Disziplinierung der Nicht-Konformen

Erschienen ist die Untersuchung, die der Zürcher Geschichtsprofessor Roger Sablonier mit seinen zwei Mitarbeitern Thomas Meier und Walter Leimgruber im Auftrag des Eidgenössischen Departements des Innern verfasst hat, als «Bundesarchiv Dossier 9» [Download hier, fl.]. Die Publikation ist billig (15 Franken), materialreich (260 Seiten im A4-Format) und bei weitem das Substanziellste, was zu diesem fürsorgerischen Skandal bisher veröffentlicht worden ist. Dass die zuständige Bundesrätin Ruth Dreifuss ein Geleitwort beisteuerte, ehrt die Eidgenossenschaft mit Sicherheit mehr als die Tatsache, dass das Parlament dem «Hilfswerk» zwischen 1930 und 1966 Subventionen zukommen liess. Die Studie wird ergänzt mit bibliographischen Angaben und einem Anhang von gut 70 Seiten, auf denen der Öffentlichkeit erstmals einige jener Aktenstücke zugänglich werden, die unter der Signatur J II 187 in einem separaten Raum des Bundesarchivs eingeschlossen sind und dort exakt 36,2 Laufmeter belegen.

Die Eckdaten sind bekannt: Zwischen 1926 und 1973 hat das «Hilfswerk» als kaum kontrollierte Abteilung der «Stiftung für die Jugend» Pro Juventute weit über sechshundert Kinder von Fahrenden ihren Eltern weggenommen und einer unmenschlichen Umerziehung zur Sesshaftigkeit unterworfen. Die genaue Zahl der Betroffenen ist auch nach der vorliegenden Studie unklar: Von den 619 Dossiers im Bundesarchiv, die Fälle aus 24 Kantonen dokumentieren ((fast 44 Prozent aus dem Kanton Graubünden), betreffen nämlich 79 nicht Einzelpersonen, sondern ganze Familien. Die seit Jahren kolportierte Zahl von 619 «Hilfswerk»-Opfern wird deshalb bei systematischer Untersuchung der 79 Familiendossiers noch um einiges nach oben korrigiert werden müssen.

Damit ist gesagt: Die mit lediglich gut 60000 Franken dotierte Studie behandelt das Thema nicht abschliessend. Die Autoren schreiben: «Der jetzt vorliegende Bericht ist als ein erster, in vielen Teilen fragmentarischer Überblick zu verstehen, der unserer Meinung nach die Problematik aber immerhin klar umreisst.» Die Studie teilt sich auf in die Beschreibung des Quellenmaterials im Bundesarchiv, eine Skizzierung der Geschichte des «Hilfswerks», die chronologische Darstellung eines Einzelfalls und die Würdigung der Rollen, die die Pro Juventute, der Bund, die Kantone und die Gemeinden gespielt haben. Der abschliessende Teil steht unter dem Titel «Bilanz und Massnahmen».

Die wissenschaftliche Würdigung der «Hilfswerk»-Aktivitäten ist eindeutig: Es ging nicht um karitative Ziele. Die Absicht sei vielmehr «eine klar ordnungs- und sozialpolitische» gewesen, «nämlich die Gesellschaft zu befreien vom ‘Übel’ der als minderwertig betrachteten umherziehenden Familien und Sippen». Es ging um die «Eingliederung bzw. Disziplinierung der ‘Nichtfassbaren’, der mit bürgerlichen Familien- und Arbeitsvorstellungen Nicht-Konformen, der Ausserhalb-der-Normen-Stehenden in den schweizerischen, bürgerlichen Staat mit seinen Idealen von Arbeitsfleiss, Bescheidenheit, Gehorsam und Familiensinn». Deshalb wurden «unter dem Mantel der Fürsorge und der Nächstenliebe […] das Leben einzelner Menschen auf schwerste Weise beeinträchtigt und zerstört, viele Familien wurden systematisch auseinandergerissen».

Auch in Bezug auf die Frage nach den Verantwortlichkeiten für dieses «Hilfswerk» weist die Sablonier-Studie den Weg: «Die stereotype Berufung auf den so genannten ‘Zeitgeist’ darf nicht dazu herhalten, individuelle Vergehen gegen Recht und Menschenwürde zu rechtfertigen und eine erhebliche Mitschuld einzelner Individuen, Gruppen und Organisationen zu verschleiern.»

