Es gibt ein Leben nach der Krise

Psychopharmaka seien «sanfte Mörder», und «das Leben mit Neuroleptika im ‘Tiefkühlschliessfach’ einer Klinik» sei «sinnlos und bloss ein Überleben», heisst es in der neusten Ausgabe von «pro mente sana aktuell» (1/1999). Psychopharmaka seien – dies sagt dagegen die Zürcher Psychiatrie-Professorin Brigitte Woggon –, «etwas, das wirklich hilft», wenn es darum gehe, «einen Zustand der Symptomfreiheit» zu erreichen. Und wenn die «Medikamente» nichts nützten, müsse man es halt mit «bis zu zehnfach höheren Dosen» versuchen – wer Risiken scheue, solle Würste verkaufen und nicht Arzt sein («Das Magazin», 12/1999).

Unbestreitbar: Psychopharmaka wirken. Peter Lehmann, Vorstandsmitglied des Netzwerks Europäischer Psychiatriebetroffener, bezeichnet sich selber als «Psychiatrieüberlebender» und schreibt: «Alles, was an Eigenheiten und psychischen oder psychosomatischen Reaktionen stört, kann mit psychiatrischen Psychopharmaka schnell und expertenlegitimiert aus dem Weg geschafft werden: Gefühlsveränderungen und -schwankungen, Feinfühligkeit, Ärger, Wut, Zorn, Hass, Unwohlsein, Unzufriedenheit, Ratlosigkeit, Trauer, Verzweiflung, Angst, Misstrauen, Obrigkeitswidrigkeit, Querulanz, Anpassungsunwilligkeit sowie die vielfältigen Verrücktheitszustände.»

Unbestreitbar aber auch: Wer Psychopharmaka schluckt, leidet, und zwar nicht nur an der psychischen Krise, die behandelt werden soll, sondern auch an den sogenannten «Nebenwirkungen» der geschluckten oder injizierten chemischen Substanzen. Kommt dazu, dass Psychopharmaka nicht heilen können. Sie normalisieren zwar soziale Auffälligkeiten, indem sie pharmakologisch Verdrängungsprozesse auslösen, die die Krise überdecken. Aber die Überwindung der Krise beginnt häufig mit dem Entschluss, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der psychopharmakologischen Abhängigkeit zu ziehen.

Es gibt kein Patentrezept

Als Verleger des Antipsychiatrieverlags in Berlin hat Peter Lehmann nun ein Buch herausgegeben, dessen Vorwort mit dem Satz beginnt: «Dieses Buch setzt an dem Punkt an, wo die Betroffenen – die Objekte der psychopharmakologischen Behandlung – den eigenen Entschluss gefasst haben, die verordneten Psychopharmaka abzusetzen oder absetzen zu wollen.» Im Gespräch präzisiert er: «Es geht mir nicht darum, irgendjemandem zu sagen: Du sollst deine Psychopharmaka nicht nehmen. Ich habe in Selbsterfahrungsgruppen miterlebt, wie man Leute bearbeitet hat: Igitt, Psychopharmaka, die solltest du wirklich mal absetzen. Das war nicht gut. Wenn die Leute nicht selber draufkommen, bringt’s nichts. Das ist genauso wie beim Rauchen und beim Trinken.»

1995 hat Lehmann unter Psychiatrie-Erfahrenen einen Aufruf verbreitet, in dem er um Erfahrungsberichte über das Absetzen von Psychopharmaka bat. Zusammengekommen sind fünfreissig Beiträge aus aller Welt (auch aus der Schweiz), die Lehmann zu inhaltlichen Gruppen geordnet hat: «Der Entschluss zum Absetzen», «Absetzen ohne Probleme», «Stufenweises Absetzen», «Absetzen mit Problemen», «Gegengewichte» [zu den Psychopharmaka, fl.], «Absetzen mit professioneller Hilfe», «Lieber manchmal Psychopharmaka als dauernd» und «Die Zeit danach». Diese Beiträge zeigen auf vielfältige Weise zweierlei: Absetzen ist möglich; und: Es gibt dafür kein Patentrezept. Das Vorgehen ist abhängig von der Art des geschluckten Psychopharmakons beziehungsweise von der Art der Kombination verschiedener Präparate, von Dosierungshöhe und Einnahmedauer, vom allgemeinen Gesundheitszustand, von den individuell unterschiedlichen Problemen, von der inneren Einstellung zum Entzug, von der Kenntnis des Entzugsprozesses mit seinen möglichen Symptomen und Problemen und den konkreten Massnahmen zu ihrer Linderung.

