasmieh Hussein vom Anstaltsarzt Bernhard König untersucht. Der Arzt sieht keinen Grund einzugreifen, obschon die Frau von Asthmaanfällen, Angst- und Verlassenheitsgefühlen gequält wird. Ausser sich, so berichtet später eine Augenzeugin, sei sie schon am ersten Tag in Hindelbank einer Angestellten um den Hals gefallen, habe sich an diese wie eine Ertrinkende geklammert und fürchterlich geweint und geschrieen. Eine Mitgefangene: «Ich hörte die Frau in der Nacht oft in ihrer Zelle heulen und schreien. Auch tagsüber klagte sie oft über ihre Schmerzen. Für uns war es offensichtlich, dass sie unter schweren Schmerzen litt.» Auch der Anstaltspsychiater Benedikt Fontana begutachtet in diesen Tagen die jordanische Zigeunerin – ohne einzugreifen. Eine Mitgefangene: «Ich sah, dass die Frau Mühe hatte zu atmen. Oft hielt sie die eine Hand auf die Brust und schnappte nach Luft. Doch niemand von uns konnte mit ihr reden. Sie sprach nur ihre Sprache. Sie konnte uns nur mit Bewegungen und durch Schreien zu verstehen geben, dass es ihr sehr weh tat.»
Am 3. September wird die nicht in die Alltagsabläufe integrierbare Rasmieh Hussein von der Erstmaligen- in die Rückfälligenabteilung verlegt, was vermehrtes Alleinsein und Eingesperrtsein bedeutet. Angestellte hätten damals gesagt, dort werde ihr dann das Arbeiten schon beigebracht. (Nach Rasmieh Husseins Tod erhält diese Verlegung eine andere Begründung: Die Verlegung sei verfügt worden, «da hier die diensttuenden, mehrheitlich im Krankendienst ausgebildeten Diakonissen eine intensive pflegerische Betreuung gewährleisteten».) Rasmieh Hussein geht es schlechter. Dreimal fällt sie in Ohnmacht, einmal bei der Arbeit im Nähsaal, als eben eine gaffende Besuchergruppe durch den Raum geführt wird. In ihrer Zelle findet sie keine Ruhe; sie schreit, ruft, klopft an die Zellentüre. Mitgefangene beginnen, sich für die leidende Frau zu wehren: Sie solle ins Spital gebracht werden. Die Direktion winkt ab: Frau Hussein simuliere. Um die laut Klagende zum Schweigen zu bringen, holt sie Direktor Fritz Meyer am 9. September, nachdem sie in der Nacht zuvor unter schweren Asthmaanfällen gelitten hatte, aus ihrer Zelle und zeigt ihr das «Cachot», die gefürchtete Einzelzelle im Keller des Gefängnisses.
Letzte ordentliche Arztvisite am 7. September. Eine Gefangene: «Als sie zurückkam, sagte sie, sie sei völlig gesund und weinte und rief dauernd: 'Bocco malada, bocco malada'!» In ihrer Zelle schreit sie weiter, klopft an die Zellentür, Schwester Rösli R. empfiehlt den Mitgefangenen, sie sollten von aussen an Rasmieh Husseins Zelle poltern, dann werde sie schon aufhören. Am Donnerstag, 9. September, sagt Schwester R. zu Gefangenen, Frau Hussein bekomme jetzt eine Spritze, «dass wir anderen Ruhe hätten». Bereits am Montag hatte Schwester Martha P. vorsichtigerweise den Anstaltspsychiater Fontana, der zu dieser Zeit als Oberarzt in der Psychiatrischen Klinik Münsingen arbeitet, telefonisch um Rat gefragt. Sie wollte wissen, ob die Einnahme von Librium zu Rasmieh Husseins heftigen Reaktionen geführt habe. Der Psychiater verordnete daraufhin ohne Rückfrage mit Gefängnisarzt König, bei wachsender Aufregung von Frau Hussein solle das Librium durch Valium ersetzt werden, und wenn nötig solle man einen «Cocktail» verabreichen. Durchs Telefon diktierte er die Mischung: 50 Tropfen Largactyl (Neuroleptikum), 25 Tropfen Somnifen (Barbiturat), ein Esslöffel Phenergan (Antihistaminikum). Am Abend des 9. September, einem Donnerstag, mischt Schwester P. diesen «lytischen Cocktail» aus der Hausapotheke und verabreicht ihn der kranken Frau. Sie nimmt ihn und verbringt die Nacht ruhig. Am