Reise durch die Psychiatrie

Psychiatrische Kliniken, Irrenanstalten, Haldol-Maschinen, Gift- oder Psychoknäste. Egal, wie die Ghettos für jene genannt werden, die hier und heute als «Irre» zu gelten haben: Die Institution der Psychiatrie ist eine verschlossene, beängstigende Welt, deren Opfer über sie zwar um den Preis des attestierten Irrsinns berichten können, aber immer schon widerlegt sind durch das wissende Schweigen der Weisskittel. Die Institution der Psychiatrie ist eine gesellschaftliche «Black box», deren Aufbau und innerer Ablauf – wie beim gleichnamigen kybernetischen System – aus den Reaktionen auf eingegebene Signale erst erschlossen werden muss. Dass die Provokation solcher Reaktionen ausserordentlich schwierig ist, zeigt die Diskussion um Psychiatrie und Psychopharmaka immer wieder: Wer in der Psychiatrie etwas zu sagen hat, hat es nicht nötig, sein Schweigen zu brechen.

Als «Wallraff der Psychiatrie» ist der Journalist Uwe Heitkamp in die «Black box» der bundesdeutschen institutionellen Psychiatrie eingedrungen, indem er zwei Selbsteinweisungen provoziert hat. Die beiden Erfahrungsberichte sind Teil seines letzthin erschienenen Reportagebuches «Wahnsinn – meine Reise durch die Psychiatrie der Republik». Nachdem er sich im Selbstversuch auf die Wirkung von Psychopharmaka vorbereitet hat, schliesst er sich an einer Party auf dem WC ein, gibt keinen Laut mehr von sich und wartet. Noch in der gleichen Nacht wird ihm auf der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik ein Napf mit Tabletten vorgesetzt mit den Worten: «Seien Sie doch vernünftig, wir wollen es Ihnen doch nicht spritzen müssen.» Die zweite Einweisung erreicht er als Autostopper, der renitent das Auto seines Chauffeurs nicht mehr verlassen will. Der entnervte Autofahrer karrt ihn direkt vor die nächste Landesnervenklinik. Kurz darauf bringt ihm im Wachsaal der geschlossenen Männeraufnahmestation ein Pfleger sein «Schnäpschen»: «50 Milligramm Haldol und Neurocil.» Als Heitkamp zögert, droht der Pfleger: «Nimm es endlich, oder müssen wir dich fixieren? Wir wollen doch keine Gewalt, oder?» Tags darauf kriegt er seine Diagnose: «Akute Psychose mit Aggressionen.» Als Heitkamps Freundin interveniert und mit dem Anwalt droht, falls man ihn nicht entlasse, fördert ein eilig anberaumtes Arzt-Patient-Gespräch eine harmlose Diagnose zu Tage: «Abnorme Erlebnisreaktion.» Heitkamp wird entlassen.

Die Erfahrungsberichte zeigen eine psychiatrische Praxis, die – verschanzt hinter den Mauern von Klinik und wissenschaftlich klingendem Jargon einer mächtigen Lobby – mit Chemie und Fäusten, mit Zwang und Gewalt Menschen in einem sinnlosen Kasernenalltag zum Schweigen bringt. Psychiatrie als Gefängnis, in dem Haft nicht aufgrund von Urteilen, sondern aufgrund von Diagnosen vollstreckt wird. Normaltherapie: «Sedierung» mittels Nervengiften. Heitkamp zitiert den Reformpsychiater Wolfgang Werner: «Psychopharmaka werde zum einen gegeben, um psychischem Leid und Erregungszuständen vorzubeugen, zum andern: weil die Personalsituation äusserst dürftig ist. Das heisst, wenn wir mehr Pfleger hätten, die sich den Patienten widmen könnten, dann kämen wir mit wesentlich weniger Medikamenten aus.»

Wohl weil Heitkamps Buch für die mächtigen westdeutschen Psychiatrie-Potentaten eine Provokation ist, hat der Luchterhand Verlag es mit einem vermittelnden Nachwort der Journalistin Carmen Thomas versehen, die seit zwanzig Jahren auf dem Thema der Psychiatrie arbeitet. Sie sagt denn auch, was sie sagen muss: Heitkamps Recherchiermethode der Selbsteinweisung sei «umstritten», «nicht gerecht», «nicht ausgewogen», zeichne ein «Schwarz-Weiss-Bild». Durch die eigene Arbeit habe sich ihre Sicht der Dinge differenziert. «Ich kann nicht mehr so wettern wie früher und nicht mehr so wie Uwe Heitkamp.» Andererseits bestreitet sie kein Wort von Heitkamps Arbeit, im Gegenteil. Sie fordert «mehr solche Bücher! Aus Erfahrung weiss ich, dass sich nur so, nur mit Krach, etwas bewegen lässt in diesen verkrusteten Strukturen. Der schönen Worte sind genug. Sie haben in zwanzig Jahren zu wenig bewirkt.»

Uwe Heitkamp: Wahnsinn. Meine Reise durch die Psychiatrie der Republik, Frankfurt am Main (Luchterhand) 1989.

Der Beitrag wurde in der WoZ unter dem Titel «Wahnsinn» veröffentlicht.

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