Das Stigma der Lebenslänglichkeit

Ergänzt wird die mutmachende Palette der Erfahrungsberichte mit zehn Beiträgen unter dem Titel «Professionell unterstützen». Psychopharmaka abzusetzen ist kein Sonntagsspaziergang. Sachkundige Unterstützung ist manchmal nötig, weil es zu schwerwiegenden Entzugsproblemen kommen kann, die Lehmann im Gespräch in keiner Weise verharmlost: «Wegzukommen ist so schlimm wie Alkoholentzug, wie Heroinentzug. Intern ist es bei Psychiatern und Neurologen längst klar und unbestritten, dass viele die Mittel nur deshalb nehmen müssen, weil die Entzugsprobleme grösser sind als die Probleme, die beim weiteren Einnehmen auftreten. Viele kommen von ihrer Abhängigkeit nicht mehr herunter.» Dazu kommt, dass, es häufig sehr schwierig ist, beim Absetzen professionelle Hilfe zu finden, weil der überwiegende Teil der PsychiaterInnen und sonstigen ÄrztInnen heute wieder an ausschliesslich biologische Erklärungsmodelle von psychischen Krisen glaubt. Aus behaupteten hirnorganischen oder genetischen Defekten schliessen sie auf chronische Verläufe von «Krankheiten», auf die Notwendigkeit langfristiger, nicht selten lebenslänglicher Psychopharmaka-Gaben und auf Renitenz als Krankheitssymptom, wenn jemand von ihnen professionelle Begleitung bei einem Absetzversuch verlangt.

Aus verständlichen Gründen übernimmt ein Grossteil der von psychischen Krisen Betroffenen den Blick der Profis auf das krisenhafte Geschehen. Peter Lehmann: «Beim Absetzen haben jene Leute die grössten Probleme, die sagen: Die Krankheit ist schuld. Die Stoffwechselstörung ist schuld. Oder: Der Psychiater ist schuld, die Angehörigen sind schuld. Schwierigkeiten haben also all jene, die irgendwelchen Instanzen ausserhalb die Schuld geben und dadurch wegfallen als handelnde Subjekte. Sie belassen sich selber in einem Objektstatus und verpassen dadurch die Chance, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.»

Der Sinn in der Krise

Aber warum soll jemand überhaupt Psychopharmaka absetzen? Gibt es nicht viele, die sich mit ihnen und dem Glauben an die «Krankheit» leidlich über die Runden bringen? Die Frage sei, wie lange, sagt Lehmann und beginnt aufzuzählen: «Da gibt es eben die bekannten Langzeitstörungen: Alle, die Psychopharmaka einnehmen, leiden längerfristig an Leberfunktionsstörungen und diversen Herzschädigungen. Es gibt haufenweise psychiatrische Studien, die alle zum Schluss kommen, dass seit Einführung der Neuroleptika die Suizidrate dramatisch explodiert ist. Dann gibt es die Sache mit den Chromosomenrissen, die Neuroleptika und Antidepressiva hervorrufen können. Oder das neuroleptische maligne Syndrom, das zu Fieber, Muskelsteifheit, Bewusstseinsveränderungen und zum Tod führt, wenn die Behandlung nicht sofort abgebrochen wird. Dann die irreversiblen Spätfolgen: tardive Dyskinesien – Dauerbewegungsstörungen –, an denen heute weltweit bis zu hundert Millionen Menschen leiden.» Psychopharmaka heilen nicht, machen abhängig und führen längerfristig zu schweren körperlichen Schädigungen. Aus diesem Grund kann ihr Einsatz in akuten Krisen als Ultima Ratio zwar als notwendig erscheinen, ihre längerfristige Verordnung ist aber grundsätzlich problematisch.

Die Psychiatrie-Erfahrenen, die im Buch über das erfolgreiche Absetzen ihrer Psychopillen berichten, waren gerade deshalb erfolgreich, weil sie nicht von biologischen Erklärungsmodellen ihrer Krisen ausgingen und ihnen deshalb einen Sinn zu geben vermochten. Der Schwede Maths Jesperson etwa schreibt: «Verrücktheit ist keine Krankheit, die es zu kurieren gilt. Meine Verrücktheit trat ein, um von mir ein neues Leben einzufordern.» Der Däne Karl Bach Jensen geht davon aus, dass die «so genannten psychischen Krankheiten» lebensrettende «Muster des psychischen Exils» sind: «In der Geschichte jedes Individuums gibt es Gründe, warum aus dem grossen Vorrat der Menschheit gerade diese oder jene Form des psychosozialen Überlebens zum Durchbruch kommt.» Diese individuell spezifische Form des psychischen Exils tritt so lange immer wieder in Erscheinung, wie sich nichts ändert.  Deshalb sagt die Deutsche Regina Bellion: «Wer sich mit seinen psychotischen Erlebnissen auseinandersetzt, läuft anscheinend nicht so bald in die nächste psychotische Krise.»