Freitagmorgen klagt sie über Schwindel. An diesem Tag bleibt sie der Arbeit fern. Am Abend bringen die Schwestern die erneut unruhig Gewordene in einen leeren Zellentrakt, wo keine Mitgefangenen gestört werden können: «Sie muss wieder fürchterlich geschrien haben, wir Gefangenen weigerten uns, in die Zellen zu gehen und nahmen das 'Cachot' in Kauf. Also holte man sie nach einer Stunde wieder. Frau Hussein fiel auf die Knie, küsste Schwester P. die Hände und Füsse und weinte furchtbar.» In ihrer Zelle wird ihr erneut die halbe Dosis des von Fontana verschriebenen «Cocktails» verabreicht. Schwester Vreni, die in dieser Nacht mehrmals an der Zellentüre horcht, stellt fest, dass die Eingesperrte «zwar hörbar, aber regelmässig und ruhig» atmet; gerufen oder sonstwie Lärm gemacht habe sie in dieser Nacht nicht. Am andern Morgen ist Rasmieh Hussein schläfrig, mag nicht aufstehen. Um 9 Uhr schaut Schwester R. in die Zelle: Die Gefangene liegt, atmet regelmässig, hörbar, mit leicht geöffnetem Mund. Beim nächsten Kontrollgang, um 10 Uhr 40, stellt sie den Tod von Rasmieh Hussein fest. Schwester R., die als Expertin für Asthmakranke gilt, erleidet einen Schock: Noch niemals sei jemand unter ihren Händen an Asthma gestorben. Sie verlangt die Obduktion der Leiche.
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Der Tod von Rasmieh Hussein wird öffentlich bekannt, weil in Zürich eine Journalistin den verzweifelten Farrid Gamal Hussein auf der Suche nach seiner verhafteten Frau trifft und den «Beobachter» informiert und weil verschiedene Hindelbanker Gefangene 'Cachot' und die Streichung eines Drittels der Strafzeit für gute Führung riskieren, indem sie mittels Kassibern die Öffentlichkeit über die Umstände von Rasmieh Husseins Tod informieren. Am 17. November 1976 richtet die bernische Grossrätin Ruth Hamm (SP) zum Todesfall in der Strafanstalt Hindelbank eine Anfrage an den Berner Regierungsrat, der in seiner Antwort vom 5. Januar 1977 die Ursache von Rasmieh Husseins Tod offiziell bekanntgibt: «Die Autopsie im gerichtsmedizinischen Institut (GMI) hat ergeben, dass Frau H. eines natürlichen Todes gestorben, das heisst an einem schweren Asthmaanfall erstickt ist.» Im Februar 1977 setzt in den Medien die kritische Berichterstattung ein. Gleichzeitig publizieren das «Tages-Anzeiger Magazin» (TAM 6/77) und der «Schwarzpeter» (Nr. 30) ausführliche Darstellungen, die die Augenzeugenberichte der Mitgefangenen berücksichtigen. Der Hindelbanker Anstaltsdirektor und seine Anstaltsärzte reagieren prompt: Weil sie durch Verunglimpfungen in ihrer Ehre angegriffen worden seien, verlangen sie mit Schreiben vom 1. März an die kantonale Polizeidirektion eine Untersuchung durch eine neutrale Kommission. Verblüffend schnell, am 11. März, nimmt eine Untersuchungskommission, bestehend aus Theodor Jenzer, Generalprokurator des Kantons Bern, Robert Nyffeler, Regierungsstatthalter, Werner Straub, Chefarzt der medizinischen Klinik des Inselspitals, und Franz Moggi, Gefängnisinspektor des Kantons Bern, ihre Arbeit auf. Bereits am 20. April liegt der 16seitige Bericht dieser Untersuchungskommission vor. Sein Herzstück ist das Gutachten des medizinischen Experten der Kommission. Straub gelangt zu überraschender Erkenntnis. Er entdeckt eine neue Todesursache: «Frau Hussein ist nicht an Asthma erstickt, sie ist auch nicht an dessen Behandlung gestorben noch an der Kombination von Asthma mit den zur Behandlung verwendeten Asthmamitteln und Sedativa. Vermutlich wurde der Tod durch eine Herzrhythmusstörung verursacht, bei vorbestehender schwerer Schädigung des Herzens infolge chronischem Asthma und Arteriosklerose.»
