Vertrieben. Verfolgt. Zwangsintegriert.

Die Herkunft der Fahrenden, der Minderheit des jenischen Volks in der Schweiz, verliert sich im Dunkel: Ist dieses Volk nicht älter als alle schriftlichen Aufzeichnungen? Sind die Jenischen nicht illegitime Abkömmlinge jener Roma-Stämme, deren Sprache auf das Sanskrit zurückgeht und deren Herkunft in Nordwestindien vermutet wird? Oder sind sie am Ende Nachfahren jener prähistorischen nomadischen Grundschicht der schweizerischen Gesellschaft, die es vermutlich zu allen Zeiten gegeben hat? Das Nachdenken über die Herkunft dieser kulturell exotischen und gesellschaftlich unterdrückten Minderheit ist immer auch eine Einladung zu mythologisierender Spekulation, deren Manko nicht darin besteht, dass ihr mangels historischer Belegbarkeit von vornherein jede Plausibilität abzusprechen wäre – ihr Nachteil ist, dass sie die historisch belegbare Verantwortung der Sesshaften für die strukturelle Produktion von Nichtsesshaftigkeit in der Schweiz ignoriert.

Das Heimatlosengesetz von 1850

Als sich die Schweiz 1848 mit der Gründung des Bundesstaats eine Verfassung gab, war ihr die Lösung der so genannten Heimatlosenfrage ein derart vordringliches Problem, dass sie ihr einen eigenen Verfassungsartikel widmete: «Die Ausmittlung von Bürgerrechten für Heimatlose und die Massregeln zur Verhinderung der Entstehung neuer Heimatloser sind Gegenstand der Bundesgesetzgebung.» Am 3. Dezember 1850 trat, gestützt auf diesen Artikel, ein Heimatlosengesetz in Kraft. Damit wurde die Sesshaftmachung der Fahrenden zur Bundessache. Was den bis anhin als souveräne Staaten funktionierenden Kantonen nicht gelungen war, wurde dem neu geschaffenen Justiz- und Polizeidepartement, dem «Generalanwalt» und dessen Sekretär übertragen: Einerseits sollte die nichtsesshafte Minderheit der Bevölkerung rechtlich integriert, andererseits sollten durch kulturelle und soziale Assimilation die fahrenden Lebensformen zum Verschwinden gebracht werden – wobei dem Bundesrat klar war, dass für eine solche Assimilation die Zerstörung der sozialen Netze der Nichtsesshaften eine Voraussetzung sein würde.

Die neue Bundesverwaltung machte sich an die Umsetzung dieser Doppelstrategie und begann mit der «Concentration der Heimathlosen in Bern». Ab 1852 wurden vagierende Familien und Einzelpersonen aus den Kantonen dem Bund zugeführt und vor allem in Bern, zeitweise auch in Aarau und Zürich interniert, nach neusten erkennungsdienstlichen Methoden (nämlich mit der Fotografie) erfasst und verhört – wenn nötig mit Gegenüberstellungen, Kreuzverhören, Dunkelarrest und unter Beizug von Spitzeln und Denunzianten. Herausfinden wollte man, wo die betreffende Person herkam und allenfalls noch gültige Heimatrechte besass. Waren solche nicht zu ermitteln, wurde nach weiteren Kriterien geforscht, die es ermöglichten, sie einem bestimmten Kanton zur Einbürgerung in einer Gemeinde zuzuweisen. Unterschieden wurden die Internierten in «Geduldete oder Angehörige, das heisst solche, welche bis anhin in dieser Eigenschaft von einem Kanton anerkannt wurden» und «Vaganten». Konnte eine ausländische Herkunft nachgewiesen werden, wurde die Person ungeachtet ihrer familiären Verhältnisse ausgeschafft. Soziale Verbände und nicht legalisierte partnerschaftliche Beziehungen wurden auch dann auseinander gerissen, wenn unterschiedliche Kantonszugehörigkeiten nachgewiesen werden konnten.

Fragmente einer untergegangenen Kultur

Was von dieser Staatsaktion, von der bis 1872 25000 bis 30000 Personen erfasst worden sind, heute noch vorhanden ist, ist der umfangreiche Quellenkorpus «Heimatlose» im schweizerischen Bundesarchiv in Bern: Abschriften von Verhörprotokollen, summarische Zusammenfassungen von Aussagen, Zeugenberichte, Abschriften und Originale von Geburts-, Tauf-, Sterbe- und Heiratsurkunden, Reisepässe, Duldungs- und Heimatscheine usw. Dieses Quellenmaterial war der Ausgangspunkt für die beiden Berner Historiker Thomas Dominik Meier und Rolf Wolfensberger bei ihrer Erforschung der Geschichte der Heimatlosen und Nichtsesshaften in der Schweiz zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert.

