Robert Walsers ungestümer Bruder

«Mys Testamänt: Wen i de einisch nümme bi,/ Su syt mr de vernümpftig:/ Verhäärdet i der Stilli mi/ U machet’s churz u zümpftig.» Ist das nicht von diesem Berner Mundartdichter Loosli, der «Mys Dörfli» schrieb, «Üse Drätti» und «Mys Ämmitau»? Aber diese anderen Titel, «Bümpliz und die Welt», «Erziehen, nicht erwürgen!», «‘Administrativjustiz’ und schweizerische Konzentrationslager», sind die nicht auch von diesem Loosli? Und der Kriminalautor, der «Die Schattmattbauern» schrieb, hiess der nicht auch Loosli? Und der erste Präsident des Schweizerischen Schriftstellervereins? Loosli. Und der Gutachter im berühmten Berner Prozess gegen die Nazis und ihre «Protokolle der Weisen von Zion» von 1934? Loosli. Und der berühmte Kämpfer gegen die Anstaltenmisere und den Verdingkindermissbrauch? Loosli.

Immer wieder Carl Albert Loosli (1877-1959). Er war einer der bedeutendsten Schweizer Publizisten und Intellektuellen seiner Zeit. So weitgehend man aber nach dem Tod seines exakten Zeitgenossen Robert Walser (1878-1956) noch dessen flüchtigste Notate als zeitlose Literatur publiziert hat, so weitgehend ist die gesellschaftskritische Publizistik Looslis aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden: Man hat nicht nur Loosli, sondern auch den grössten Teil seines Werks «churz und zümpftig verhäärdet» – und seither vergessen.

Die Texte von Loosli und von Walser – so verschieden sie sind – entstanden in der gleichen Schweiz, spiegeln also die gleiche Wirklichkeit. Wer wissen will, wie die Verzweiflung eines abstürzenden Aussenseiters zu sublimem Sprachgold gerann, der muss Walser lesen (und dabei nicht vergessen, dass dieser Mann für die letzten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens in eine Irrenanstalt versorgt wurde). Wer aber wissen will, wie das Land konkret beschaffen war, in dem einer wie Walser als Schriftsteller an Ausgrenzung und Erfolglosigkeit zerbrach, der muss Loosli lesen.

Loosli ist nicht, wie Walser, eine singuläre Edelfeder. Aber er war ein ausgezeichneter Sprachhandwerker, der, was er zu sagen hatte, je nach Situation in einer Novelle, einem Zeitungsartikel oder einer sapphischen Ode zu sagen wusste. Er war einer, der mit dem rhetorischen Zweihänder dreinfahren konnte, wenn ihm die Bigotterie und Dummheit seiner Miteidgenossen wieder einmal unerträglich wurde, und der handkehrum Verletzungen, Trauer und später ab und zu auch seine Verbitterung in berührende Verse brachte.

C. A. Loosli war ein unbequemer Zeitgenosse: Seine Feder war spitz, er bleib streitbar bis ins hohe Alter, er war trotz schwieriger Jugend als Verdingbub und Anstaltszögling breit gebildet und zumeist vorzüglich informiert. Und wenn er als Journalist das Wort ergriff, dann verfocht er das, was er für richtig hielt, unbeugsam und mit grosser Ausdauer.

Dabei war Loosli nichts weniger als ein Querulant. Immer stand seine Publizistik im Dienst von realpolitischen Zielen: Gelang es ihm – etwa mit der Kritik der damaligen Erziehungsanstalten –, seine Gegner in der öffentlichen Debatte blosszustellen, so war seine Arbeit nicht getan. Sobald sich ihm Chancen zu Reformen zeigten, begann er als Experte hinter den Kulissen konstruktiv mitzuarbeiten: So beriet er, wie Briefe belegen, den Berner Generalstaatsanwalt bei der Entwicklung eines fortschrittlichen Jugendstrafrechts; so engagierte er sich beim Bau des Burgerlichen Jugendwohnheims in Bern, so veröffentlichte er zuhanden von wohlgesinnten Behördenmitgliedern ein Buch mit «Bau- und Gliederungsgrundsätze[n] für Anstalten».

Für Loosli gab es Wichtigeres, als «grosse» Literatur zu hinterlassen. Selber sagte er einmal: «Gewiss, ich achte die Kunst hoch, gestehe gerne, dass mir nichts vollkommener wäre als mich ihr ganz und ausschliesslich zu widmen, doch achtbarer, erhabener noch ist mir der Menschen Leiden, besonders wenn diese Menschen wehrlose Kinder sind.»

Eine solche Haltung war den Kunstsachverständigen auf Kathedern und Redaktionssesseln immer suspekt: Literatur, die die Ästhetik in den Dienst einer Ethik stellt, sagen sie, kann keine bedeutende sein. Gotthelfs Texte galten deshalb den damaligen Kritikern als «Tendenzliteratur», viel später wurden viele Bücher der «Gruppe Olten»-Autoren und -Autorinnen als «Littérature engagée» oder gleich als «Agitprop» abgetan. In dieser Tradition ist Carl Albert Loosli ein Bindeglied in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts: Wichtiger als in Schönheit zu sterben war ihm, dazu zu verhelfen, menschgemäss leben zu können. Darum stellte er seine Sprachkunst in den Dienst eines unverhandelbaren Humanismus. Den einen wird eine solche Stimme noch heute unbequem sein. Anderen macht sie Mut. Dass sie wieder vermehrt gehört wird, ist so oder so wichtig.

Die Philologen haben den Schriftsteller C. A. Loosli nur verschieden ignoriert, es kommt drauf an, ihn neu zu interpretieren.

Diesen Beitrag habe ich als Mitherausgeber der C. A. Loosli-Werkausgabe im Rotpunktverlag verfasst. In der «Mittelland-Zeitung» erschien er unter dem Titel «Churz u zümpftig verhärtet». Das «St. Galler Tagblatt» hat ihn am 19.12.2006 unter dem gegen den Text stehenden Titel «Der Querulant» nachgedruckt. Den letzten Satz – eine Parodie auf Marxens 11. These über Feuerbach – ist in beiden Versionen weggestrichen worden. 

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