Nach dem Willen des Berner Regierungsrates gilt dieser Kommissionsbericht als Anwort auf eine zweite, detailliertere Anfrage der Grossrätin Hamm vom 16. Februar 1977. Bei der Behandlung des Berichts im Grossen Rat wird am 10. Mai die Diskussion verlangt. Der Arzt und Grossrat Kurt Kipfer (SP) kritisiert den Bericht, er enthalte «Quasi-Gutachten». In der Tat dokumentiert der Kommissionsbericht lediglich Ausschnitte aus dem GMI-Obduktionsbericht und dem Gutachten von Straub; die entscheidenden Obduktionsbefunde von Lunge und Herz werden vorenthalten wegen «Geheimhaltungspflicht der behandelnden Ärzte». Kipfers kritisches Votum wird vom Polizeidirektor Robert Bauder unter den Tisch gewischt: «Ich möchte hier erklären, dass die Polizeidirektion und der Regierungsrat den drei Herren, die eine Untersuchung gegen sich selber beantragt haben – nämlich Herr Doktor König, Doktor Fontana und Direktor Meyer –, das Vertrauen aussprechen und ihnen attestieren, dass aus ihrem Gesichtswinkel die drei Herren das getan haben – ja noch mehr –, wozu sie durch ihre Stellung und menschlich verpflichtet waren.»
Am 23. März 1977 reicht im Namen von Farrid Gamal Hussein der Zürcher Rechtsanwalt Moritz Leuenberger beim Untersuchungsrichteramt Burdorf eine Privatstrafklage gegen Unbekannt betreffend fahrlässiger Tötung von Rasmieh Hussein ein. Im Rahmen der Voruntersuchung wird dem Chefarzt der medizinischen Abteilung des Spitals Neumünster in Zürich, Hans Zollikofer, als neutralem Gutachter unter anderem die Frage vorgelegt, ob die Verabreichung des lytischen Cocktails «bei der damaligen Beurteilung der Situation nach den Regeln der medizinischen Kunst vertretbar» gewesen sei. Zollikofer bejaht diese Frage in seinem Gutachten. Die Voruntersuchung verläuft ergebnislos. Am 30. März 1979 wird das Verfahren eingestellt.
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Bei jenen, die sich damals für die Wahrheit im Fall Hussein eingesetzt haben, bleibt ein Misstrauen zurück: Zwar gibt es ein «schuldiges» System – der undurchschaubar verfilzte Apparat von Justiz, Strafvollzug, Medizin und Politik –, aber darin arbeiten lauter ehrenwerte Funktionäre, die tun, «wozu sie durch ihre Stellung und menschlich verpflichtet waren» (Bauder). Resigniert kommentiert Leuenberger die Einstellung des Verfahrens wegen fahrlässiger Tötung: «Schuldig können nach unserem Strafrecht nur einzelne Personen sein. Nicht aber die Justiz als Ganzes, die an Frau Hussein zwar fahrlässig, aber ganz legal die Todesstrafe vollzog.» («Beobachter», 10/79)
Seit Anfang 1988 steht nun in der Berner Stadt- und Universitätsbibliothek unter der Signatur Med. var. Q 4751 frei ausleihbar die medizinische Dissertation von Ruth Morgenthaler-Jörin zum Thema «Todesfälle im Zusammenhang mit ärztlichen Massnahmen. Aus der Gutachterpraxis des Gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Bern (Berichtszeit 1968-1984)». Darin wird als Fall 30 anonymisiert der Todesfall einer «asthmakranken Patientin» erörtert, «die der 'Beobachter' sofort wiedererkannte: Rasmieh Hussein». («Beobachter» 1/88)
In ihrer Darstellung der medizinischen Aspekte des Falls Hussein referiert Morgenthaler-Jörin den «Obduktionsbefund» (S. 140/145). Darin ist nebst den klassischen Zeichen eines chronischen Asthmas bronchiale Verstopfung «der kleinen und grossen Bronchien mit zähem, (...) zum Teil eitrigem Schleim, ein akutes Obstruktionsemphysem, fokale Atelektasen und ein fokales hämorrhagisches Lungenödem» diagnostiziert. Morgenthaler-Jörin hält als Todesursache einen «akuten sog. Asthmatod» bzw. Ersticken wegen der mit Schleim verstopften Atemwege («Asphyxie bei schleimbedingter Obturation der Bronchien») fest.
