Der Skandal, der keiner ist

Dieser Tage versteht man in der Direktion Mitte/West von Berns Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD) die Welt nicht mehr. Plötzlich soll ein Skandal sein, was bisher gang und gäbe war. Man wird ja wohl noch marktgängige Psychopharmaka verabreichen und mit ihnen eine «postmarketing-observation-study» durchführen dürfen, ohne offiziell um Erlaubnis bitten oder gar die schriftliche Einwilligung des Krankengutes einholen zu müssen. Die Ärzte sind verärgert. Und das Pflegepersonal ist empört über den Mitarbeiter, der die problematische Nefadar-Studie publik gemacht hat.

Ein offenes Wort wird öffentlich

Am 15. Februar 1999 hat der Oberarzt Daniel Bielinski als Leiter des Kriseninterventionszentrums, das der Direktion Mitte/West unterstellt ist, seinen KollegInnen eine schriftliche Mahnung zukommen lassen. Mitte des letzten Jahres habe ihnen ein Mitarbeiter der Pharmafirma Bristol-Myers Squibb AG das Antidepressivum Nefadar vorgestellt: «In der Folge waren wir aufgefordert, eine Begleitevaluation zu diesem Medikament durchzuführen. Anlässlich der vereinbarten Abschlussfrist stelle ich nun fest, dass von 25 möglichen PatientInnen nur gerade zwei Fragebogen ausgefüllt wurden. […] Ab sofort wird Nefadar allen anderen SSRI [Antidepressiva-Gruppe der «selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer», fl.] vorgezogen. Das heisst, dass wir Nefadar auf breiter Basis verwenden, bis wir die restlichen 23 zugesagten PatientInnen zusammen haben.» Man fühlt sich verpflichtet. Immerhin hat Bristol-Myers Squibb weit über hundert Nefadar-Packungen gratis geliefert und sich bereit erklärt, jeden ausgefüllten Fragebogen mit 80 Franken zu vergüten.

Bielinskis Mahnung geht auch an die «MitarbeiterInnen Krisenambulanz». Ein Psychiatriepfleger liest und fragt sich, ob man so mit depressiven Menschen umgehen könne: Ist das noch verantwortbare klinische Forschung oder ist das nur noch Marketing? Die Firma profitiert, weil depressive Menschen oft jahrelang das einmal verordnete Antidepressivum schlucken. Die Klinik profitiert, weil sie die gleiche Tagespauschale verrechnet, ob teure oder Gratispsychopharmaka verabreicht werden. Die Ärzte profitieren – sie können sich, wenn sie wollen, einbilden, Forschung zu betreiben. Der Psychiatriepfleger erinnert sich an die Schlüsselqualifikationen seines Berufsstandes, deren elfte postuliert, «ethische Grundhaltungen zu entwickeln und sie in der konkreten Situation zu vertreten». Am «Pflegeforum» vom 25. Februar 1999 stellt er dem anwesenden Oberarzt deshalb kritische Fragen. Er wird abgewimmelt und fühlt sich deshalb verpflichtet, die Öffentlichkeit zu informieren. Er setzt sich mit der Redaktion der Zeitschrift «saldo» in Verbindung. Am 14. April 1999 veröffentlicht «saldo» eine ausführliche Geschichte. Die Zeitungen in Stadt und Region Bern nehmen sie auf. Der «Bund» meldet, dass auch die psychiatrische Poliklinik des Insel-Spitals an der Nefadar-Studie beteiligt sei – deren Direktor, Professor Hans-Ulrich Fisch, will von nichts wissen, obschon er im beratenden Ausschuss («advisory board») der Nefadar-Studie sitzt. Schliesslich macht Radio DRS 1 die Geschichte mit einem Beitrag im «Rendez-vous am Mittag» in der ganzen deutschen Schweiz bekannt.

