Der Staat gibt einen Fehler zu

Am 20. Januar 1994 hat das Kassationsgericht des Kantons Zürich eine Nichtigkeitsbeschwerde abgewiesen und das Obergerichtsurteil bestätigt: Der Kanton Zürich hat dem Psychiatrieüberlebenden W. 130000 Franken Genugtuung für «immaterielle Unbill» zu entrichten, den dieser in der psychiatrischen Klinik Rheinau erlitten hat (inkl. Zins seit 1984 werden ungefähr 190000 Franken ausbezahlt).

Nach einigen geringfügigen Delikten hatte W. 1960 wegen «Geistesschwäche» einen Vormund erhalten.[1] 1961 kam er in eine Arbeitserziehungsanstalt und – weil er dort die Arbeit verweigerte – kurz darauf in eine psychiatrische Anstalt; der Doktor tippte auf «chronische Schizophrenie». Mit dieser «Diagnose» war W.’s Kampf um die sofortige Entlassung jahrezehntelang aussichtslos. Erst 1984 liess ihn die Klinik gehen. W. forderte nun vom Kanton Zürich 250’000 Franken Genugtuung. Das Bezirksgericht wies diese Forderung zwar ab, aber das Obergericht gab ihm in zweiter Instanz teilweise recht. In einem gemeinsamen Gutachten waren der Reformpsychiater Asmus Finzen und der Antipsychiater Marc Rufer zum Schluss gekommen, dass insbesondere W.’s Dauermedikation mit dem Neuroleptikum «Leponex» zwischen Juli 1980 und März 1982 faktisch als ärztlicher Kunstfehler zu gelten habe (in dieser Zeit wurde W. mit 500 bis 800 Milligramm «Leponex» täglich «behandelt»; die Herstellerfirma gibt 600 Milligramm als Tageshöchstdosierung an).

Kein Weiterzug

Mit dem Spruch des Kassationsgerichts wird das Obergerichtsurteil zugunsten W.’s rechtskräftig. Ein Weiterzug ans Bundesgericht kommt nach Ansicht von Rechtsanwalt Thomas Wyss, der in diesem Handel den Kanton vertreten hat, nicht in Betracht. Die Präzedenzwirkung, die von diesem Urteil ausgehen wird, erachtet Wyss als gering. Entschieden werde ja auch weiterhin im Einzelfall.

Auch W.’s Anwalt Edi Schönenberger warnt vor übertriebenen Hoffnungen: «Ab und zu braucht es tröpfchenweise Zugeständnisse, um das ganze System zu retten. Von 1000 Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen, die nach Strassburg gezogen werden, werden deren 997 abgewiesen oder nicht behandelt, die gutgeheissenen drei sanktionieren umso wirkungsvoller die herrschende Ungerechtigkeit.» Für Schönenberger ist das Urteil im Fall W. «ein Symbol»: «Es ist etwas vom Schwierigsten, den Staat zum Eingeständnis zu bringen, dass er einen Fehler gemacht hat. Dies ist in diesem Fall gelungen.»

Psychex boomt

Im Kanton Zürich gibt es 5000 Psychiatriebetten, die Mehrheit der Eingewiesenen belegt sie gezwungenermassen. In den achtziger Jahren haben jährlich etwa 250 Zwangspsychiatrisierte versucht, sich zu wehren, durchschnittlich zehn waren erfolgreich. 1989 wurde vom Rechtsanwalt Edi Schönenberger der Verein Psychex gegründet, der innert kurzer Zeit mittels Bundesgerichtsentscheide die kantonale Psychiatrische Gerichtskommission zu einer neuen Praxis zwang, bei der statt des ärztlichen stärker ein juristischer Begriff von «Geisteskrankheit» gewichtet wird: Ein Menschen gilt nicht mehr dann als «krank», wenn’s ein Doktor behauptet, sondern dann, wenn sein Verhalten für «besonnene Laien» nicht mehr nachvollziehbar ist. Seither betreibt die Zürcher Jurisprudenz die humanere Psychiatrie. Kamen im Kanton Zürich 1989 achtzehn Zwangspsychiatrisierte über den Richter frei, nahm danach die Zahl sprunghaft zu auf 41 (1990), 110 (1991), 80 (1992) und 71 (1993). Der Erfolg von Psychex hat sich schnell herumgesprochen: Die Anzahl der Dossiers von Hilfesuchenden, die sich unterdessen beim Verein aus allen Kliniken der Schweiz melden, stieg in einem Jahr von 365 Ende 1992 auf 547 Ende 1993.

[1] Die hier kurz resümierte Geschichte hatte der kritische Psychiater Marc Rufer drei Wochen zuvor in der WoZ 3/1994 detailliert dargestellt.

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