Das Lächeln der Künstlerin Lilly Keller

Am 19. Februar 2014 wird die Künstlerin Lilly Keller fünfundachtzig Jahre alt. Seit 1950 hat sie ein immenses Werk geschaffen: Gemälde, Lithographien und Tapisserien; Objekte aus Glas, Metall und Polyurethan; dazu 73 «Bücher» – buchartige Unikate, die Seite für Seite kellersche Originalkunst zeigen. Ihr Werkverzeichnis umfasst schon heute um die zweitausend Einträge.

Lilly Keller ist bereits in ihrer Jugend von einem weiten Panorama moderner Kunst umgeben. Beeinflussen lässt sie sich während ihrer Lehrjahre von allem, was ihr begegnet und sie beeindruckt: von Lise Gujer zum Beispiel, der Jugendfreundin ihrer Mutter, die unter Ernst Ludwig Kirchners Anleitung dessen expressive Entwürfe in Tapisserien übersetzt hat. Von den Werken Paul Klees, von denen mehrere in der elterlichen Wohnung ihrer Schulfreundin hingen. Von vielem, was sie ab 1949 an der Kunstgewerbeschule Zürich kennenlernt – von der modernen Grafik über das Aktzeichnen bis zur konkreten Kunst. Von Muz Zeier, dem Bildhauer, lernt sie das dreidimensionale Denken; von Fritz Kuhn, dem Maler und schwermütigen Gaukler, den Respekt vor der Art brut; von Sam Francis den amerikanischen Expressionismus; von Daniel Spoerri den Tanz über alle Grenzen der Sparten hinweg; von Jean Tinguely das Feuer des Schaffens, das Durchsetzungsvermögen und die kinetische Kunst; von Meret Oppenheim hört sie die Geschichte des Surrealismus und auch jene vom Preis, der bezahlen muss, wer dazugehören will. Toni Grieb schliesslich, ihr Partner ab den späten Fünfzigerjahren, zeigt ihr den Weg ins Freie, den sie beide bis zu seinem Tod 2008 gemeinsam unabhängig gegangen sind.

Mit Grieb zieht Keller 1962 von Bern nach Montet ob Cudrefin in ein zerfallendes Bauernhaus. Damit gehen ihre Lehrjahre zu Ende, und es beginnt die künstlerische Suche im Weglosen, von einer Grenze zur nächsten und, getrieben von unbändigem Freiheitsdrang, über jede hinaus.

Nur eine Lehrmeisterin akzeptiert Lilly Keller auch heute noch: die Natur. In Montet verwandelt Grieb den riesigen Umschwung ihres Hauses in einen Park mit über zweihundert Bambusarten, exotischen Laubbäumen und Koniferen; belebt von Eseln, Pfauen, Hunden und Gänsen. So wird auch sie mit der Zeit zur Naturkundigen. Wie sie von der Kunstmoderne gelernt hat, dass kein Weg zurückführt zum nachahmenden Abbilden, so lernt sie jetzt in diesem Park, dass es in ihrer eigenen Kunst kein wichtigeres Thema gibt als die Natur. So schafft sie ein antinaturalistisches Werk, das von der Natur durchdrungen ist, und wird so zur erst noch zu entdeckenden Künstlerin einer grünen Moderne.

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Lilly Keller wuchs in Muri bei Bern auf, ihr Vater war Abteilungsleiter im Telegrafenamt der Schweizer Post. Sie sei ein «störrisches Kind» gewesen, sagt sie, das den eigenen Kopf gegen alle Erziehungsversuche durchgesetzt habe. Auch später hat sie sich nie sagen lassen, was sie zu tun habe. Und wer es trotzdem versucht hat, wurde entmutigt durch die Klarheit ihres Neins und ihre Immunität gegen machistische Avancen.