Heute, zwölf Jahre nach ihrem Tod, steht unzweifelhaft fest: Rasmieh Hussein ist in Hindelbank den Asthmatod gestorben, obschon dieser Tod bei medizinischer Betreuung höchst unwahrscheinlich ist. Warum starb aber Rasmieh Hussein an Asthma, wenn sie doch betreut wurde? Warum wurde zuerst die wirkliche Todesursache veröffentlicht, später eine den Sachverhalt verschleiernde? Aufgrund der nun wissenschaftlich gesicherten Todesursache muss die Geschichte von Rasmieh Husseins Tod in Hindelbank neu erzählt werden.
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Zur medizinischen Betreuung von Rasmieh Hussein in Hindelbank hält der Bericht der Untersuchungskommission vom 20. April 1977 unter anderem fest: «Neben den Anstaltsärzten bemühte sich auch der Anstaltspsychiater [Benedikt Fontana, fl.] um Frau Hussein, indem er zusätzlich Informationen beim Gefängnisarzt in Meilen einholte (...).» Da im gleichen Bericht festgehalten wird, dass die Kranke bereits in Meilen wegen «Asthmas und einer leichten Bronchitis» behandelt worden sei, kann als sicher gelten, dass Fontana über die Asthmakrankheit von Rasmieh Hussein informiert war. Trotzdem verordnete er, ohne Rücksprache mit Anstaltsarzt König, ohne die Patientin genau untersucht und ohne eine engmaschige Überwachung in bezug auf Blutdruck, Atmung und Puls veranlasst zu haben, am Telefon einen «lytischen Cocktail», der der Patientin zweimal, etwa 40 resp. etwa 15 Stunden vor ihrem Tod verabreicht wurde.
In der Psychiatrie werden «lytische Cocktails» im Sinne einer «pharmakologischen Leukotomie» für sogenannte Schlafkuren verwendet. Dass der Gefängnispsychiater Fontana eine «Schlafkur» verordnete, verweist auf seine mutmassliche Diagnose: Offenbar schätzte er Rasmieh Husseins Leiden als ein psychisches und nicht als ein organisches ein. Mag sein, er vermutete wie Gefängnisdirektor Meyer, dass Simulation eine Rolle spiele, umso mehr als er in der Psychiatrischen Klinik Münsingen wenig zimperlich über die jordanische Zigeunerin urteilte. Er beschrieb sie «als schwer vernachlässigte und verwahrloste Frau (...), die zudem einen eher debilen Eindruck mache» (TAM 6/77). Fontana hat Rasmieh Hussein deshalb gegen ihre angebliche Überreiztheit behandelt; dass «lytische Cocktails» atemdepressiv wirken, also die Atmung erschweren und eine konstante medizinische Überwachung erfordern, muss er übersehen haben. Ebensowenig kam Fontana auf die Idee, dass Rasmieh Hussein wegen der schweren Asthmaanfälle unter heftigen Angstzuständen litt und deshalb sofort eine intensive Asthmatherapie gebraucht hätte und keine psychiatrische Sedierung. Morgenthaler-Jörin: «In der Psychiatrie darf (...) die Indikation für eine 'Cocktail lytique'-Schlafkur erst nach eingehender körperlicher Untersuchung gestellt werden, und Patienten mit chronischen Lungenaffektionen, z.B. chronischem Asthma bronchiale, müssen ausgeschlossen werden. (...) Bei Verdacht auf eine eingeschränkte Lungenfunktion (...) muss bei unvorsichtiger Dosierung atemdepressiver Medikamente und mangelhafter Überwachung mit lebensbedrohlichen Komplikationen gerechnet werden.» (S. 147)
Die telefonische Anordnung des Anstaltspsychiaters Benedikt Fontana, der Asthmatikerin Hussein einen «lytischen Cocktail» zu verabreichen, wenn sie sonst nicht zu beruhigen sei, verstösst gegen die ärztlichen Sorgfaltspflichten und hatte tödliche Folgen; sie erfüllt nach dem Strafgesetzbuch zumindest objektiv den Tatbestand der fahrlässigen Tötung/
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Rasmieh Husseins Tod fällt in eine Zeit, in der die Öffentlichkeit durch die kontinuierliche Knastarbeit der ASTRA mit ihrer Zeitung «Schwarzpeter» zunehmend sensiblisiert wird für die schlimmen Zustände gerade auch im Frauengefängnis Hindelbank. Dass das offizielle Eingeständnis eines derart kapitalen Fehlers, wie ihn Fontana – seines Zeichens damals auch «Psychiater des bern. Straf- und Massnahmenvollzugs» – begangen hat, der Kritik am Strafvollzug weiter Auftrieb gegeben hätte, liegt auf der Hand. Darum musste Fontana offenbar gedeckt werden. Ausgerechnet in dieser Situation passiert dem kantonalen Polizeidirektor Bauder der nicht erklärbare Lapsus, dass er auf die Anfrage Hamm vor dem Grossen Rat die wirkliche Ursache von Rasmieh Husseins Tod offiziell bekanntgibt («an einem schweren Asthmaanfall erstickt»), was der hochbrisanten Frage Raum lässt: Warum stirbt jemand unter ärztlicher Kontrolle an Asthma?