Verantwortung zu übernehmen hat, so wird ausgeführt, erstens der Bund, der das «Hilfswerk» durch einen im Anhang der Studie erstmals dokumentierten, verhängnisvollen Brief des damaligen Bundesrats Giuseppe Motta im Jahr 1923 recht eigentlich initiierte und später die «Hilfswerk»-Machenschaften als quasi-staatliche Massnahmen legitimierte durch Subventionierung und regelmässige Beschickung des Pro-Juventute-Stiftungsrats mit aktiven und ehemaligen Bundesräten. Verantwortung zu übernehmen haben zweitens die Kantone und Gemeinden, die ihre «Vaganten» dank des «Hilfswerks» effizient und billig loswurden und es dafür im Rahmen von Vormundschafts- und Fürsorgemassnahmen mitfinanzierten. Verantwortung zu übernehmen hat drittens die Pro Juventute, die auf die Arbeit des «Hilfswerk»-Leiters Alfred Siegfried – die Studie charakterisiert ihn als «manchmal autoritär, manchmal heuchlerisch, geltungssüchtig und zynisch» – jederzeit stolz war und nach dessen Pensionierung 1959 Clara Reust als Nachfolgerin einsetzte, die im gleichen Geist weiterzuwirken versuchte. Dem auch in der WoZ schon erhobenen Vorwurf, das «Hilfswerk» habe nationalsozialistisches Gedankengut umgesetzt, stellt die Studie eine kluge, differenzierte Argumentation entgegen: Zwar habe es bei diesem «Hilfswerk» «Überlagerungen» gegeben «mit ideologischen Elementen rassistischer, eugenischer und nationalistischer Prägung». Im Kern sei es aber um den «(vorläufig letzten) Schub staatlicher Integration von Randständigen» gegangen, «die sich aufgrund ihrer Nichtsesshaftigkeit und auch durch ihr nicht-konformes Verhalten dieser Integration immer wieder entzogen hatten».

Am Schluss listet die Studie vier Massnahmen für das weitere Vorgehen auf: Empfohlen werden die genaue Klärung der Verantwortlichkeiten; die Öffnung der «Hilfswerk»-Akten im Bundesarchiv «nach den gängigen Regeln für allgemeine Verwaltungsakten»; die Fruchtbarmachung der «Hilfswerk»-Kritik für den generellen «Umgang mit kulturellen Minderheiten» und schliesslich die möglichst rasche, «umfassende und interdisziplinär angelegte wissenschaftliche Aufarbeitung des Geschehens rund um die ‘Aktion Kinder der Landstrasse’». Konkret wird für eine erschöpfende Darstellung die Zusammenarbeit der Disziplinen Geschichte, Volkskunde, Soziologie, Kulturanthropologie, Jurisprudenz, Psychologie, Pädagogik sowie «Sprach- und anderen Kulturwissenschaften» empfohlen. Und: «Selbstverständlich gehört dazu auch die systematische Berücksichtigung der Aussagen von Betroffenen und Beteiligten.»

Nachdem er sich fast ein Jahr lang mit den «Hilfswerk»-Akten befasst hatte, liess es sich Roger Sablonier als Studienleiter nicht nehmen, ein persönliches Schlusswort anzufügen: «Die Lektüre dieser Akten wird auch für den nichtbeteiligten Wissenschaftler zu einem geradezu deprimierenden persönlichen Erlebnis.» Über die Konfrontation «mit einer auf unerträgliche Weise diskriminierenden Sprache» zeige sich, dass dieses «Hilfswerk» «ein Modellfall von Desolidarisierung und Diskriminierung» gewesen sei. Der Blick in die Akten habe aber auch gezeigt, was hinter diesem «Hilfswerk» erst langsam aufscheint: «Die Vermutung, dass hier noch einige andere ganz trübe Kapitel schweizerischer Armen- und Vormundschaftspolitik aufzudecken wären, ist berechtigt.» Es gibt Publikationen zur Zeitgeschichte, die Interessierte gelesen haben können und solche, die sie gelesen haben müssen – die Sablonier-Studie gehört zu Letzteren.

Walter Leimgruber/ Thomas Meier/ Roger Sablonier: Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse. Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv, Bern (Schweizerisches Bundesarchiv) 1998.

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