Dass um 1950 in der Schweiz kein «Kunstbetrieb», sondern einzig ein «Künstlerbetrieb» herrschte, war ihr klar, bevor sie das erste Bild ausstellte: Im Spätherbst 1951 trat sie deshalb in der Gruppenausstellung «Zürcher Künstler im Helmhaus» unter dem Namen «Karl Maria Keller» auf. Erstmals eine Ausstellung unter eigenem Namen machte sie zusammen mit Friedrich Kuhn im Frühling 1953 in Bern. Das Plakat, das für den 30. Mai zur Vernissage in den Dachstock einer Remise an der Laupenstrasse einlädt, nennt «LILLI / KELLER / FREDERICH / KUHN» in dieser Reihenfolge. Die kanonisierte Fotografie dieser Vernissage stammt von Kurt Blum und zeigt im Vordergrund Kuhn und dahinter einen abgewandten Betrachter vor Bildern. Am linken Bildrand ist eine Figur abgeschnitten, zu sehen ist nichts als ein Stück Mantel. Diese Figur ist Lilly Keller. 1984 hat Marcel Baumgartner in seinem Standardwerk zur Berner Kunst des 20. Jahrhunderts «L’art pour l’Aare» diese Ausstellung erwähnt, mit Blums Fotografie illustriert und als «Friedrich Kuhns sagenumwobene erste Atelier-Ausstellung» bezeichnet. Von Keller keine Spur mehr.

Solche Erfahrungen mit dem Künstlerbetrieb haben die Künstlerin Lilly Keller geprägt:

• 1957 hält ihr Freund Daniel Spoerri sie dazu an, ihr Atelier und ihre Position als Künstlerin in Bern aufzugeben und ihn als seine Freundin zu den neuen Ufern in Darmstadt zu begleiten, wo er als Regieassistent im Landestheater arbeiten wird. Keller bleibt in Bern und lässt die Beziehung in die Brüche gehen.

• Von ihrem nächsten Freund, Jean Tinguely, distanziert sie sich, als dieser ihr vorschlägt, als seine Partnerin und unter seiner künstlerischen Leitung eine internationale Künstlerin zu werden – Jahre bevor sich Niki de Sainte Phalle auf diesen Handel eingelassen hat, Tinguelys Ehefrau und berühmt geworden ist.

• Als ihr 1962 mit dem Verkauf ihrer «Tapisserie – S» an das Stedelijk-Museum in Amsterdam ein Durchbruch gelingt, wird sie vom Künstlerbetrieb als allenfalls kunsthandwerklich begabte «Textilkünstlerin» herabgewürdigt, die «Frauenkunst» macht. Mit Kunst habe das bestenfalls am Rande etwas zu tun. Noch kurz vor seinem Tod 2011 habe, sagt Keller, Bernhard Luginbühl ihr im Guten geraten, sie solle wieder Tapisserien weben und mit allem anderen besser aufhören.

• An einen Galeristen erinnert sie sich, der die Einladung zur Teilnahme an einer Gruppenausstellung rückgängig machte, nachdem Luginbühl gedroht hatte, seine Werke zurückzuziehen, falls die Keller auch ausstelle. Heute sagt sie, die Künstlerinnen der Berner Künstlerszene hätten in erster Linie als «unbequeme Weiber» und nicht als Künstlerinnen gegolten.

• Über die Behauptung, es habe in der legendären Berner Kunstszene der Fünfzigerjahre um Meret Oppenheim eine selbstbewusste Frauenszene gegeben, kann Keller nur lachen. Zwar sei es tatsächlich häufig vorgekommen, dass Künstlerinnen wie Suzanne Baumann, May Fasnacht, Mariann Grunder, Esther Altdorfer, sie selber und andere mit Oppenheim im «Café du Commerce» in der Altstadt zusammengesessen seien. «Aber in der Kunst waren wir alle Einzelkämpferinnen.» Die Mär von dieser Frauenszene werde auch dann nicht wahrer, wenn sie von den Nachgeborenen hartnäckig grossgeredet werde.

