Vorschlag zur Unversöhnlichkeit

 

EDITORISCHER HINWEIS

Ausgehend von der Kritik Niklaus Meienbergs, der Roman «Das Staunen der Schlafwandler am Ende der Nacht» von Otto F. Walter und der Spielfilm «Glut» von Thomas Koerfer seien «subrealistisch», weil sie ohne genügende Recherche «willkürlich ins Blaue hinaus fiktioniert» worden seien, hat die WochenZeitung WoZ im Winter 1983/84 eine Debatte um diesen Vorwurf dokumentiert. Ihr Abschluss und Höhepunkt bildete ein Gespräch zwischen Meienberg und Walter, das Lotta Suter und Fredi Lerch geführt haben. Dieses Gespräch wurde zuerst in der WoZ in Auszügen und später in der WoZ-Broschüre «Vorschlag zur Unversöhnlichkeit. Realismusdebatte Winter 1983/84» (Nationalbibliothek, Signatur: Nbq 10044) integral dokumentiert. Hier wird die integrale Fassung wiederveröffentlicht.

Die Transkription der (verlorenen) Tonbandaufzeichnung ging damals in je einer Fotokopie an Walter und Meienberg, die so Gelegenheit hatten, ihre eigenen Statements redaktionell zu überarbeiten. Diese beiden handschriftlich korrigierten Kopien liegen – als Teil der WoZ-Dokumentation zur Realismusdebatte –in Meienbergs Nachlass (Schweizerisches Literaturarchiv Bern, Signatur: D-6/8-14, insbesondere D-6/11).

Für die Zustimmung zur Wiederveröffentlichung Dank an Lotta Suter, für die Transkription des Gesprächs Dank an Liliane Rihs.

© Lotta Suter und Fredi Lerch

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Das Gespräch hat am 27. April 1984 im Sitzungszimmer der WoZ-Redaktion an der Kornhausstrasse 49 in Zürich stattgefunden. In einem kleinen einleitenden Text ist in der WoZ-Broschüre die Gesprächssituation wie folgt skizziert worden: «Auf dem Tisch standen zwei Flaschen Rotwein (‘Patriarche’), ein Karton mit Spez-Bier, zwei Liter Rhäzünser, eine Schüssel mit Pommes-chips; dann waren da zwei Tonbandgeräte, Reservebatterien, Kassetten, Papier, darunter ein Paper mit den Diskussionsschwerpunkten, das wir als Orientierungshilfe verwenden wollten. Gertrud [Vogler, die WoZ-Fotografin, fl.] prüfte die Lichtverhältnisse und bestimmte die Sitzordnung. Gut vorstellbar: Eine gewisse Spannung im Raum. Wir starteten die Tonbandgeräte.»

[Broschürenpaginierung: 60]

1. Über das Getto der Freiheit des Literarischen

Abgrenzungen – Klassenkampf in der Sprache – Über die Wirkung von Texten – das Getto der Freiheit – Diffuse Realität.

WoZ: In unserem Papier mit den Diskussionsschwerpunkten haben wir euch in Stichworten charakterisiert und gegeneinander abgegrenzt. Dich, Otti, bezeichneten wir als einen Schriftsteller, der einerseits aus dem Zeitgeist, aus der direkten Umgebung, also jener eines Schweizer Intellektuellen, schöpft. Deine Art des Schreibens bezeichneten wir als reflektierend, suchend auf Grund von Verunsicherungen. – Dich, Niklaus, nannten wir klassenkämpferisch in dem Sinn, als du Mächtige und ihre Opfer darstellst, Deine Themen immer wieder an den Bruchstellen des Systems findest. Deine Art des Schreibens: Recherchierend, um Recht und Unrecht zu scheiden. – Könnt Ihr mit dieser Charakterisierung etwas anfangen?

Otto F: So pauschal, ok. Ich meine schon, dass ich meine Themen nur schreibend aus mir selber holen kann, im Bewusstsein, dass ich ein Produkt dieser Kultur bin; dass sehr viel kulturelles Geröll in uns allen vorhanden ist. Dass ich aus meiner direkten Umgebung schöpfe, stimmt, wenn damit mein Erfahrungsraum gemeint ist: Das ist zum Beispiel meine Kindheit, das ist eine definierte Region hier in der Schweiz. Ich bin einer von dort. Das ist ein wichtiger Steinbruch für alles, was ich als Rohstoff bei meiner Arbeit verwende. Es gibt aber auch intellektuelle Erfahrungen, es gibt psychische Erfahrungen; deren «Welthaltigkeit» ist, glaube ich, nicht davon abhängig, ob ich sie auf dem Flughafen von Orly mache oder in Tokio. Das gilt gerade auch in unserer Industriegesellschaft, die weltweit immer mehr die gleichen Druckmechanismen erzeugt, sich in den gleichen Bildern und in der Überflutung durch die gleichen Bilder äussert. Ich meine: Es gibt «welthaltige» Erfahrungen, die ebenso gut im hinteren Simmental gemacht werden können, gemacht von einem Ich mit seiner ganz spezifischen Herkunft.

WoZ: Niklaus, in Deinen Texten hat man das Gefühl, dass nur die Mächtigen und ihre Opfer vorkommen, dass vieles dazwischen wegfällt als Nicht-Bruchstelle und deshalb als nicht interessant.

Niklaus: Ich find Eure Charakterisierung schematisch. So wie ihr mich charakterisiert, sieht mich ungefähr die NZZ. Was der Otti jetzt gesagt hat, könnte ich für mich unterschreiben: die eigene Kindheit, der eigene Erfahrungshintergrund. Darüber habe ich auch geschrieben. Ich weiss nicht, ob’s gut ist. Es wird auf jeden Fall – weil’s nicht ins Schema passt – nicht zur Kenntnis genommen.

Ich kann das nicht derart auseinanderhalten, wie Ihr das macht: Klassenkämpferisch, geht auf die Leute los, bezieht sich selber nicht ein. Ich glaube, dass ich mich in jedem Text, den ich schreibe, auch selber einbeziehe, ohne dass ich explizit davon rede. Die Art, wie ich durch meine Optik einen Teil der Wirklichkeit wahrnehme, wie ich diesen Teil in die Sprache bringe, das hat sehr viel mit subjektiv zu tun. Ich weiss nicht einmal, ob ich ein Klassenkämpfer bin, wie Ihr sagt. Den Ausdruck find ich gefährlich, der kommt in die Nähe von Verkrampfung, so ungefähr: Der weiss, wer die Kleinen und wer die Grossen sind, steht auf der Seite der Kleinen und kämpft. Grad so einfach seh ich das natürlich nicht. Es gibt zwei, drei Sachen, die ich geschrieben habe, die zu reden gaben, wo das drin ist. Aber Bavaud zum Beispiel habe ich nicht einfach heroisiert; dieser Hitlerattentäter ist zugleich ein armer Siech und ein Kämpfer, alle Widersprüche sind in dem drin.

WoZ: Wobei Du für dein Bavaud-Buch den Untertitel «Hitler töten» gewählt hast und so den kleinen Bavaud in direkte Relation stellst zum grossen Hitler.

Niklaus: Hitler ist ja auch im katholischen Milieu aufgewachsen, den kannst du nicht ohne das sehen. Das bringt mit sich, dass ich das ganze Milieu in Frage stellen muss, das Heroen hervorbringt, Heroen nötig macht. Dass Bavaud, um auszubrechen, nur die Möglichkeit hat, Missionar zu werden und dann eine missionarische Berufung darin sieht, ein Attentat auf Hitler zu machen, sehe ich nicht klassenkämpferisch. Bavaud ist von seiner ideologischen Motivation her der klassische Fall für einen Nicht-Klassenkämpfer.

WoZ: So wie Ihr jetzt redet, öffnet ihr euch gegenüber den Charakterisierungen, die wir für den jeweils anderen gebraucht haben.

Otto F: Was den Eindruck des Gemeinsamen noch verstärken würde, ist, dass wir Partei ergreifen, dass wir mit je unseren Mitteln versuchen, die Klassenlage unserer Figuren präzis darzustellen und sie damit natürlich schon auch in den grossen Zusammenhang von oben und unten stellen.

Niklaus: Klassenkampf findet für mich in der Sprache statt, aber das Wort «Klassenkampf» würde ich ungern brauchen. Versuchen, die Sprache wieder zurückzuerobern, die verwaltet wird von Leuten, die nichts mit uns zu tun haben, die offensichtlich schädlich sind für uns. Diese Anstrengung findet bei jedem Adjektiv statt, beim Rhythmus eines Satzes, den du anders machst als die Reklamensprache oder die abgenutzte Zeitungssprache. Oder hochgestochen ausgedrückt, wie die Strukturalisten sagen: Im «Signifié» findet Klassenkampf statt. Wenn man Klassenkampf machen will und hat zwar die richtigen Ansichten, aber in der Sprache selber findet nichts statt, dann votiere ich im Zweifelsfall für Proust gegen Wallraff.

WoZ: Otti, Du sagst: Die Klassenlage der Figuren klar darstellen, Du Niklaus, Klassenkampf finde innerhalb der Sprache statt. Und doch wirken Eure Sachen ganz verschieden. Die gleichen Leute – nehmen wir das Etikett «Bildungsbürgertum» – die Bücher wie die Deinen, Otti, gern lesen, haben wegen Artikeln von Dir, Niklaus, die WoZ abbestellt.

Otto F.: Ich glaube, das hat mal mit dem Unterschied der Temperamente zu tun, mit denen die Welt gesehen und durch die deine und meine Sprache verwendet wird. Es hat aber auch mit dem Umstand zu tun, dass etwas, was als Literatur auftritt, in einer Gesellschaft von Bildungsbürgern immer noch Freiraum hat. Im Buch, im Roman kannst du noch verhältnismässig weit gehen und hart formulieren, ohne dass du auf Zensurmechanismen stösst. Das kann zwar noch kommen, aber es ist vorläufig noch nicht so. Ein wichtiger Punkt kommt dazu: Dass Literatur das Medium des Indirekten ist.

