Im Zweifelsfall kuschen

Die Zeitungen und der Kulturboykott

Obschon eine Umfrage des «SonntagsBlick» (6.5.1990) ergeben hat, dass immerhin 39 Prozent der Schweizer Bevölkerung einen Kulturboykott der 700-Jahr-Feier als «gerechtfertigt» betrachten, lehnt ihn die Presse grossmehrheitlich ab. Ausser der «Friedenszeitung» (Mai 1990), der «Zytglogge-Zytig» (Mai 1990) und der «Alternative» (Juni 1990) gehen sie allesamt auf deutliche Distanz; geschwiegen haben bisher zum Beispiel die NZZ und «Der Bund».

Eine scharfe argumentative Kurve hat der «SonntagsBlick»-Kolumnist Frank A. Meyer in den letzten Monaten gemacht. Ausgehend von Gerold Späths Rückzug seines Hörspiels nimmt er am 28. Januar im Hinblick auf die «700-Jahr-Feier» eine Forderung der späteren Kulturboykott-Drohung voraus: «vollumfänglichen Einblick» in die Dossiers der Bundesanwaltschaft. Einen Monat später, am 25. Februar, haben bereits über 500 Kulturschaffende diese Drohung unterschrieben. Jetzt fordert Meyer «einen neuen politischen Stil», einen «runden Tisch» und «einen demokratischen Aufbruch»: «Der Protest der Schriftsteller und Künstler ist ein Angebot.» Am 27. Mai schliesslich, unterdessen geht es um den Kulturboykott 700, fordert Meyer gar nichts mehr: «Die Boykottaktion wird aus der linksradikalen Ecke heraus geschürt.» Soweit Meyers demokratischer Aufbruch.

Dass der Kulturboykott 700 «aus der politisch linken Ecke» stamme, hat am 14. April im «Tages-Anzeiger» bereits Toni Lienhard als «negativen Aspekt eines Boykotts» herausgestrichen. Genauer weiss es Reinhardt Stumm in der «Basler Zeitung» (15.5.): Der Kulturboykott sei eine «Werbekampagne der ‘WochenZeitung’». Im übrigen qualifiziert er ihn wie folgt: «Mit dem falschen Argument auf der falschen Scheibe eine Zwölfer geschossen.» Karl Bühlmann in den «Luzerner Neusten Nachrichten»: «Für Saturiertheit und Kreativitätsmangel sind Fichen keine Ausrede.» (20.4.1990) L. H. im «St. Galler Tagblatt»: «Kulturboykott: Kultur boykottiert sich selbst – nicht ohne plausiblen Grund. Denn wo hätten die Hundertschaften von Boykotteuren je gezeigt, dass sie der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Staat gewachsen sind?»

Für Christian Seiler in der «Weltwoche» bewirkt der Kulturboykott «die handfeste Polarisierung der Schweizer Künstlergemeinde, deren eine Hälfte die andere für jeweils dogmatisch oder unanständig hält». Er lässt aber offen, ob der Boykott «der Beginn einer grundsätzlichen kulturpolitischen Diskussion» ist, «die das alte, schmerzliche Verhältnis zwischen Macht und Kunst neu aufrollt». (3.5.1990) Für Christian Rentsch ist der Boykott ein «Rückzug ins Réduit der Gesprächsverweigerung». Er empfiehlt den Kulturschaffenden «harmlose Provokationen» und, den «aufsehenerregenden Rahmen zu brauchen, von mir aus zu missbrauchen, mitzumachen und die ganze Feier in ihrem Sinn für ihre Zwecke umzufunktionieren». (5.5.1990) Noch dezidierter plädiert Helen Brügger im «Vorwärts» für das Mitmachen aus staatspolitischer Verantwortung: Sonst blieben «die Bestätigungsfeierer unter sich»: «Wie in Zeiten unseligen Gedenkens kann die Harmonisierungsfunktion der vaterländischen Manifestationen voll spielen. Eine von der Linken verpasste Gelegenheit mehr.» (20/1990) Josef Bossart schliesslich, für den der Kulturboykott eine Auseinandersetzung zwischen kulturpolitischen Fundis und Realos ist, schreibt: «Im Zweifelsfall bin ich gegen ein ‘kulturpolitisches Signal’ (‘Boykott 700’), das letzten Endes resignierte Selbstaufgabe zur Folge haben muss.» («Berner Zeitung», 28.5.1990)

Zweifellos verschiedene bedenkenswerte Argumente. Einzuwenden ist lediglich, dass sich keine grössere Schweizer Zeitung leisten könnte, redaktionell für den Kulturboykott Stellung zu nehmen – sogar wenn das die Redaktion möchte.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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