Anhand dieses Materials haben sie die Kultur der damaligen Fahrenden rekonstruiert: Unter dem Titel «Die Ökonomie fahrender Praxis» werden die spezifischen Charakteristiken einer fahrenden Subsistenzökonomie skizziert. Im Ergebnis bestätigt sich das Theorem, dass Subsistenzökonomien stets gleichermassen ökonomisch und kulturell definiert werden müssen: «Die Strategien fahrender Praxis zielten darauf, nicht nur die ökonomischen, sondern auch die sozialen Ressourcen zu schonen und dadurch existentielle Risiken zu vermindern.»

In der  «Topographie des Fahrens» rekonstruieren die beiden Historiker aufgrund der protokollierten Aussagen die Wege, die die Nichtsesshaften gewohnheitsmässig bereisten. Klar wird, dass «Reiserouten und Lagerplätze [...] die symbolischen Fäden und Knoten des gesellschaftlichen Netzwerks der fahrenden Bevölkerungsgruppen» bildeten. Klar wird aber auch ein spezifischer Umgang der Nichtsesshaften mit dem Raum, der sich von jenem der Sesshaften fundamental unterscheidet: «Vom Raumkonzept der Sesshaften her betrachtet, leben die Fahrenden nicht am Rande der Gesellschaft, sondern in deren Zwischenräumen, in den ausgelassenen Leerstellen, den Un-Orten. Ihre Abwesenheit im sozialen und physischen Raum macht sie aber auch gleichzeitig zu Un-Wesen in einer Art mobilem Getto.»

Ihre familialen Netze und sozialen Strukturen wurden geprägt durch die Tatsache, dass Heimatlosigkeit, Nichtsesshaftigkeit oder Besitzlosigkeit legale Heiraten ausschlossen und daher die fahrende Minderheit als Ganzes aus der Sicht der Sesshaften eine «Tendenz zur Illegitimität» hatte: Die Kriminalisierung von Fahrenden begann mit ihrer Geburt. Deshalb genügte für das Überleben auf der Strasse die Zweierbeziehung nicht, entscheidend war «das aktive beziehungsweise aktivierbare Netz an Sozialbeziehungen an sich».

Den beiden Historikern gelingt eine analytisch plausible, mit vielen Fallbeispielen belegte Darstellung der Lebensverhältnisse der damaligen Fahrenden, die sie allerdings selber relativieren durch ihre Quellenkritik am einseitig staatlichen Aktenmaterial, das zu repressiven Zwecken angelegt wurde. Es muss deshalb bei der fragmentarischen Annäherung an eine untergegangene Kultur bleiben.

Der Mythos vom jenischen Volk

In dieser Annäherung wird interessanterweise nicht ein damals noch halbwegs intaktes, homogenes jenisches Volk rekonstruiert, sondern seine Behauptung als Mythos entlarvt. Aufgrund der Akten, schreiben die Autoren, hätten sich keine Hinweise ergeben auf die «Existenz einer auch ethnisch definierbaren fahrenden Bevölkerungsgruppe von Jenischen bereits im 18. Jahrhundert». Daraus folgern sie, «die im Ansatz erkennbare Homogenisierung der fahrenden Kultur zur Kultur der Jenischen» müsse «in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Parallelprozess zur Homogenisierung der bürgerlichen Kultur der Sesshaftigkeit» gesehen werden: «Die jenische und die bürgerliche Kultur haben somit als aufeinander bezogene Vergesellschaftungsprozesse dieselbe Geburtsstunde.»