WoZ: Du bringst das, was Du sagen willst, also besser

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durch, wenn du es in Büchern, schrittchenweise, tastend, suchend darstellst?

Otto F.: Ich weiss nicht ob ich mir das so genau überlege. Irgendwo ist ja natürlich auch bei uns eine Schwere im Hinterkopf, das ist klar. Aber ein Manifest, wie es in meinem letzten Buch steht – dass jetzt Krieg herrsche – das lässt an Deutlichkeit nichts offen. Das ist in einem Roman noch möglich. Wenn ich diesen Text als Manifest von mir an einer Pressekonferenz verkünden würde, dann käme ich wahrscheinlich ziemlich rasch id Schiissi.

Niklaus: Hat das, was du jetzt sagst, nicht auch die Bedeutung, dass es zwar den Freiraum der Literaturproduktion noch gibt, aber dass er gar nicht mehr relevant ist? Das heisst, dass man zwar Dinge in Büchern fiktional sagen kann, die als Literatur von einem relativ grossen Publikum konsumiert werden können, dass diese Dinge aber keine Wirkung mehr haben ausserhalb einer literarischen Diskussion, die kaserniert ist auf Kulturseiten, auf Lesungen, auf Radiosendungen. Und sobald’s dann halt ein bisschen konkreter, dokumentarischer wird, ist es fertig mit dem Freiraum, dann kommt die Zensur.

WoZ: Wie stellst Du Dir denn die Wirkung Deiner Texte vor, Niklaus, die ja öfter in Zeitungen als in Büchern anzutreffen sind?

Niklaus: Das ist total verschieden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Bücher oder einzelne Stücke in Büchern von mir zwar gelobt werden – nehmen wir als Beispiel die Saurer-Reportage, die ausdrücklich gelobt wurde vom «Vaterland» über den «Tages-Anzeiger» bis zum «Bund» –, aber wem werden diese Besprechungen serviert? Dem Literaturpublikum. Und auf meine Frage, ob diese Reportage im TA-Magazin hätte abgedruckt werden können, sagt Peter Frey: Ja, vor vier Jahren vielleicht noch, aber jetzt nicht mehr. Der gleiche Text wird auf der Kulturseite als Teil von Literatur und Kultur behandelt. Hier sehe ich einen wahnsinnigen Widerspruch, wie so etwas wirkt.

Otto F.: Ich bin Deiner Meinung, dass es sich unsere Gesellschaft leicht macht mit dieser Liberalität der sogenannten Literatur gegenüber: Wir können im Literarischen fast alles sagen: Mir fällt im Moment kaum ein Tabu ein, mit dem man vor fünfzig Jahren in der Literatur noch gewissermassen als Bürgerschreck die Gesellschaft aufjagen konnte, das man heute in dieser Funktion in Literatur verpackt noch mitgeben könnte. Ich kann fast alles sagen, aber die Texte sind abgeschoben auf eine Spielwiese und damit entschärft. Das ist auch eine Form von Zensur.

WoZ: Wäre möglich, dass der Freiraum, den Du Dir nimmst mit Deinen literarischen Arbeiten, sich immer mehr in ein Getto verwandelt?

Otto F.: Ja, genau. Das fällt mir auch auf im Gespräch mit Kollegen aus der DDR, die darauf verweisen können, dass ihre Produktion auf scharfe politische Reaktion stösst, auf heftigste gesellschaftliche Auseinandersetzung. In unserer Konsumwelt ist alles ungeheuer gefährdet, im riesigen Strom von Konsumgut zu verkommen oder missbraucht zu werden. Das treibt Literatur – oder jedenfalls mich beim Schreiben – immer wieder dazu, Widerstände in die Texte einzubauen, dem Konsumieren, dem herrschenden Literatur-Code entgegenzuarbeiten.

WoZ: Aber immerhin bist Du mit Deinem Buch während des ganzen Winters in den Bestsellerlisten gewesen. Wo sind denn in Deinem Buch die Widerstände gegen das Konsumieren?

Otto F.: Widerstand zum Beispiel, indem ich ein Buch vier- und fünfstöckig anlege; indem ich spiele mit der Frage: Was ist innerhalb des fiktionalen Rahmens Fiktion? Oder: Was ist – wenn ein Teil meiner Fiktion eine Fiktion der Fiktion ist – die sogenannte Wirklichkeit? Welche Wirklichkeit steht noch dahinter? Und so weiter. Oder: Indem ich versuche, die «Operative Montage» weiterzuentwickeln, indem ich also Texte hereinhole, die bis in die Urgeschichte zurückgehen, die andererseits aus der Börseninformation stammen oder aus dem Volkslied. Indem ich parallel zu einem Romangeschehen eine Geschichte von Gottfried Keller einbaue als Zitat, indem ich wissenschaftliche Texte verwende. Also: indem ich ein Instrumentarium entwickle, das mir erlaubt, zu reagieren auf das, was als diffuse gesellschaftliche Realität auf mich eindringt und mir ermöglicht, Lesegewohnheiten, Schreibtraditionen aufzubrechen. Um es präziser zu versuchen: Diffuse Realität ist für mich das Gegebene, das nicht mehr einfach in schlichte, sofort erkennbare Grundmuster aufzulösen ist, in König und Volk oder so etwas. Heute ist es auch nicht mehr der Unternehmer als Person, der mit seinem Unternehmen zwar die ganze Region dominiert, dem aber die Heimarbeiter und die Arbeiter abends um acht auf die Bude steigen und sagen: Gopferdami, wir wollen endlich die 58-Stunden-Woche. Haften als Person tut keiner mehr. Macht verrutscht immer mehr in eine längst nicht auf den ersten Blick erkennbare Anonymität, sie schachtelt sich in Holdings, sie wird repräsentiert von auswechselbaren Figuren, Managern. Macht tritt nicht mehr offen auf, sie geht immer mehr in Deckung, tarnt sich. Ein Text, der auf solche unterschwellige Veränderungen reagiert, wird zwangsläufig auch formal komplex und also schwer nur einfach konsumierbar. Solche Veränderungen schlagen durch bis auf den Satzbau – traditionell «schöne» Sätze, musikalisch harmonische Sätze, verkommen zur Kalligrafie und klingen plötzlich nur noch wie Wiener Walzer.

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2. Das Besondere ist das Exemplarische ist das Allgemeine?

Über das Namennennen – Das Exemplarische im Detail – Das Exemplarische in der Abstraktion vom Einzelfall – Zum Beispiel: Frischs «W.» in «Montauk».

WoZ: Ist diese Auswechselbarkeit der Macht-Repräsentanten ein Grund, weshalb Du in Deinen Büchern keine konkrete Namen nennst?

Otto F.: Ich nenne Namen, massenhaft. Jedoch: Wenn ich über etwas schreibe, das mich empört und ich diesen konkreten Fall in einem Roman aufnehme, dann funktioniert das doch so, dass jeder, der das liest, sofort weiss: Aha, das ist der bekannte Fall X, den das Buch unendlich viel später als jedes andere Medium auch noch erzählt. Im Versuch, das Allgemeinere sichtbar zu machen – beispielsweise: Pressekonzentration, die ich für verheerend halte – kann es meiner Meinung nach tauglich sein, von einer «Schweizer Zeitung» zu reden, damit die Geschichte nicht sofort abrutscht in die Schublade: Das kenn ich ja schon. Wenn ich also erzähle, dass eine Zeitung verkauft wird, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem «Tages-Anzeiger» hat, dann ist das ein Fall, der in der Realität beim Tagi zwar nicht, tendenziell in der Presselandschaft heute aber dauernd stattfindet. Aber wichtig: Ich schreibe keine Romane über «Fälle». Das kann die Reportage besser. Ich erzähle von Leuten. Und die leben in einer Welt, in der es auch skandalöse Fälle gibt, als Hintergrund.

WoZ: Wenn wir diese diffuse Realität voraussetzen, diese Anonymität der Macht, ist es dann nicht ein wenig naiv, Niklaus, wenn Du auf der anderen Seite konkrete Namen nennst, wenn Du beispielsweise den Farner noch posthum in die Pfanne haust?

Niklaus: Das Funktionieren der Macht kann meiner Ansicht nach immer nur an ganz präzisen Beispielen gezeigt werden, wo möglichst detailliert geschildert wird, wo der Ablauf der Machtentfaltung sinnlich fassbar ist, bestimmte Namen hat, Farben, bestimmte Gefühle, Gedanken auch, eine bestimmte Wut hervorruft. Und hier meine ich schon, dass es trotz aller diffusen Macht, die es heute gibt – technologische Macht zum Beispiel – bestimmte Figuren hat, die halt wirklich fast monarchisch funktionieren. Zum Beispiel Farner, dessen Beerdigung als  das  gesellschaftliche Ereignis in Zürich stattgefunden hat, an die alles kam, was im Werbe-Business Rang und Namen hat und der posthum – obschon alle in der Kirche wussten, dass der ein unchristliches Leben geführt hat – öffentlich zu einem guten Christ gemacht wird. Es scheint mir schon exemplarisch, wenn dieser Anlass in einer der grössten Kirche Zürichs stattfindet und in eine zweite Kirche direkt übertragen wird, und wenn zugleich jener Schriftsteller, der – zwar fiktiv, aber präzis – zu beschreiben versuchte, wie jene Macht funktioniert, eine Abdankung erhält, an die zwanzigmal weniger Leute hinkommen. Wenn du diesen Typ zeigst, ganz individuell, persönlich, wie er funktioniert hat, dann musst du ihn nicht dämonisieren oder als Manipulator darstellen. Aber du bist einfach am Schnittpunkt, wo die Fäden zusammenlaufen, wo sich sehr viel gesellschaftliche Macht trifft.