Einen Monat später, im Februar 1977, spitzt sich die Lage zu. Die ersten kritischen Zeitungsartikel erscheinen. Im TAM zitieren Ruth Hamm und Mariella Mehr einen Arzt, der angibt, «dass Asthmakranke, falls man ihnen Beruhigungsspritzen gebe, in jedem Fall viertelstündlich kontrolliert werden müssen. Beruhigungsmittel hätten oft eine lähmende Wirkung auf die ohnehin reduzierte Lungentätigkeit und führten im schlimmsten Fall zu einer CO2-Vergiftung, die sich vor allem in einem übermässigen Schlafbedürfnis äussere und dann unweigerlich zum Tod führe.» Jetzt kriegt man es in Hindelbank mit der Angst zu tun: Die Todesursache Asthma muss weg!
Mit dem Argument, sie seien durch die Presseberichte «in ihrer Ehre angegriffen» worden, verlangen Fontana, König und Meyer zwei Wochen später eine Untersuchung gegen sich selber. Innert anderthalb Monaten erhalten sie daraufhin von der mit höchster kantonaler Prominenz besetzten und wohl gerade deshalb «neutralen Kommission» genau das, was sie unbedingt brauchen, um aus dem Schussfeld zu kommen: eine neue, unverfängliche Todesursache. Sie lautet auf «Herzrhythmusstörung bei vorbestehender schwerer Schädigung des Herzens infolge chronischem Asthma auf Arteriosklerose». Diesem Gutachten des «neutralen ärztlichen Experten» Straub komme «vorrangige Bedeutung» zu, hält der Kommissionsbericht vom 20.4.1977 fest. Trotzdem wird der Obduktionsbericht dem Grossen Rat gegenüber nur auszugsweise offengelegt, und zwar, weil er eine Reihe von Angaben enthalte, «die von den behandelnden Ärzten gemacht wurden und die unter den Schutz des Arztgeheimnisses fallen und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind».
Obschon Straub den Obduktionsbericht gelesen haben muss, dementiert er explizit die bis dahin offizielle Todesursache: «Es konnte mit Sicherheit der Tod an asthmatischem Ersticken ausgeschlossen werden. (...) Die medizinische Betreuung und Behandlung in Hindelbank war korrekt, in verschiedener Beziehung sogar aussergewöhnlich gut und menschlich einwandfrei.» Aufgrund von Straubs Gutachten kommt die Untersuchungskommission zu folgendem «zusammenfassenden Ergebnis»: «(...) Die Kommission stellt einhellig fest, dass der Tod der inhaftierten Frau Hussein in den Anstalten von Hindelbank nicht auf Kunstfehler oder menschliches Versagen der Ärzte (...) zurückzuführen ist, sondern die Folge einer schweren, progredienten Erkrankung war (...).» Mit dieser Formulierung ist im Frühling 1977 ein grösserer politischer Skandal unterdrückt und nebenbei ein empfindlicher Knick in Doktor Benedikt Fontanas Karriere als Psychiater verhindert worden.
LdU-Nationalrat Paul Günter, der als Chefarzt für Anästhesie am Regionalspital in Interlaken arbeitet und 1977 die Diskussion um Rasmieh Husseins Tod als Grossrat mitverfolgt hat, kommentiert heute gegenüber der WoZ: «Ich habe mich schon damals gewundert über die Wortwahl des Gutachtens Straub. Herzrhythmusstörungen gibt es immer, wenn jemand stirbt. Straubs Formulierung suggeriert, diese Störungen könnten losgelöst von der Krankheitssituation der Patientin betrachtet werden. Frau Hussein ist nach der Behandlung mit einem Barbiturat gestorben. Dass Barbiturate wegen der Dämpfung des Atemzentrums bei Asthmakranken kontraindiziert sind, gehört zum medizinischen Basiswissen. Barbiturate können Asthmaanfälle auslösen oder verstärken; die Folgen sind CO2-Narkose, Sauerstoffmangel und Tod. – Das Gutachten Straub hat – möglicherweise bewusst – der Regierung dazu gedient, sagen zu können, Frau Hussein sei nicht an einem Asthmaanfall gestorben. Diese Aussage ist nach meiner tiefsten Überzeugung objektiv falsch.»