Psychopharmaka abzusetzen geschieht dann erfolgreich, wenn es gleichzeitig gelingt, den immer gleichen Weg in die Krise zu durchschauen und zu lernen, ihm auszuweichen. Gesund sein heisst vielleicht nur das: selbstverantwortlich frühzeitig neue Wege zu suchen, um den sich abzeichnenden Krisen auszuweichen.

Peter Lehmann [Hrsg.]: Psychopharmaka absetzen. Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin und Tranquilizern. Berlin (Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag) 1998.

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Der Psychopharmaka-Markt floriert

 

«Grundsätzlich besteht kein Unterschied zwischen Psychopharmaka und illegalen Drogen. Der Entscheid, ob eine Wirksubstanz ein legales Psychopharmakon oder eine illegale Droge ist, ist völlig willkürlich.» Das schreibt Marc Rufer 1995 in seinem Buch  über die psychopharmakologischen «Glückspillen» (Knaur Verlag, München). Vor diesem Hintergrund staunt, wer sich um Zahlen zum Psychopharmaka-Verbrauch in der Schweiz in den letzten Jahren bemüht: Der gleiche Staat, dem jedes Gramm bechlagnahmter illegaler Drogen ein Pressecommuniqué wert ist, weiss von nichts, sobald das Wort «Droge» mit «Medikament» und «Sucht» mit «Abhängigkeit» ersetzt wird. Das Bundesamt für Gesundheit hat keine Zahlen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat auch keine Zahlen. Und das Konkordat der Schweizerischen Krankenversicherer kann lediglich angeben, dass die Kosten für ambulante ärztliche Psychotherapie und Medikamente in der Grundversicherung innerhalb von sechs Jahren von 216 auf 311 Millionen Franken gestiegen seien.

Genauere Zahlen stellt einzig die «Pharma Information» des Verbands der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz zur Verfügung. Laut ihrer Aufstellung ist der Psychopharmaka-Umsatz in der Schweiz zwischen 1991 und 1997 von 201 auf 298 Millionen Franken angestiegen, wobei die sehr unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Medikamentengruppen auffällt: Während der Verbrauch von Tranquilizern minim rückläufig ist (-2,1 Prozent) und jener von Hypnotika/Sedativa (+ 12,5 Prozent) und Neuroleptika (+10,5 Prozent) leicht zunimmt, ist in der gleichen Zeit der Verkauf von Antidepressiva um 212,5 Prozent von 41 auf 128 Millionen Franken hochgeschnellt. Während 1991 die Antidepressiva 20,4 Prozent des Psychopharmaka-Umsatzes ausmachten, waren es 1997 bereits gut 42,9 Prozent.

Eine solche Entwicklung muss Gründe haben, über die man nur spekulieren kann. Erstens sind neue Produkte auf den Markt gekommen, die teuer sind; die Zunahme in Franken lässt deshalb nicht eins zu eins auf die Mengenzunahme schliessen. Zweitens waren zwischen 1991 und 1997 allgemeinpraktizierende Ärzte mit tausenden von Personen konfrontiert, die, aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden, in schwere persönliche Krisen gerieten – Antidepressiva können nicht die Welt verändern, aber allenfalls akute Krisen überbrücken. Drittens führte der Personalabbau in stationären Einrichtungen zu vermehrten Psychopharmaka-Abgaben – zu betäuben braucht weniger Zeit, als sich auf ein einfühlendes Gespräch einzulassen. Viertens, argumentiert Marc Rufer, liegen in den neunziger Jahren die antreibenden Pharmaka und Drogen im Trend. Während in den sechziger und siebziger Jahren dämpfende Substanzen wie die Benzodiazepine (Valium etc.) einen Siegeszug um die Welt machten, sind es in den neunziger Jahren Kokain, Amphetamine, Ecstasy und eben die Antidepressiva. «Eine leistungsfähige Psyche in einem gestählten Körper – das ist das Ziel», schreibt Rufer.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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