Skandal aus Ungeschicklichkeit

In der UPD-Abteilung Mitte/West gerät man sofort unter Rechtfertigungsdruck. Am 16. April dokumentiert eine Spezialausgabe des internen «Info-Bulletins» eine Stellungnahme Bielinskis: Im Juli 1998 habe ihm Bristol-Myers Squibb mitgeteilt, dass an der Studie bereits 426 ÄrztInnen und 599 PatientInnen involviert seien. Von Skandal also keine Spur. Auch habe die Studie «in keiner Weise» zu «einer Therapieeinschränkung» geführt. Seit seiner Mahnung Mitte Februar seien lediglich «zusätzlich rund 6-8 PatientInnen mit Nefadar» behandelt worden. Im Übrigen handle es sich «um eine nicht kontrollierte Studie von einem Typ, der der Ethikkommission nicht gemeldet und bei der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel nicht notifiziert werden» müsse. Auch gegenüber der Öffentlichkeit verteidigt Bielinski sein Vorgehen und erzählt treuherzig: In letzter Zeit habe man solche Studien auch mit den Antidepressiva Deroxat (SmithKline Beecham) und Zoloft (Pfizer), sowie den Neuroleptika Zyprexa (Eli Lilly) und Risperdal (Janssen-Cilag) durchgeführt.

Zwar wissen ja wohl auch die politisch Verantwortlichen, dass in der Grauzone der lukrativen Gefälligkeiten zwischen der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie solche Studien zum Courant normal gehören. Und sie wissen besser als unsereiner, dass diese Grauzone sich nicht auf Kliniken beschränkt, sondern im Gegenteil in den Privatpraxen von Psychiaterinnen und Hausärzten landauf, landab immer noch grauer wird: Wer zählt die ÄrztInnen, die nebenher einige Fragebogen zu einem neuen Medikament ausfüllen für eine Flasche Champagner oder für Eintrittskarten bei den internationalen Musikfestwochen in Luzern? All das ist normal. Aber öffentlich dazu stehen sollte man eben nicht: Die medizinisch ungebildete Öffentlichkeit missversteht solche Normalität als einigermassen skandalös, und Hitzköpfe reden unfeinerweise schnell von intellektueller Dekadenz der Ärzteschaft und von Korruption.

Bielinskis Mut am falschen Ort zwingt die politisch Verantwortlichen, aus der Nefadar-Episode wohl oder übel einen kleinen Skandal zu machen. Die Direktionspräsidentin der UPD Bern, Christiane Roth, wirft dem Direktor der Abteilung Mitte/West, Hans-Dieter Brenner, vor, sie nicht rechtzeitig informiert zu haben und sagt blauäugig: «Wir dürfen uns nicht für Verkaufszwecke einspannen lassen.» Der Präsident der zuständigen Ethikkommission, Vinzenz Imhof, erfährt erst über «saldo» von der Studie. Der Kantonsapotheker Niklaus Tüller lässt sich mit dem Satz zitieren: «So geht es nicht.» Und gegenüber Radio DRS 1 sagt Thomas Zeltner als Direktor des Bundesamts für Gesundheit, das Vorgehen der Ärzte in diesem Fall sei weder «richtig» noch «rechtens» gewesen: Seit 1995 gebe es Regeln, die besagten, dass «klinische Studien» angemeldet und von einer ethischen Kommission geprüft werden müssten: Bedingung sei darüber hinaus das Einverständnis der PatientInnen – ob es allerdings nachprüfbar, das heisst schriftlich vorliegen muss, ist und bleibt umstritten. Die kantonale Gesundheits- und Fürsorgedirektion verfügt eine Untersuchung unter der Leitung des Kantonsapothekers.

Sehr punktuelle Sanktion

Nachdem sich die politisch Verantwortlichen laut und deutlich vom Missstand distanziert haben, müssen sie in den kommenden Tagen dafür sorgen, dass sich trotzdem nichts ändert. Wer möchte schon die vereinigte Lobby der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie ernsthaft verärgern? Am 29. April veröffentlicht der Kantonsapotheker sein Untersuchungsergebnis: Die Nefadar-Studie hätte «der zuständigen Ethikkommission vorgelegt werden müssen». Grund: «Wenn […] zu Gunsten des zu beobachtenden Arzneimittels sämtliche anderen, in der Wirkung vergleichbaren Medikamente abgesetzt werden und ausschliesslich das zu beobachtende Arzneimittel für eine bestimmte Zeit an einer bestimmten Anzahl von Patientinnen und Patienten eingesetzt werden soll, handelt es sich um eine genehmigungspflichtige Studie.» Die Direktionspräsidentin der UPD wird angewiesen, «den Forderungen der kantonalen Forschungsverordnung in den ihr unterstellten Diensten Nachachtung zu verschaffen». Die Pointe der Mitteilung: Zu «Behandlungseinschränkungen» sei es «im vorliegenden Fall nicht gekommen, da die beabsichtigte Studie rechtzeitig abgebrochen wurde». Ach so? Ist eine Studie bloss «beabsichtigt», wenn sie seit Monaten in Gang ist? Wurde sie rechtzeitig abgebrochen, wenn mindestens acht bis zehn Personen auf Nefadar gesetzt wurden, um die Abmachungen mit der Pharmafirma einzuhalten? Man staunt ein bisschen und mutmasst: Im Sinn der Schadenbegrenzung, scheint es, waren die zuständigen Ärzte bereit, die Studie abzubrechen, wenn die Gesundheitsdirektion im Gegenzug auf Sanktionen verzichtete. Ach so.