Und in die Pfanne hauen, was heisst das? Diese Abdankung ist eine Selbstdarstellung einer bestimmten Gesellschaft, und das interessiert mich. Wenn ich dann sage, was da gelaufen ist, dann heisst der Farner halt Farner und der andere heisst Vogelsanger und der Nachfolger vom Farner heisst Bleustein-Blanchet. Wie die Leute einander auffressen in dem Business, das muss man dann eben schon mit Details belegen. Dann kann die Geschichte eventuell exemplarisch werden für einen gewissen Ablauf oder für eine gewisse Schicht. Und dann übertrifft der Text – wie ich meine – auch die Fiktion. Wenn du dieses Begräbnis erfinden würdest, wie dieser Farner quasi heiliggesprochen worden ist von einem der bedeutendsten Kanzelredner hier, dann würde dir doch vorgeworfen, dass du als Fiktionalist dein Metier nicht beherrschst, dass du das nicht so schreiben kannst. Aber dokumentarisch kann ich das schreiben. Das heisst dann noch nicht, dass der Text ein platter Abdruck der Wirklichkeit sein soll. Alles was zusammenkommt an deinen Gefühlen, das ist dann überhaupt nicht mehr Realismus. Der Grundimpuls für diesen Text ist zum Beispiel der Zorn über dieses Ereignis, der sich mit Hohn mischt, und das geht dann weit weg von einem platten, fotografischen Abbild, von einer Totalen.

Otto F.: Noch einmal zurück zum Diffusen, von dem wir dauernd überflutet werden: Es ist nicht so, dass es nicht durchschaubar wäre, dass es nicht als von Menschen, von Interessen, von geschichtlich benennbaren Kräften veranstaltet durchschaubar wäre. Dieses Durchschauen setzt aber das Einsteigen in den jeweiligen Fall voraus. Was du aus dem «Fall» zurückbringst und in welcher allgemeineren, ausgeweiteteren Form du ihn dann in ein Romanensemble einbringst, wie du das machst, das entscheidet über die Frage, ob dir chiffrenhaft etwas Exemplarisches gelingt oder nicht. Ob einzelne Figuren aus einem schriftstellerischen Werk letzten Endes exemplarische Bedeutung erhalten oder nicht, kann man nur den Lesern, der Erfahrung einer Epoche überlassen.

Niklaus: Ein Beispiel für ein Exemplarisches, das mich in den letzten Jahren sehr beeindruckt hat: Die Abhängigkeit, die Max Frisch im «Montauk», soweit ich das beurteilen kann, mit sehr grosser Ehrlichkeit schildert, die ihn an W. gebunden hat, an Werner Coninx. Das ist für mich eine Archäologie der Abhängigkeit: Als Frisch den Typ auf der Strasse sieht, kommt ihm in den Sinn, was mit ihm zwanzig oder dreissig Jahre früher passiert ist. W. hat ihm Geld gegeben, hat ihm das Studium ermöglicht, hat ihm die Skis bezahlt, ihm das Billett bezahlt, wenn sie zusammen Bergtouren gemacht haben, Frisch hat die alten Tennishosen von seinem Freund ausgetragen und in einer alten Garage Bilder für die Familie Coninx verkauft. Frisch hat hier die Machtfrage gestellt: Wie wirst du abhängig und wie wirst du unabhängig und wie funktioniert das in unserer Gesellschaft? Zum Teil banal, zum Teil brutal, zum Teil vielleicht ein wenig diffus. Die Geschichte von W. ist für mich eine sehr grausame und sehr authentische Geschichte.

Das wäre für mich exemplarisch: Bis an den Grund der eigenen Erfahrungen hinuntersteigen, immer weiter, immer ehrlicher, die Geschichte wird immer verreckter: Sie beginnt an der Oberfläche, und dann geht’s durch alle Stöcke hinunter. Das ist absolut grauenhaft, bis ins Alter von 35 oder 40 ist Frisch von jenem W. ab-

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hängig gewesen. An diesem Erlebnis hat Frisch für mich exemplarisch die Machtfrage dargestellt.

Otto F.: Kein Einwand. Frischs Geschichte ist aber gerade nicht recherchierte Enthüllungsprosa über einen öffentlichen Fall. Ihre Stärke kommt aus der ganz subjektiv erlittenen Erfahrung und aus dem literarisch-künstlerischen Gelingen.

Niklaus: Ja, natürlich, ja, aber die Erfahrung ist schmerzhaft präzis, détailgenau dargestellt.

3. Werkstatt (I): Wege zum Text

Die Suche nach dem weissen Wal – Zuerst der Einfall, dann die Recherche – Die Wirklichkeit ist immer verreckter als die Fiktion – Schreiben: Figuren führen oder von Figuren geführt werden – Montage als letzte Fiktion – Kamera(s) als literarische Methode – Resignation darstellen.

WoZ: Was jetzt wichtig wäre – bevor wir uns weiter über Eigenarten Eurer Arbeiten unterhalten: Darüber zu sprechen, wie Eure Arbeiten zustande kommen: Wie sucht Ihr Eure Themen? Wie sucht Ihr Euer Material, wie verarbeitet Ihr es? Wie schreibt Ihr?

Otto F.: Gut, ich fang mal an. Ein Bild: Ihr kennt die Geschichte von der Jagd nach dem weissen Wal. Der Walfischfänger Ahab – im Roman «Moby Dick» von Herman Melville, einem fantastischen Buch –, ist besessen von der Idee, das Fabelwesen des weissen Wals irgendwo in den Weltmeeren zu stellen. Er heuert eine Mannschaft an und segelt mit seinem Schiff los, hört mal hier, mal dort, der Wal sei gesehen worden. Im indischen Ozean stellt er ihn schliesslich, es kommt zu einem dreitägigen Kampf. Am Schluss ist der Dreimaster von Ahab zertrümmert, die Mannschaft ist ersoffen, und ein Untermaat, der Ismael, kommt zu den Lebenden zurück und erzählt die Geschichte. – Oder: Es setzt sich ein Mann in meinem Alter ans Klavier. Seit Monaten spukt irgendein Motiv in seinem Hinterkopf herum und er versucht, die Töne zusammenzufinden, die diesem Motiv entsprechen. Immer wieder verreckt das ab. Er versucht es immer wieder in neuen Tonlagen und Tonarten. Plötzlich hat er das Gefühl: Doch, das ist es. Er setzt noch mal an, noch mal. So kommt langsam das Motiv in Gang, auch das Gegenmotiv, für die Streicher, für die Bläser, für den Bass, fürs Schlagzeug. Er schreibt drei Jahre lang und am Schluss ist die Sinfonie fertig, der Roman liegt vor.

Dies sind Bilder, die – wie ich glaube – in der Tiefe mit dem Schreiben sehr viel zu tun haben. Schreiben bei mir als Spiel und als ein Akt der Selbstbehauptung. Auch der Notwehr: eine Möglichkeit zu reagieren auf den Druck, den gesellschaftlichen Druck von aussen, den psychischen Innendruck. In den Bildern und Chiffren, die entstehen, kann ich im Schreiben, im fiktionalen Schreiben etwas bannen, zuerst für mich selber. Die Figuren, die da entstehen, in Entwürfen, in immer neuen Anläufen, die stehen aber nicht solo im luftleeren Raum, die sind in einem gesellschaftlichen Umfeld, auch wenn sie, wie zum Beispiel meine letzte Figur, Wander, von Anfällen von Resignation, von Isolation und Vereinsamung heimgesucht werden.

Es kommt nun bei der Arbeit etwas Entscheidendes dazu: Natürlich komme ich irgendmal mit meinem privaten Erfahrungsmaterial – «natürlich» ist falsch: möglicherweise – nicht aus. Wenn ich beispielsweise einen Fotografen als Hauptfigur, als Pilotfigur nehme, dann muss ich mich belehren lassen, wie man fotografiert, in welchen fotografischen Kategorien ein Fotograf denkt. Wenn in einem Buch von mir eine Stadt dominiert wird von einem Zementwerk, die ganze Region weiss überpudert ist – die Leute haben entzündete Augen davon –, de muess i go luege, wie Zement eigentlich hergestellt wird. Vom Steinbruch über den Transport bis zum Mahlwerk: Dann brauch ich das.

WoZ: Zuerst ist also ein Motiv da, dann versuchst Du das Motiv aufzufüllen und gehst allenfalls hinaus. Primär ist es also nicht der Fotograf, der Dich interessiert.

Otto F.: Nein: Der Fotograf dient mir für das, was ich an Realität hereinholen will und für das, was ich in mir habe.

WoZ: Zuerst ist also Deine fiktive Figurensetzung.

Otto F.: Nein. Zuerst sind ein paar Wörter, ein Bild, eine Fassung, Tonlagen. Wobei ich mir nicht einen Plan mache, meine Einfälle aufschreibend und danach sage, das und das ist das Thema, jetzt beginne ich zu recherchieren und am Schluss stelle ich dann alles zusammen und schreibe das Buch: Das kann ich nicht. Mir fällt erst beim Schreiben selbst etwas ein. Ich bin süchtig: nach Schreiben, nicht nach Themen. Sonst würde ich Aufsätze schreiben.

WoZ: Niklaus, wie findest Du Deine Themen und wie setzt Du sie um?