Wenn das so ist, woher kommen denn dann die «Jenischen», die Nichtsesshaften dieses Landes mit ihren meist merkwürdig schweizerisch klingenden Namen? Dieser Frage haben die beiden Historiker den ersten Teil ihrer Abhandlung gewidmet, und ihre Antwort ist eindeutig. Seit dem 16. Jahrhundert entstand Nichtsesshaftigkeit durch die Vertreibung von sesshaften Leuten aus rechtlichen und politischen Gründen:

1. Armut. Seit der frühen Neuzeit machten die Kantone die Gemeinden vermehrt für die Versorgung ihrer armen Gemeindeangehörigen verantwortlich. Dies hatte zur Folge, dass die Armen tendenziell vom Bürgerrecht und damit von kollektiven Nutzungen und vom Recht auf Armenunterstützung ausgeschlossen wurden. Waren Arme aus so erzwungener Nichtsesshaftigkeit erst einmal längere Zeit ortsabwesend, so wurde ihnen von Fall zu Fall das Heimatrecht aberkannt: «Armut zwingt zu Nichtsesshaftigkeit, diese wiederum verunmöglicht in letzter Konsequenz die Rückkehr an den Heimatort und kann Heimatlosigkeit verursachen.» Ein Teufelskreis.

2. Kriminalisierung. Eine ganze Reihe von Delikten konnte zur «verlierung des vatterlands», also zum Entzug des Bürgerrechts führen: die Konversion zwischen katholischem und reformiertem Glauben, überkonfessionelle oder aus armenrechtlichen Gründen nicht anerkannte Heiraten, Unehelichkeit, Flucht vor militärischer Dienstpflicht, dazu Inzest, Bigamie, Ehebruch usw.

3. «Vermannung» des Heimatrechts. Frauen verloren ihr Heimatrecht dann, wenn ihre Heirat nicht anerkannt wurde, wenn ihr Mann selbst kein Heimatrecht besass oder wenn seine Heimatgemeinde die Anerkennung der Frau verweigerte – weil sie zum Beispiel das verlangte Einzugsgeld nicht aufbringen konnte.

Bis zur Helvetik produzierten so die rechtlichen und politischen Strukturen der Kantone jene Heimatlosigkeit – und damit häufig Nichtsesshaftigkeit –, gegen die seit dem frühen 19. Jahrhundert rechtliche und politische Massnahmen ergriffen wurden, die zur Zwangsintegration und Zwangsassimilation der Nichtsesshaftigkeit führen sollten.

Die Geschichte der Kindswegnahmen

Seit dem frühen 19. Jahrhundert gab es in der Schweiz philantropische Vereinigungen, die sich der Heimatlosenfrage annahmen. Ihr Interesse an den Nichtsesshaften bestand aus einer Mischung von Empathie gegenüber dem Elend dieser aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestossenen Menschen, Furcht vor ihrer die bürgerlichen Werte und Normen negierenden Lebensweise und dem Willen, diese Lebensweise zu zerstören. Ihr Hauptinteresse galt dabei den noch erziehungs- und bildungsfähigsten Vagierenden, also den Kindern. Seit damals wurde deshalb in der Schweiz versucht, mit Kindswegnahmen – durch «Verpflanzen» der Kinder in «gesundes Erdreich» – das «Übel» der nichtsesshaften Lebensweise nach und nach auszurotten.

Folgerichtig kommt die Abhandlung zum Schluss, dass das vieldiskutierte Pro Juventute-«Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» (1926-1973) seine Wurzeln in Bezug auf Methoden und Massnahmen, aber auch im diskursiven Bereich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe: «Obwohl einzelne Exponenten und Theoretiker des Hilfswerks aktiv an jenem ideologischen Diskurs teilnahmen, der dem Nationalsozialismus die Grundlagen seiner rassistischen und eugenischen Bevölkerungspolitik lieferte, stand die Tätigkeit des Hilfswerks für eine zeitlich viel weiter zurückliegende, genuin bürgerliche Praxis im Umgang mit Devianz. Diese Praxis formierte sich zu einem Zeitpunkt, in dem das Bürgertum seinen gesellschaftlichen Hegemonieanspruch durchzusetzen begann und sich die entsprechenden Instrumente schuf, die diesem Zweck dienlich sein sollten.»

Aus der nun publizierten umfassenden Doktorarbeit von Thomas Dominik Meier und Rolf Wolfensberger – die in ihrem Bereich zweifellos als Standardwerk gelten darf – ist für die Diskussion um das Verhältnis zwischen Sesshaften und Fahrenden in diesem Jahrhundert zu lernen, dass die bis 1973 praktizierte Zwangsassimilation als Lösung des Jenischenproblems nicht von präfaschistischem Gedankengut initiiert, sondern 1848 im Artikel 56 der Bundesverfassung festgeschrieben worden ist.

Thomas Dominik Meier / Rolf Wolfensberger: Eine Heimat und doch keine. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16.-19. Jahrhundert). Zürich (Chronos Verlag). 1998.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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