Dafür hat Mitte/West-Direktor Hans Dieter Brenner unterdessen dem Psychiatriepfleger, der an allem schuld ist, einen mündlichen Verweis erteilt, der auch noch schriftlich ausgesprochen werden soll. Schon zuvor hat der Pfleger allerdings seine Kündigung eingereicht, weil er in «der unheilvollen Konnexion Brenner-Bielinski» nicht weiterarbeiten könne. Im Übrigen ist die Kündigung ohne Druck der Ärzteschaft erfolgt.

In einer «abschliessenden Stellungnahme», die der WoZ vorliegt, klagen Bielinski und Brenner, dass Postmarketingstudien, «obwohl national und international breit angewendet und akzeptierter Standard, ins Gerede» gekommen seien. Ist ein Standard weniger skandalös, wenn der Skandal standardisiert ist?

[Kasten]

Der Clinch des Pflegepersonals

Am 23. April 1999 hat die «Berner Zeitung» zur Nefadar-Studie die Leserbriefe zweier Psychiatriepfleger veröffentlicht, die entgegengesetzter nicht hätten sein können: Für den einen ist die Studie indiskutabel und er fordert, dass solche Studien nur «von einer pharmaherstellerunabhängigen Stelle durchgeführt» und «niemals mit Medi-Marketing gekoppelt werden» dürfe. Der andere verteidigt «seine» Klinik und den Oberarzt Bielinski mit «seiner offenen und ehrlichen Umgangsart»; die Studie tut er als «aufgeblähten Vorfall» ab.

Auf einen Schlag wird hier das ethische Dilemma des Pflegepersonals klar, das im Berufsalltag grundsätzlich auszuführen und zu schweigen hat. Kritik an ärztlichen Massnahmen ist nicht vorgesehen. Wird sie doch einmal laut und nicht von vornherein als «inkompetent» abgetan, so heisst es: Kritik verunsichere die Klientel und verringere deren Therapiewilligkeit und damit den Heilungserfolg. Kurz: Wer kritisiere, arbeite gegen die Ärzte. Dieses Argument kann einerseits nicht einfach von der Hand gewiesen werden, andererseits aber wird es im konkreten Fall zum Totschlägerargument gegen noch so berechtigte Einwände.

In der Nefadar-Geschichte hat sich deshalb ein einzelner Psychiatriepfleger seinem ethischen Gewissen folgend zum Kamikazeflug entschlossen. Er hat die Öffentlichkeit gesucht, ohne sein Vorgehen mit jemandem abzusprechen. Das Resultat: Er wurde von den eigenen KollegInnen attackiert, vollständig isoliert und hat unterdessen die Kündigung eingereicht, ohne von Seiten der Ärzteschaft unter Druck gesetzt worden zu sein.

Die Frage, die diskutiert werden müsste: Wie kommen Krankenpflegeteams in einer ethischen Konfliktsituation – wie der vorliegenden – zu einer gemeinsamen Haltung, die gegenüber der Ärzteschaft und wenn nötig der Öffentlichkeit als Stellungnahme des Pflegepersonals vertreten werden kann? Nur so kann der verhängnisvolle Mechanismus durchbrochen werden, dass Institutionen bei ethisch nötigen Indiskretionen Ketzer schaffen, die von den eigenen, loyalen und aufgeschreckten Leuten symbolisch verbrannt werden, weil ihnen das falsche Schweigen weniger Angst macht als der aufgebrochene Konflikt.

In der WoZ wurde der Text unter dem Titel «Der standardisierte Skandal» leicht gekürzt veröffentlicht – der Kasten ist dort ganz weggelassen worden.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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