Niklaus: Ich habe eigentlich nie das Gefühl, dass ich Themen finde oder sie auch nur suche. Die Themen fallen über mich her, ich werde von Themen heimgesucht und ich muss mich eigentlich jeden Tag wehren, dass es nicht zu viel wird. Während ich an einem Thema arbeite, kommt das nächste und das übernächste. Ich habe schon sehr viele Geschichten – mindestens so viele wie ich dann geschrieben habe – angefangen, weil ich von etwas gehört habe, das mich fasziniert hat, im Verlauf der Untersuchungsarbeiten oder Recherchierarbeiten oder Entdeckungsarbeiten das Ganze dann aber wieder aufgegeben, weil ich merkte, dass an der Geschichte eigentlich nichts Neues mehr ist, dass ich aufpassen muss, mich nicht zu wiederholen, weil ich da auf ein bereits betretenes Terrain komme. Ich werde von Sachen, die mich interessieren, quasi angesprungen und immer wieder überfallen; Sachen, von denen ich das Gefühl habe, ich könne mich weiterentwickeln, wenn ich die

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weiterverfolge. Ich möchte neues Terrain entdecken, neues Territorium. Sehr oft höre ich mit der Recherche einer Geschichte auch dann auf, wenn ich das Gefühl habe: Nein, das ist jetzt eigentlich nicht reif, das entspricht nicht dem, was jetzt gerade wichtig ist.

Ich habe oft auch schon Lust gehabt, so zu arbeiten, wie der Otti das vorhin beschrieben hat, also erst, wenn das Gerüst der Geschichte steht, mit der Recherche zu beginnen. Aber jedes Mal, wenn ich eine Situation dann wirklich sehe, wenn ich jemandem dann wirklich zuhöre oder zuschaue und versuche, mich mit logischer Phantasie in seine Haut hineinzudenken, dann wird die Geschichte, die ich im Moment erlebe, so viel wahnsinniger, als alles, was ich mir vorher vorgestellt habe, dass dann die Fiktion – um diesen Ausdruck zu verwenden – für mich unwichtig wird. Wichtig wird dann die lebendige Geschichte, die entsteht indem ich zuschaue und zuhöre. Ich komme deshalb gar nie dazu, eine grössere, zusammenhängende fiktionale Geschichte zu machen.

WoZ: Es gibt bei Dir also keine Figuren im Sinn von Ottis Romanfiguren?

Niklaus: Es gibt schon Figuren, aber nicht solche, die ich mehr oder weniger frei führen kann. Die Figuren verfügen sehr oft mehr über mich als ich über sie. Ich fühle mich dann oft recht ausgeliefert und der Sinn des Schreibens besteht dann eigentlich – unter anderem – darin, dass ich meine Distanz wieder zurückgewinnen will, mein Entscheidungsvermögen und meine Freiheit jenen Figuren gegenüber, die mich negativ oder positiv fasziniert haben.

Otto F.: Sind das nicht auch Figuren, in die Du Dich selber miteinbringst? Zum Beispiel im «Bavaud» sehe ich den Nik Meienberg ja auch auf den Spuren von sich selber.

Niklaus: Ja, beim Bavaud schon: Da ist meine eigene, katholische Vergangenheit drin. Aber auch dort hat es Situationen gegeben, da bin ich mir recht unbedeutend vorgekommen – vielleicht ist das Schreiben auch eine Art Ersatzleben. Bavaud ist wirklich zwei Jahre im Knast gewesen. Das ist detailliert nachzuweisen, was der in diesem Knast Tag für Tag erlebt hat, nämlich dass er jeden Abend auf die Exekution am nächsten Morgen gewartet hat. Wenn ich das mit logischer Phantasie auszufüllen versuche, dann muss ich sagen, also so etwas, ja – alles, was ich an Schmerz erlebt habe, ist, verglichen mit Bavauds Schmerz, belanglos. Ich bin auf der Suche nach solchen Erfahrungen.

WoZ: Du hast gesagt, Du kommst gar nie zu den grösseren Zusammenhängen –

Niklaus: Doch Ich komme schon zu Zusammenhängen, aber – das ist wie eine Art «écriture automatique» – , die werden mir von aussen aufgedrängt. Rein wie Bavauds Leute reden zum Beispiel, wenn du da gut zuhörst: Das finde ich etwas absolut Faszinierendes, das ist wie Ethnolinguistik. Diese Leute reden total anders als zum Beispiel Leute aus gestopftem Milieu: Wenn man vergleicht, in welcher Form der Fröhlicher, der Gesandte in Berlin, und wie der Vater von Bavaud die Geschichte erlebt hat. Dann möchte ich den Schritt gar nicht mehr machen zu Zusammenhängen, die das noch einmal überhöhen. Es käme mir dann wie vermessen vor, wenn ich das noch interpretieren würde. Oder ich kennzeichne das klar: «Ich stelle mir vor, dass» oder so; das wären dann abgehobene Passagen, die als Vermutungen oder eben als logische Phantasie laufen. Und bei der Montage ist natürlich dann ein grosses Stück Fiktion, wie du das zusammensetzt.

Otto F.: Ich glaube, beim literarischen Schreiben ist etwas ganz Entscheidendes, dass du eine literarische Methode finden musst, die nur im Schreiben selber zu finden ist. Diese Methode lässt sich vergleichen mit dem, was die Kamera beim Film ist. Rob Grillet sieht in seinem Roman «La jalousie» seine ganze Welt, die winzigsten Veränderungen, seine angebliche Geliebte, Bewegungen, die Umwelt, das Verhältnis zu Männern usw. durch die Kamera der Eifersucht. Er versetzt seine zentrale Figur in diesen Zustand von höchster Empfindlichkeit, von fast wahnhaften Wahrnehmungsmöglichkeiten. So kann er – so gut oder schlecht dieses Buch im ganzen sein mag – die Welt neu sehen. Ein anderes Beispiel wäre der Blechtrommler von Grass, der hässlich und mit bösem Blick der Welt unter die Röcke schaut. Diese Figur ist gleichzeitig eine Methode, sie ist eine Erschliessungsmöglichkeit der Realität. Ein anderes Beispiel wäre Gantenbein, der sich bei Max Frisch in die Rolle eines Blinden begibt.

Nur – und das ist jetzt ein zusätzliches Problem, das mich immer wieder interessiert –, wenn die Wahrnehmungen das Subjekts, also die eine gewählte Kamera, unter dem Druck einer komplexen Realität immer mehr beginnt, ungenügend zu werden, wenn die individuelle, subjektive Kamera nicht mehr genügt, um der Realitätserfahrung, also unseren privaten und kollektiven Erfahrungen auf die Spur zu kommen, sie auszudrücken, wenn niemand mehr haftet für die Geschichte, im Politischen wie im Privaten, wenn der einzelne als Subjekt auch nicht mehr haften kann für seine eigene Geschichte, nicht mehr Subjekt, sondern integriertes Objekt ist, gesteuert und überflutet von Aussenreizen und wenn wir ausserdem noch wissen oder immer mehr dazulernen – durch die Psychoanalyse zum Beispiel –, wie wenig von meiner, von unserer Einmaligkeit übrigbleibt, dann heisst das, dass der Entwicklungsroman, der Roman der ungebrochen «Ich» sagt – und das war das klassische Vehikel, die klassische Methode während dreihundert Jahren –, tot ist. Ich meine, gerade auf solche unterschwellige Erschütterungen und Veränderungen müsste die Literatur versuchen zu reagieren, zum Beispiel mit der Erfindung von neuen Methoden, mit drei oder hundert Kameras, mit der Brechung der Sicht der Kamera, mit der Offenlegung der Fiktionalität. Wenn der Entwicklungsroman tot ist, dann wird es auch schwierig mit der Darstellung der grossen Leidenschaften: Wenn ich mich verliebe und gleichzeitig durch die Wissenschaft erfahre, dass das Objekt meiner Leidenschaft eigentlich nur die Trägerin ist meiner narzisstischen Projektionen, dann wird’s relativ schwierig mit dem Schreiben von einem Roman, der ungebrochen beherrscht wird von der grossen Leidenschaft der Verliebtheit.

WoZ: Aber auch mit hundert Kameras, mit grossen Anstrengungen zur Reflexion verändert sich der Mensch noch nicht, er sieht vielleicht mehr und weiss mehr über sich selber, aber damit ändert sich an seinem Verhalten, seiner eigenen Perspektive noch nichts.

Otto F.: Ich meine nur, dass die Wahrnehmung des Einzelnen, wenn er als Kamera benutzt wird, von solchen Überlegungen beeinflusst wird. Als Beispiel: Wenn ich einen resignierten Menschen in meinem Alter darstelle, der sich total verweigert, sich verbarrikadiert, sich isoliert, der zumacht, und sagt: I weiss doch alles, höret mer uf, löit mi ändlech in Rue, dann ist das natürlich zuerst mal eine sehr sensible Kamera in Bezug auf das, was in ihm selber abläuft, und ist eine unsensible Kamera in Bezug auf das, was ausserhalb abläuft. Die Kamera taugt für die Frage: Was passiert mit dem, warum ist er in diese Situation geraten und vielleicht auch: Ist es möglich, dass er langsam, langsam herausgeholt wird aus seiner Verbarrikadierung, er als Kopfmensch, dass er die Sinnlichkeit, den Körper, das alles wieder zu entdecken beginnt und dass er damit die Augen wieder aufschlagen kann, wieder beginnen kann, sinnlich wahrzunehmen, neu zu erleben und damit auch wieder solidarisch sein kann. Dann kann man natürlich fragen: Ist das eine geeignete Kamera? Aber man muss auch fragen: Für was? Was ist die Intention des Buches? Und dann kann man darüber streiten, wie

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weit in der Darstellung von Resignation – ich halte sie für eine zentrale Gefahr unserer Zeit im Moment – etwas Exemplarisches aufscheint.

WoZ: Niklaus, Wie würdest Du Resignation darstellen?