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Auf Empfehlung des GMI in Bern beauftragt der Burgdorfer Untersuchungsrichter Fabio Righetti im Rahmen der Privatstrafklage von Farrid Gamal Hussein Anfang Oktober 1978 den Chefarzt der medizinischen Abteilung am Spital Neumünster, Hans Zollikofer, mit einem Gutachten. Von entscheidender Bedeutung sind darin Zollikofers Ausführungen zur Frage, ob die Verabreichung von «lytischen Cocktails» an Rasmieh Hussein «bei der damaligen Beurteilung der Situation nach den Regeln der medizinischen Kunst vertretbar» gewesen sei. Zollikofer bejaht. Er stützt sich dabei vor allem auf ein schwer zugängliches französisches Fachbuch (H. Laborit et P. Huguenard: Pratique de l'hibernothérapie», Paris 1954), auf das er mehrmals verweist. Unter anderem hebt er die Seite 194 hervor, unterschlägt aber, dass dort in bezug auf die psychiatrische Anwendung von «lytischen Cocktails» steht: «Bei der Indikation 'Schlafkur' muss der Kranke klinisch sorfältig untersucht werden. Namentlich und im speziellen untersuche man den kardiovaskulären Apparat, Nieren, Bronchien und Lungen.» Auszuschliessen seien «Fälle von chronischer Bronchitis, Bronchektasie und Tuberkulose.» Unmittelbar anschliessend an den Verweis auf diese Seite 194 zieht Zollikofer für Rasmieh Hussein – der trotz des diagnostizierten chronischen Asthma bronchiale «lytische Cocktails» ohne jede Untersuchung telefonisch verordnet worden sind – folgenden Schluss: «Es ist deshalb kaum vorstellbar, dass die zweite, verminderte Cocktaildosis mit dem etwa 14 Stunden später erfolgten Tod der Patientin in direkten kausalen Zusammenhang gebracht werden kann, umso weniger, als die mehr als doppelte Dosis (vermehrt um 50 mg Somnifen) des Vortages komplikationslos ertragen wurde.» Unter Berufung auf Fachliteratur aus den fünfziger Jahren hat Zollikofer genau das Gegenteil dessen behauptet, was die Autoren des Textes aussagten. Es ist im Rahmen der Strafuntersuchung versäumt worden, Zollikofers Argumentation anhand seiner Quellen zu überprüfen. Sein Gutachten blieb unhinterfragt und hat massgeblich dazu beigetragen, dass das Verfahren Ende März 1979 eingestellt wurde.
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«Fahrlässige Tötung» (StGB Art. 117) verjährt nach fünf Jahren, «Falsches Gutachten» (StGB Art. 307) – ein Verbrechen – nach zehn. Zollikofers Gutachten als das jüngere datiert vom 24.11.1978. – Hans Zollikofer ist heute pensioniert und lebt in Zürich. Werner Straub amtet nach wie vor als Direktor der Medizinischen Klinik am Inselspital in Bern sowie als autoritär polemisierender und deshalb schon bestreikter Professor an der Universität Bern. Benedikt Fontana ist nach dem Tod von Rasmieh Hussein schnell aus dem Kanton Bern verschwunden: Mitte April 1977 wurde er – welch wundersame zeitliche Koinzidenz! – zum Direktor der Klinik Waldhaus in Chur gewählt.
Über eine Kontaktadresse in Venedig ist es damals, Mitte September 1976, der jordanischen Botschaft gelungen, Farrid Gamal Hussein vom Tod seiner Frau in Kenntnis zu setzen. Mit einer speziellen Einreisebewilligung der Fremdenpolizei reiste er nach Bern und traf dort, wie berichtet wird, als «gebrochener Mann» ein. Die Wartezeit, bis die Leiche seiner Frau freigegeben wurde, verbrachte er vor allem in einem Vorraum der jordanischen Botschaft. Sein Wunsch war, Rasmieh Hussein unter Berücksichtigung der mohammedanischen Riten in Heimaterde bestatten zu können. Die jordanische Botschaft lieh ihm für die Überführung der Leiche 6000 Franken, die er, von der Fremdenpolizei öffentlich als Wechselgeldbetrüger tituliert, innert weniger Tage zurückzahlte. Rasmieh Hussein liegt in der Nähe von Amman begraben.
Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 79-91. (Dokumentiert wird die Buchversion.)