Erfolg – das sagt Lilly Kellers Lebenserfahrung als Künstlerin – hat erst in zweiter Linie mit Kunst zu tun. In erster Linie geht es um die Definitionsmacht, was «Kunst» ist. Sicher gehören zu dieser Definition auch ästhetische Kategorien. Aber überwiegend geht es um Moden, Netzwerke, Prestige, Einfluss, Verhandlungsgeschick, Kulanz, Konkurrenz, «Mischeleien», Neid, Missgunst und – in Lilly Kellers Generation mit Sicherheit zentral – um das Geschlecht. Und das heisst in der Praxis: um das Frauenbild der massgebenden Männer, die bis heute dafür gesorgt haben, dass es in Bern nicht gar zu viele Galeristinnen, Kunsthalleleiterinnen, Kunstmuseumsdirektorinnen und Klee-Zentrum-Chefinnen gegeben hat und gibt.

Diese Definitionsmacht hat nicht nur Kellers Werk über Jahrzehnte kleingeredet. Sie hat zum Beispiel aus Meret Oppenheim einen Popanz gemacht, in dem Lilly Keller ihre ehemalige Freundin und die Stärken und Schwächen ihres Werks immer weniger zu erkennen vermag. Im Gegensatz zu Keller ist Oppenheim allerdings nicht negativ, sondern positiv diskriminiert worden. Beiden Künstlerinnen gemeinsam ist, dass die Bedeutung ihrer Namen und Werke gleichermassen von männerdominierten Fremdzuschreibungen geformt wurden und werden.

Dass sich Lilly Keller im Alltag bis heute konsequent als «Frau Grieb» ansprechen lässt, hat damit zu tun. Und ihr Pseudonym Karl Maria Keller bestätigt, dass sie schon als zweiundzwanzigjährige Künstlerin gewusst hat: In dieser Gesellschaft die «Künstlerin» zu machen, ist anstrengend und frustrierend. Sie beherrscht das Spiel der sozialen Mimikry: Sie liebt es, das Aussehen der Umgebung anzunehmen, um nicht aufzufallen; sie liebt es, sich anzupassen, um desto sicherer tun zu können, was sie will; sie liebt es unterzutauchen, um geschützt zu sein vor den Feinden.

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Lilly Keller ist eine bedeutende Künstlerin. Jene, die sie und ihr Werk kennen, sind davon überzeugt. Dass sie trotzdem eher unbekannt geblieben ist, hat drei Gründe. Erstens ist sie eine Frau. Zweitens hat sie nie gezögert, einen Trottel «Trottel» zu nennen. Und drittens ist sie den meisten Kunstgelehrten im Kanton Bern mindestens einmal auf die  Zehen getreten. Wie gut deshalb, dass sie hinter dem Mont Vully lebt: Für eine waadtländische Künstlerin ist ja tatsächlich Lausanne zuständig. Seit ihr 1961 die Aeschlimann-Stiftung einen Preis für Lithographie gegeben hat – also seit 52 Jahren –, ist ihr Werk nie mehr ausgezeichnet worden.

Lilly Keller steht auch mit 85 Jahren Tag für Tag im Atelier. Sie plant, das Anwesen in Montet zu verkaufen und in absehbarer Zeit ihren Alterssitz in einem Stall – natürlich mit grossem Atelier – mitten in Thusis zu beziehen, den sie seinerzeit von ihrer Mutter geerbt und über Jahrzehnte ausgebaut hat. Die definitionsmächtigen Grosssöhne der legendären Berner Künstlerszene können beruhigt sein. Mehr als das spöttische Lächeln haben sie von der Künstlerin Lilly Keller nicht mehr zu befürchten. (Doch, doch, neben den Grossöhnen gibt es unterdessen auch einige wenige definitionsmächtige Grosstöchter. Sie sind an dieser Stelle selbstverständlich mitgemeint.)

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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