Niklaus: Dort hätte ich wieder Schwierigkeiten, weil – also umgekehrt: Ich habe vorher gesagt, dass das, was von aussen auf mich zukommt, meistens viel gewaltiger ist, als das, was ich selber erlebe. Hier würde es aber heissen: Die eigene Resignation, die eigene Dumpfheit wäre dann so stark, das ich gar nichts mehr darstellen könnte von dem, was von aussen kommt. Ich würde mich dann fragen, was das nützt, wenn ich das darstelle, vor allem was es mir nützt. Ich kann ab und zu tagelang herumhängen und versauern, aber beim Schreiben würde ich mir hier schon eine ganz brutale Kosten-Nutzen-Rechnung machen. Ich hab’s auch schon versucht, so zu schreiben, aber es hat mir nicht viel gebracht ausser Selbstmitleid.

WoZ: Noch einmal zur Darstellung der Resignation in Deinem Buch, Otti. Mir scheint, indem Du eine Kamera wählst, die vor allem nach innen sensibel reagiert, läufst Du Gefahr, das gewisse Themen, die – um es pauschal zu sagen –«kriegsähnlichen Zustände», wenn sie dazu noch mehrfach gebrochen werden, als Problem eben dann aufgewärmt wirken, lauwarm.

Otto F.: Die Bedrohung ist den Figuren ja längst bekannt. Und Wander sagt: Ich kann mich doch nicht täglich mit dem Niederprasseln von diesem Elend befassen. Früher war’s die Pest. Lasst mich in Ruhe, ich will mich endlich mit meinen eigenen Kindheitstraumata, Enttäuschungen und Hoffnungen beschäftigen. Und das funktioniert ja dann nicht.

Das Thema des Romans ist nicht das Waldsterben oder die Ausbeutung der dritten Welt oder die Medienzensur. Das sind alles nur Erscheinungen von einem für ihn zuerst mal übermächtigen Ereignis. Aber Resignation darzustellen, ist ja nicht ein Akt der Resignation. Wander macht dann eine neue Erfahrung und das führt ihn wieder zu einem Ansatz von solidarischem Handeln. Das kann man ästhetisch, künstlerisch überzeugend, glaubwürdig, geglückt darstellen oder man kann es missglückt darstellen. Ich kann zu dieser Frage nicht Stellung nehmen. Ich bin ungeeignet, ein Buch von mir zu verteidigen. Da werde ich störrisch. Ich kann nur mein Zeug schreiben. – Und à propos Resignation: Schreiben ist für mich auch Selbsttherapie.

4. Keiner schreibt im luftleeren Raum

Selbstlosigkeit und Selbstbehauptung – Linker Gefälligkeitsjournalismus / linke Gefälligkeitsliteratur – Es gibt einen Überichdruck – Lebenshilfe als Anspruch – Wunsch nach dem positiven Helden – Moralische Imperative als Ende des Schreibens – Leseerwartungen enttäuschen.

WoZ: Ein Zitat aus Deinem neuen Buch, Otti: «Ich spüre, ich rede jetzt in einer Art von Selbsthass: Ich mag diese ewige Selbstlosigkeit von uns Intellektuellen für andere Menschen nicht mehr. Für mich, sage ich, stehe ein anderes Wort jetzt ganz oben. Selbstbehauptung.» An Euch beide die Frage: Wie geht ihr heute mit den 68er-Ansprüchen an Euch um? Hat sich das Selbst des Schriftstellers in den letzten Jahren verändert?

Niklaus: Ich hab das nicht so erlebt. Ich hab nicht das Gefühl, ich hätte eine Zeitlang für etwas gekämpft und jetzt müsse ich mich zurückziehen. Indem ich meine Sprache behaupte oder versuche, meine eigene Sprache zu behaupten, handle ich immer auch in meinem eigenen Interesse: Schreiben, damit ich nicht unter die Räder komme, damit ich meine Autonomie behalte, damit ich nicht verwaltet werde. Das verbindet sich mit einer allgemeineren Sprachdimension: Auch andere Leute machen das, da fühle ich mich nicht als Ausnahme.

WoZ: Du unterscheidest also nicht zwei verschiedene Selbst, zwei Phasen?

Niklaus: Nein, überhaupt nicht.

WoZ: Aber bei Dir, Otti, trifft diese Spaltung auch auf Dich selber zu, oder?

Otto F.: Vorsicht: Das Zitat, das Ihr gebracht habt, steht ziemlich am Anfang des Buches. Das ist der resignierte Wander, der das sagt, der sich nun seinen eigenen Sachen widmen will. Das ist zuerst mal eine Absage an den politischen Kampf. Es steckt aber etwas drin, was ich vertrete: Wir müssen zuerst wieder – was weiss ich – unsere Ganzheitlichkeit zusammensuchen, wir müssen unsere eigene Stimme suchen. Damit hat ja Schreiben zu tun, mit dem Hörbarmachen der eigenen Stimme als einer Art von Selbstvergewisserung auch. Das können wir nicht einfach ausblenden. Es hat zur Schwäche der 68er-Euphorien gehört...

Niklaus: ...in der Schweiz und in Deutschland. In Frankreich war das wieder ein wenig anders...

Otto F.: ...genau. In Deutschland hast Du nie lesen können: «Phantasie an die Macht» oder so etwas. Das war eine sehr unsinnliche, eine auf Kopfmenschen bezogene Revolte, und Leute, die ein Rock-Konzert auch noch toll gefunden haben, sind eigentlich schon draussen gewesen. Das war schon fast unseriös. Das Gewinnen des eigenen Selbst – das ist ja Eure Frage –, das wäre für mich dann wieder eine Voraussetzung für den solidarischen Widerstand von Betroffenen.

WoZ: Seid Ihr – im Moment, da Ihr schreibt – jemandem verpflichtet? Gibt es so etwas wie linken Gefälligkeitsjournalismus, linke Gefälligkeitsliteratur?

Otto F.: Gefälligkeit würde ich das nicht nennen. Aber dass es Ansprüche gibt in mir drin und um mich herum, wenn ich schreibe, da ist gar kein Zweifel. Zu diesen Ansprüchen gehört von Innen her eine Art Besessen-

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heit, etwas so vollkommen hinzukriegen, wie ich das nur kann. Und weil das immer wieder scheitert, beginne ich immer wieder von vorne.  Dann gibt es äussere Ansprüche: Es gibt Marktgesetze. Wenn ich denen entsprechen wollte, müsste ich mindestens alle zwei Jahre ein Buch häretätsche. Ich brauche aber in der Regel sehr viel länger: Also muss ich versuchen, mich über drei oder vier Jahre hinweg zu finanzieren, was schon sehr heiss ist. Dann kommt zum Beispiel der naive, linke Anspruch: Wir wollen von Dir, von Euch – nicht so ausgesprochen, aber doch deutlich spürbar – Lebenshilfe.

WoZ: Gibst Du die? Du hast vorhin den Inhalt Deines Buches als Weg von der Resignation zu neuer Solidarität beschrieben. Insofern Gefälligkeit?

Otto F.: Nein. Ich kann bestenfalls eine Grundrichtung signalisieren. Aber es gibt einen linken Überichdruck, der im letzten Buch in drei Gestalten an den Schriftsteller herantritt: Da ist eine Figur, die sagt: Du bringst Dich ja gar nicht ein, wir möchten Antworten auf unsere Beziehungspüffer und die verweigerst Du uns. Die zweite sagt: Wir kämpfen doch gegen alles, was Dich auch kaputt macht, du musst dich mit uns solidarisieren, du musst mitkämpfen und für uns formulieren. Die dritte Position, das sind für Wander die Kollegen von der Redaktion, die sagen: Jetzt ist Krieg, jetzt müssen wir kämpfen und auf Grund dessen, was Du geschrieben hast, bist Du verpflichtet, mitzumachen. Es gibt in meinem wirklichen Leben übrigens keine Woche, in der ich nicht auf irgendeine Barrikade steigen sollte, immer unter Berufung auf meine Bücher. Dieser Druck existiert, das ist gar kein Zweifel, und in der Gesamtheit dieser Ansprüche steckt ein gefährlicher, ein disziplinierender Zug.

WoZ: Die gleiche Frage an Niklaus: Ist das nicht billiger Applaus, den man sich holt, wenn man den Farner in der WoZ posthum vertschalpt? Ist das linker Gefälligkeitsjournalismus?

Niklaus: Wenn ich umgekehrt in der «Weltwoche» meine Erfahrungen über den «Stern» beschreibe – weil ich es für diese Geschichte aus politischen Gründen wichtig finde, den Text der «Weltwoche» zu geben –, dann ist es auch nicht recht. Dann bekomme ich von der WoZ drei unvergessliche Schandbriefe, weil ich das gewagt habe. Zum Teil war das enttäuschte Liebe und zum Teil ein richtiges Verrats-Syndrom.

WoZ: Wie gehst Du mit diesen gewaltigen Ansprüchen an Dich um? Damit, dass man den Meienberg lesen will, einen saftigen Artikel mit ein paar konfrontativen Passagen drin, aber nicht Dein ganzes Spektrum?

Niklaus: Das spüre ich schon stark. Aber nicht ich gehe damit um; es geht mit mir um.

WoZ: Es passiert ein bisschen viel mit Dir.

Niklaus: Ja, ich empfinde die Wirklichkeit schon als eine enorm lastende Angelegenheit. Entweder reagiere ich dann, indem ich einen Text extra nicht mache, sage: Gopferdami, ich gehöre niemandem. Oder es löscht mir ab und ich habe das Gefühl, es habe alles keinen Wert.

