Die Pro Juventute schleicht sich davon

Alle sind sie letzten Mittwoch nach Bern gekommen, um vor laufender Fernsehkamera ihre neuerliche Empörung über die Pro Juventute (PJ) kundzutun. VertreterInnen der Radgenossenschaft, der Schweizerischen Evangelischen Zigeunermission, der Stiftungen Naschet Jenische und Kinder der Landstrasse, sowie die Pro Tzigania Svizzera demonstrierten nie gesehene Einigkeit und hielten fest: «Mit der heutigen Pro Juventute ist den Organisationen der Fahrenden und Betroffenen eine Fortsetzung von Gesprächen nicht mehr zumutbar. Die nur auf öffentlichen Druck hin wunschgemäss abgestattete Entschuldigung ist für uns gegenstandslos geworden.»

Was ist geschehen? In der Zeitschrift «pro juventute» 4/1987, die mit einem Vierteljahr Verspätung erst jetzt veröffentlicht worden ist, hat der Zürcher «Historiker» Siegmund Widmer den Aufsatz: «Pro Juventute: 75 Jahre im ‘Jahrhundert des Kindes’» erscheinen lassen. In diesem Elaborat wird «das gemeinnützige Hilfswerk ‘Kinder der Landstrasse’», mit dem die Jenischen fast fünfzig Jahre lang terrorisiert worden ist, verteidigt: «Ob die heutige, von einflussreichen grossen Medien vertretene Auffassung, welche den Fahrenden eine Art besonderen Minderheitsstatus einräumen will, die bessere ist, als jene von Alfred Siegfried, der die Fahrenden in die Schweizer Gesellschaft integrieren wollte, das wird eine spätere Generation zu entscheiden haben.» Widmers Text war PJ-intern umstritten: Er war zur Überarbeitung zurückgewiesen worden, wurde ohne wesentliche Korrekturen wieder abgeliefert und schliesslich publiziert mit dem Hinweis auf die «Freiheit der Wissenschaft».

Dass die Fahrenden ob Widmers perfider Geschichtsklitterungen – die Bevölkerungsgruppe der Fahrenden hätte sich als ganze zum Beispiel «nur widerwillig» an Anbauschlacht, Militärdienst und geistiger Landesverteidigung beteiligt – explodieren würden, war vorauszusehen. Trotzdem hat die PJ nach reiflicher Überlegung den Text publiziert und sich damit vorsätzlich als Gesprächspartnerin disqualifiziert. Sie hat sich, andersherum, um den Preis einer letzten geballten Ladung schlechter Presse, nach dem Wunsch der Fahrenden endgültig, aus ihrer Verantwortung geschlichen.

Dass sie dies nicht aus Versehen, sondern auf Wink jener getan hat, die in dieser Geschichte schliesslich haften, ist anzunehmen. Jetzt sind für die Jenischen nur noch die Kantone, die für das Vormundschaftswesen zuständig sind, und der Bund als Aufsichtsbehörde der PJ als Gesprächspartner genehm. Der Naschet-Jenische-Sekretär Stephan Frischknecht, als Landesringler Parteikollege von Sigmund Widmer, fasste es an der Pressekonferenz für seine Schützlinge so zusammen: «Wir haben kein Vertrauen in die PJ, aber wir haben Vertrauen in die Gerechtigkeit des Staates.»

In der WoZ wurde der Text unter dem Titel «PJ davongeschlichen» publiziert.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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