Noch schlimmer ist, was ich letzthin an Lesungen gehört habe: Leute, die eigentliche Lebenshilfe haben wollen. Da habe ich zum Beispiel gesagt, wenn man unabhängig bleiben wolle als Journalist, dann dürfe man nicht heiraten – nun ja, ich hatte immer wieder von jammernden Kollegen gehört: Du hast gut reden, du bist nicht verheiratet, aber wir haben das Haus, die Kinder, sind geschieden und müssen Alimente zahlen... Dann fragten die mich also allen Ernstes: Wie macht man das als Unverheirateter dann mit dem Sexualleben? Ich pfeife auf so was. Wenn ich immer daran denken muss, dass meine Äusserungen mehr gelten als die eines andern, dann dreh ich durch. Dann kann ich einfach keine spontanen Beziehungen mehr haben, weder zum Schreiben noch zu Freunden oder Freundinnen, dann kann ich aufhören. Dabei tendiert alles, was ich mache, immer wieder darauf, das Gleichheitsgebot aus der französischen Revolution hervorzuholen, zu sagen, dass die Leute eigentlich gleich sind. Gut, der eine schreibt halt zufällig, aber alle haben die gleichen Probleme und sollen sich die gefälligst durch den eigenen Gleichheitskopf gehen lassen. Ansprüche auf Lebenshilfe kann ich nicht erfüllen.

Otto F.: Ich glaube, hierher gehört auch die Erwartung nach dem Positiven in der Literatur, nach dem positiven Helden, der uns vormacht, wie man es machen muss. Diese bürgerlichen Vorstellungen kommen denen des sozialistischen Realismus stalinscher Prägung verdächtig nahe.

Niklaus: Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ich bei der WoZ schreibe, dann tue ich das nicht einfach, um Euch barmherzigerweise zu unterstützen, sondern weil ich bei sehr vielen Artikeln das Gefühl habe, nur da kann ich mich jetzt noch entwickeln, eine neue Sprache bringen. Nach dem Joyce-Artikel beispielsweise kamen alle gesprungen: Warum hast Du das nicht in einer anderen Zeitung gebracht. Die «Weltwoche» hätte das doch auch genommen... Ich bezweifle das. Die haben eine coole Abhandlung über Joyce gebracht, nicht ein Sprachspiel, eine Sprachidentifikation. Bei vielen meiner Artikel gibt es gar kein anderes Sendegefäss. Ich schreib also in meinem eigenen Interesse für die WoZ, ich schreibe da, weil meine Schreiblust in eine ähnliche Richtung geht wie Eure. Dann gibt es andere Sachen, wo ich das Gefühl habe, das passt jetzt in die und die Zeitung hinein... Aber wenn man mit diesen unheimlichen moralischen Imperativen anfängt: Du musst, Du darfst nicht – dann ist für mich Schluss mit Schreiben. Siehe Tagi.

Otto F.: Ich registriere an mir, wie ich diesen Ansprüchen gegenüber bockig reagiere, mit einer gewissen Lust daran, die Erwartungen zu enttäuschen, nicht gerade das Buch zu schreiben, das von einem erwartet wird. Dann sind natürlich hin und wieder alle sauer: Schon wieder nicht das Buch, das wir uns gewünscht haben.

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5. Werkstatt (II): Wege zur eigenen Sprache

Funktion der eigenen Sprache: Wie eine 18jährige Frau reden – Brechung der Sprache – Über das Hinausgehen – Schreiben, um leben zu können / Leben, um schreiben zu können.

WoZ: Um auf das «Bildungsbürger»-Beispiel zurückzukommen: Dass die gleichen Leute Walter-Romane lesen mögen, nicht aber Meienberg-Reportagen, hängt ja ziemlich direkt mit Eurer Sprache zusammen. Und da schöpfst Du, Otti, doch aus einem ganz anderen Reservoir als Niklaus. Könntet Ihr mal versuchen, die Sprache des andern – statt der eigenen – zu beschreiben?

Niklaus: Sprache kann man nicht beschreiben, Sprache kann man nur selber reden lassen.

Otto F.: Es ist schwierig, abstrakt über eine Sprache zu reden, ohne zu untersuchen, in welchem Dienst, in welcher Funktion sie jeweils steht. Wenn du dich in einem Roman der Alltagssprache annäherst, Parlando-Stil schreibst, dann ist das eine Sprache, in der sich die Figur gewissermassen entlarven soll. Das ist eine Funktion, die ich meiner Sprache fast im ganzen «Schlafwandler»-Roman gegeben habe. Ich kann mir aber ganz andere Funktionen der Sprache vorstellen. Wenn eine achtzehnjährige Frau beispielsweise, ein staunendes Wesen, auf die Realität zugeht und an einer Demo in Gösgen den Polizeihammer miterlebt, völlig verletzt plötzlich wahrzunehmen beginnt, dass das männliche Gewalt ist, die sich da äussert, wenn sie in allem plötzlich auf diesen einen Punkt stösst, dann braucht das eine total andere Sprache, eine Sprache, eine Kamera, welche sehr viel sinnliche Wahrnehmung ermöglicht. Das Bild zum Beispiel, das zwei Leute in einem Panzer ein Stück Schweiz durchqueren und in eine Stadt einfahren.

WoZ: Du wagst es – in Deinen Büchern – zu sagen: So, jetzt spreche ich die Sprache einer achtzehnjährigen Frau? Es ist möglich für Dich, mit ihren Augen zu sehen?

Otto F.: Ja, gewiss. In dem Buch «Wie wird Beton zu Gras» entdeckte ich, dass ich daran war, eine Variation des Antigonemotivs zu schreiben, eine «Kleine Antigone vom Lande». Dann: Warum soll das weibliche in mir keine Sprache haben dürfen? Ich wage es, indem ich das Verhältnis des alternden Autors zu seiner Figur im Text ständig offenlege, ja, indem ich die Perspektive breche, indem ich dauernd sichtbar mache: Diese Frau ist ein erhofftes, erfundenes Geschöpf, das jetzt das und das empfinden und denken könnte.

Niklaus: So etwas würde ich nur in indirekter Rede wiederzugeben wagen. Ich möchte das Problem zuerst wirklich genau kennen, mein Ohr schärfen und präzis zuhören. Ich müsste jemanden finden, der diese Sprache wirklich spricht, so spricht, und dann würde eventuell das ganze Vorhaben umgestürzt, weil es in dieser Sprache Überraschungen hat, weil die nicht so sprechen, wie ich es mir ausgedacht habe. Ich hätte da grosse Schwierigkeiten, den richtigen Ton zu treffen. Kommt dazu: Wie nimmt man so etwas auf? Muss man das direkt machen, mit dem Tonband? Und wie gibt man die Sprache wieder, ohne sie zu integrieren oder zu vergewaltigen, kaputt zu machen? Ich würde es einfach nicht wagen, solche Romanfiguren zu erfinden. Ich würde mir allenfalls zutrauen, Aussagen von Leuten, denen ich genau zugehört habe, wiederzugeben, oder sie dazu anzuregen, es selber zu tun.

Diese Schwierigkeiten mit dem richtigen Ton habe ich bei jeder Figur, die ich in einen grösseren Zusammenhang einzubauen versuche. Die Figuren werden dann so autonom, dass ich das grosse Ganze nicht mehr richtig in den Griff nehmen kann. Der Text fängt an zu leben von den Leuten her. Und alles was du zum Schluss noch machen kannst ist montieren, irgendwo einen Schnitt machen.

WoZ: Obwohl Du von dieser Wirklichkeit «überfallen» wirst, wie du selber sagst, bildest Du dir ja nicht ein, sie tel quel abbilden zu können. Worin besteht denn das Eigenartige Deiner Sprache, die doch ein überzeugendes, fast ungebrochenes Bild der dargestellten Wirklichkeit vermittelt?

Niklaus: Bezüglich meiner Wirklichkeit kann ich es ja noch wagen, sie einigermassen ungebrochen – oder besser gesagt authentisch – wiederzugeben. Wenn ich aber anfange, über jemand anderen zu verfügen, ja, dann wage ich das einfach nicht mehr. Die eigene Lust und die eigenen Schmerzen, die hingegen gehören mir, irgendwie.

WoZ: Ihr beide vertraut ganz verschiedenen Funktionsweisen der Sprache. Du, Niklaus, lässt immer wieder Sprache und die sogenannte äussere Wirklichkeit direkt aufeinanderprallen, brichst die Aussagen allenfalls durch sprachliche Mittel wie Ironie, Zynismus auch. Du, Otto F., bewegst Dich vorab im textlichen Bereich, suchst sehr weit in der Montage, sprichst die Sprachen der verschiedenen Romanfiguren...

Otto F.: Sprache kann Wirklichkeit nicht wiedergeben. Reportage kann sehr nah an das, was wir für Wirklichkeit halten, herankommen. Aber das literarische Schreiben ist nicht einmal das Abbild der Wirklichkeit. Es ist bestenfalls eine Analogie, eine Paraphrase oder eine fantastische «Gegenwirklichkeit». Die Roman-Wirklichkeit muss ich mit so viel Realitätsmaterial unterlegen, dass sie meiner Erfahrung der Realität zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie bleibt und will sein: eine künstliche Welt aus Zeichen.

Dabei bin ich der Ansicht, dass auch der Dokumentarismus durchaus eine literarische Methode ist. Wenn ich Texte von Dir, Niklaus, lese, ist das Spannende für mich zwar auch, was darin inhaltlich passiert, aber im Grunde genommen ist es deine spezifische Art von Sprache und von Blickwinkel, das heisst also der Anteil an Subjektivität, der für mich die Spannung bewirkt. Auch eine Reportage ist ja nicht ein Abbild der Wirklichkeit, sondern eine Möglichkeit, die Wirklichkeit so darzustellen, dass sie der Wirklichkeit ähnlich sieht.

WoZ: Niklaus sagt von sich, er wage sich nicht an Romanfiguren. Warum schreibst Du keine Reportagen?

Otto F.: Ich schliesse diese Möglichkeit nicht aus, aber ich habe mich bis jetzt nie dazu gedrängt gefühlt.

WoZ: Gehst Du eigentlich gerne hinaus? Ich meine das ganz wörtlich: hinaus aus Deiner Schreibstube? Oder ist Dir die Zeit lieber, wo Du drinnen an und mit Deiner Sprache schaffen kannst?

Otto F.: Klar, ich gehe auch gern hinaus, weil ich gern lebe, und das heisst auch: Die Welt, die Realität aufnehmen, durchtränkt sein davon. Du hast recht, da gibt’s auch die Gefahr der Isolation, der völligen Abkoppe-

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lung von der äusseren Wirklichkeit, der Vereinsamung.

WoZ: Ist es für Dich auch eine schriftstellerische Notwendigkeit hinauszugehen?

Otto F.: Das gibt es. Ich habe vorhin das Beispiel des Fotografen erwähnt. Aber so angefressen bin ich vom Schreiben dann auch wieder nicht, dass ich leben gehe, um zu schreiben. Ich gehe hinaus, weil ich gerne lebe. – Klar, dass da dann auch immer Anstösse kommen.

Niklaus: Da hab ich schon das Gefühl, dass ich einige Sachen erlebt habe, um darüber zu schreiben, dass ich sie beim Schreiben nochmals, intensiver, zusammengefasster, konkreter, heftiger, neu erlebt habe. Spanien zum Beispiel: Wenn ich nach Spanien reise, einfach so in die Ferien, dann lebe ich zwar angenehmer und lässiger und auch fauler, als wenn ich nach Spanien gehe mit dem Auftrag, für den «Stern» aufgrund bestehender Bilder von spanischen Burgen eine Reportage zu machen, die Burgen nochmals anzusehen, die Umgebung, das Verhältnis von den Dörfern zu den Burgen. Dann fange ich an, intensiver zu leben, auch schmerzhafter manchmal und unangenehmer – mit den Ablieferungsterminen, einer gewissen Hektik und so weiter – als wenn ich einfach nur «leben» gehe. Ich lese dann natürlich bestimmte Ereignisse, Erfahrungen aus, im Hinblick darauf, dass das dann beim Schreiben ein besonders intensives oder saftiges Stück gibt. Das greife ich mir dann heraus, nehme es heim und kann es beim Schreiben nochmals erleben, verdichten. So habe ich eigentlich zweimal gelebt, und oft beim Schreiben mehr als in der Wirklichkeit, wo es manchmal sehr lahm oder routiniert, jedenfalls nicht besonders zugeht.

Beim Schreiben wird dann die Realität für mich oft erst richtig lebendig. Zuweilen ertappe ich mich dabei, dass ich hinausgehe nur im Hinblick darauf. Dann habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen, finde, das sei eigentlich nicht mehr das, was man machen sollte, wenn man von der Idee der Gleichheit ausgeht. Man ist wirklich privilegiert, wenn man die Welt zweimal, durch das Fernrohr und durch das Mikroskop, anschauen kann. Du hast zum vorneherein einen ganz anderen Genuss dabei.

Und dann natürlich ganz eitel die Möglichkeit, dass deine Arbeit in der Zeitung reproduziert wird. Dazu kommt: das «kleine» Machtgefühl, dass du damit gewissermassen etwas «zurückgeben» kannst. Die meisten Leute betrachten die Journalisten und Reporter sowieso nur als Knechte. Und das Interesse der Medien liegt heute so, dass ein grosser Teil auch wirklich so funktioniert, die Ansichten der befragten Leute tel quel wiedergibt, ihnen als Sprachrohr dient. Wenn ich irgendwo hinkomme, fühle ich mich wirklich oft ohnmächtig, ich merke, die Leute haben eine stille, aber permanente Verachtung für dich als Journalisten. Aber dann, wenn sie die Reportage lesen, merken sie, dass da etwas zurückkommt, dass man sie anders sieht, als sie gerne möchten. Für mich ist das eine Revanche, dieses kleine Machterlebnis, für das vorangegangene Ohnmachtsgefühl. Das hat wirklich was mit Macht und Genuss zu tun.

WoZ: Wie stark hat Deine Sprache, Deine Art zu schreiben, Otti, damit zu tun, dass Du ausschließlich Bücher verfasst, Dich also eines ausgesprochen «langsamen» Mediums bedienst?

Otto F.: Das hat schon damit zu tun. Und auch damit, dass Schreiben für mich in erster Linie Erfinden ist, für das ich allerdings auch Realität, äussere benennbare, messbare, aufschreibbare Realität brauche. Die hole ich mir, wo immer ich kann: Bei Experten, in der Fachliteratur oder im Gespräch mit Leuten. Aber diese Art von Schreiben hat natürlich auch etwas von Lebensersatz. Schreiben ist im Grunde genommen eine relativ einsame Arbeit. Und das schiisst mi ab und zue ou a. Und darum gehe ich dann gerne wieder hinaus.

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6. «Subrealismus»: Der Streit bleibt kontrovers

Die schlechten Gefühle bleiben – Der Zug der Lurche war pünktlich – Der Keilriemen ist kein Problem – Wander eine Kunstfigur im schlechten Sinn? – «Subrealismus» eine Frage der Distanz vom Beschriebenen? – Utopien überwintern im Märchen – Totale Freiheit für «Tagi»-Journalisten!

WoZ: Ihr zeigt jetzt, in diesem Gespräch, viel Verständnis für die Person und das Schreiben des andern. Warum seid ihr in der WoZ-Realismus-Debatte so heftig und hart aneinandergeraten?

Otto F.: Das eigentlich Frappante ist, dass wir in der Hauptthese einig sind, dass die Fakten, von denen wir schreiben, stimmen müssen, dass erst danach mögliche Überhöhungen vorgenommen werden können, dass diese Überhöhungen erst funktionieren und zu Chiffren werden, wenn der «Unterbau» stimmt. –

Was mich verletzt hat und was ich auch klargestellt habe – nicht gerade souverän – : Ich akzeptiere es nicht, wenn ich etwas vorlege, dass ich gemassregelt werde –, vom Ton her, von der Häme her, durch den absoluten Mangel an Dialogsignalisierung, Dialogsbereitschaft. Und ich reagiere absolut allergisch, wenn ich wittere: Hier will jemand meiner Schreiberei ein Korsett überziehen. Das ist das eine. Dann kann man über die Lurche streiten. Aber man kann nicht einfach sagen, das gebe es nicht, das sei Quatsch. Ich habe das erlebt auf der Autobahn, es gibt solche Laichzüge. Ich bin damals zwischen Karlsruhe und Bruchsal total in Panik geflohen, us em Outo gsecklet, über Lurche getrampelt. Zehn Wagen sind ineinander hinein gefahren, weil sie ins Schleudern gekommen sind. – Vielleicht müsste man darüber reden, warum dieser Laichzug im Roman Ende Oktober erscheint, was natürlich nicht möglich ist; warum das so ist in diesem Buch. Das wäre eine Diskussion. Sonst kann man einfach sagen, gut, Niklaus hat das mit den Lurchen nicht recherchiert. Dumm ist dann nur, wenn er mir das in dieser Form an den Kopf wirft. Was übrigens wäre, wenn es keine solchen Laichzüge gäbe? Wenn im Roman plötzlich eine Büffelherde auf der Autobahn weiden würde?

Niklaus: Sie kommen einfach ein wenig zu pünktlich, Deine Lurche. Genau an der Stelle im Roman, wo Du sie brauchst. Und man glaubt es eben nicht, weil der Roman Fiktion ist.

Otto F.: Du, ich werde das nächste Mal, um die Autofahrt zu unterbrechen, einen Keilriemen verrecken lassen. Ich habe das bei der zweiten Panne im Buch auch gemacht. Dieses Problem ist lösbar: Stichwort Büffelherde.

WoZ: Warum bist Du, Niklaus, eigentlich im Ton so aggressiv ausgefahren damals, fast wie bei einem Farner, mit dem Du wohl das Gespräch auch dann nicht suchen würdest, wenn er noch am Leben wäre?

Niklaus: Nein, da bin ich jetzt dagegen, Ihr müsst die Nuancen sehen. Also, was ich über den Farner geschrieben habe, über den Vogelsanger..., nenei, nenei, nenei, das ist tonlich ganz anders.

WoZ: Du hast also Deinen Ton gar nicht so aggressiv gemeint, wie er bei Otti angekommen ist?

Niklaus: Es war schon ein aggressiver, ehrlicher Artikel. Aber er war nicht so gemeint, dass Otti als Person vernichtet werden sollte. Er hat ein Buch gemacht, in dem die Hauptfigur ein Journalist ist, das war ausschlaggebend für mich. Journalismus ist ein Metier, von dem ich glaube, ich bin ganz anders davon betroffen als Du, Otti. In verschiedenen Redaktionen, von Radio, Fernsehen, «Tagi» bis «Weltwoche» und «Stern», habe ich einiges erlebt, das soviel verreckter ist an konkreten Erfahrungen, dass ich einfach das Gefühl hatte, da ist nicht genug Schmerz und Heftigkeit in der Sache drin. Wander ist eine Kunstfigur im schlechten Sinn. Der Otti hat jetzt einen Journalisten genommen als Hauptfigur, er hätte ebenso gut irgendeinen Traxführer...

Otto F.: ...oder Schriftsteller...

Niklaus: ...Schriftsteller nehmen können. Das sind nicht Ottis Probleme, er spielt nur mit ihnen. Zugegeben, es wird gut damit gespielt, der Aufbau des Romans..., aber das haben ja genug andere beschrieben. Journalisten und was alles mit ihnen passiert, wenn sie einigermassen gute Arbeit machen wollen, das ist ein Thema, das bei mir mit ungeheuer viel Aggression und Schmerz und Niederlagen verbunden ist. Das war für mich ausschlaggebend: Da spielt jemand mit einem Thema, mit dem ich eben nicht spiele, das für mich das Leben ist.

Die Geschichte läuft für mich auf einem Abstraktionsgrad ab, wo alles auswechselbar wird. Es sind die Einzelheiten, die mich stören: Zum Beispiel der Artikel, der bei der namentlich genannten «Neuen Zürcher Zeitung» in letzter Minute herausgerissen und durch den frechen Aufruf ersetzt wird, auf der Frontseite. Wenn man weiss, wie eine solche Zeitung funktioniert, weiss man auch, dass der letzte und hinterste Korrektor bei der NZZ – und über die Korrektoren läuft ja alles – das verhindern würde, weil die alle so betriebstreu sind. Das ist schlechthin nicht möglich. Für mich werden auch falsche Hoffnungen geweckt über die idealistische Schar junger Leute, von denen in den Kritiken zu lesen war, es handle sich um WoZ-Redaktoren oder ähnliche Leute. Auch das hat mir ausgehängt, ich empfinde die WoZ als viel zynischer.

Ein anderes Beispiel: Das ganze Sprachniveau, mit welcher Sprache die Sachen heute an die Leute herangebracht werden, dass die grosse Vernichtungsstrategie der Unternehmer heute gerade in dieser genormten Sprache liegt, dass zum Teil sogar die SJU dabei mitmacht mit ihren Magazinkursen, wo sie den «Spiegel» und den «Stern» imitieren; das ist für mich eine ganz zentrale Sache. Und da hat es mich geärgert, dass bei Dir gar nichts drin ist.

WoZ: Du, Niklaus, machst Otti also den Vorwurf – um im Bild zu bleiben –, er habe den Fotografen nicht gefragt wie das Fotografieren funktioniere.

Niklaus: Ja, oder zuwenig. Du hast schon recherchiert, hast Dich erkundigt. Aber zuerst ist die Figur in den Umrissen festgestanden, und dann hast Du sie mit Farben ausgepinselt.

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WoZ: Jetzt greifst Du aber – bei einem Thema, das Dich speziell betrifft – gerade die Fiktion an, die Du während der letzten Stunde als Schreibart hast gelten lassen. Ich meine, bei einem andern Thema könnten die Betroffenen ebenfalls kommen...

Niklaus: ...sollen sie auch, sollen sie auch...

WoZ: Du ziehst also doch die fiktionale Schreibweise in Zweifel?

Niklaus: Nein, nicht grundsätzlich. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Du, Otti, über das ganze Schriftstellertum in einem ganz andern, viel heftigeren und authentischeren Ton geschrieben hättest und ich gar nichts mehr dagegen hätte sagen können. Vielleicht ist auch so etwas wie enttäuschte Liebe dabei gewesen, weil ich Deine ersten Bücher ganz anders empfunden habe, gerade bezüglich der authentischen Sprache. Wenn Du über Baustellen im Jura geschrieben hast, habe ich das Gefühl gehabt: Da stimmt einfach alles, da ist ein echter Ton drin.

WoZ: Wie willst Du hier die «Echtheit» überprüfen? Du bist eben nicht Bauarbeiter. Vielleicht hat «Subrealismus» auch mit der Distanz des Lesers vom Beschriebenen zu tun.

Otto F.: Zu diesem Punkt wiederhole ich noch einmal, dass der ganze Part «Journalismus» als eine von Wanders resigniertem Bewusstsein längst als «erledigt» erlebte Umwelt dargestellt ist, als ferner Hintergrund. Natürlich habe ich das, soweit ich es gebraucht habe, recherchiert. Natürlich habe ich Experten befragt: Ist das möglich? Wäre es im äussersten Fall noch heute möglich? Vor vier, fünf Jahren war das noch möglich, hatte es zum Beispiel in Bezug auf das Auswechseln des NZZ-Leitkommentars geheissen. Natürlich ist das Ganze durchgelesen worden von Experten. Das hat mir genügt, weil es mir ja um die Skizzierung der Mechanismen gegangen ist, die halt Repression bedeuten, zum Beispiel im Zeitungswesen.

Und die «idealistische Schar junger Leute» – wie du das vorhin genannt hast – sagt zum Schluss einfach aus, dass von 120 Journalisten 7 übrigbleiben, welche nicht durch irgendwelche Integrationsgrade oder durch die Beziehung zu ihren Kindern oder was immer daran gehindert sind, Widerstand zu leisten. Und das als Märchen erzählt, weil ich glaube, dass im Moment Utopien bestenfalls noch in einem Märchen überwintern können. In der Euphorie eines Abends, der dann auch den Schluss des Buches macht, fangen sie an, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie eine eigene Zeitung machen würden.

Niklaus: Noch etwas. Im Buch ist einer, der Selbstmord macht, nachdem ihm hintereinander vier prächtige Artikel im Magazin abgelehnt worden sind. Mich erstaunt, wie Du so etwas schreiben kannst. Wenn man in der wirklichen Presse schaut, dann ist es ja nicht so, dass da einer plötzlich mit vier vollen, tollen Artikeln daherkommt nach jahrelanger Abstinenz und die vier werden integral abgelehnt, sondern der unheimliche Spracherosionsprozess, die unheimliche Knechtung, wo es darum geht, ein Adjektiv zu ändern oder den Rhythmus oder die Farbe der Sprache, die findet so schleichend statt, dass der Typ gar nie dazukäme, aufzuwachen und wie dr Tüüfel us em Druckli plötzlich vier tolle Artikel hinzulegen. Die Ablehnung der vier Artikel als realistischen Ablauf darzustellen finde ich daneben, weil es viel gefährlicher, insidiöser und hinterlistiger ist, was tatsächlich stattfindet heute in den Zeitungen: Dass man beispielsweise alles auf Magazinjournalismus trimmt, wie in der «Schweizer Illustrierten», oder dass im «Tagi» der Studer wirklich hinter allen Sparten her ist und sagt, das und das muss hinaus, dieses Wort ist nicht mehr möglich. Nach dem dritten Mal, wo dir etwas herausgenommen worden ist, sagst du dir: Also gut, ich will auch mal meinen Frieden haben. Du bist einfach unpräzis, Otti, und das nimmt der Geschichte den Gout, die Schärfe.

Otto F.: Franz Biberkopf am Berliner Alexanderplatz von Döblin hätte vermutlich auch aufs heftigste opponiert, als direkt Betroffener. Und es hilft auch nichts, wenn ich Dir sage, dass mir mindestens zwanzig Journalisten angerufen haben aus St.Gallen, Luzern, Bern und mir geschrieben haben: Genau diese Grundmechanismen laufen bei uns ab, total. Endlich schreibt das einer.

Niklaus: Dass ein Kunstprodukt die Realität verdrängt, das ist gut möglich. Das ist mir auch schon passiert, dass Romane und Fiktionen die eigenen Erfahrungen in den Schatten gestellt haben, weil sie so stark und so gut waren. Aber das war für mich in diesem Fall nicht so. Für mich persönlich nicht. Im übrigen war ja mein Artikel über Dein Buch keine Kultschrift, keine allgemein gültige Wahrheit. Und vorher kam in der WoZ eine äusserst lobende Besprechung.

WoZ: Was ich anders, pessimistischer sehe, als die Journalisten, die Dir, Otti, angerufen und geschrieben haben: Dass man nur die ganzen Repressionsmechanismen aufzuheben braucht, damit alle Journalisten wieder wüssten, was sie schreiben sollten.

Niklaus: Den «Tagi»-Journalisten könntest Du sagen, so hopp, ab morgen habt ihr die totale Freiheit und die würden noch die genau gleich langweiligen, farblosen Artikel abliefern. Das hockt tief in diesen Seelen drin.

Otto F.: Ich habe zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass ein ausführlicher Artikel von mir vor der Wehrschau zu diesem Thema damals in den «Tagi»-Redaktionen diskutiert worden ist, und als man dann an einer Versammlung darüber abgestimmt hat, ob der erscheinen soll oder nicht, war die Mehrheit  der Journalisten dagegen. Die Chefredaktion war’s dann, die erklärt hat, wir bringen ihn. So unangefressen von der Realität bin ich auch nicht.

Niklaus: Ja, in dem, was Du jetzt erzählst.

Otto F.: Jeder Roman ist ja die Auswahl der Auswahl der Auswahl. Und zugleich hat natürlich der Roman die Tendenz, Abläufe auch zu dramatisieren und antagonistische Prozesse herauszuarbeiten. Diese Versuchung ist jedenfalls ziemlich gross, das ist klar, um Intensität und Spannung zu erzeugen. Der Vorwurf der Dramatisierung und auch der Schwarzweissmalerei im Sektor Zeitungswesen – akzeptiert. Ich würde es wahrscheinlich zwar wieder so machen, aber das ist Euer Recht.

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7. Werkstatt (III): Wege zum Schreiben

Arbeiten, um daneben schreiben zu können – Dienende und freie Sprache – Misstrauensvotum gegen die «freie» Fiktion.

WoZ: Wander in Deinem Roman, Otti, ist Frankfurter Korrespondent, verbringt drei Tage in der Woche mit Apéros, Empfängen oder berichtet über sonstige institutionalisierte Politanlässe, die übrigen Tage ist er frei: zum Schreiben. Ist das denkbar? Kann einer sein Schreiben dermassen aufteilen? Sich spalten, um zu schreiben?

Otto F.: Ich habe neben meinem 12-Stunden-Arbeitstag im Verlag, wo ich dauernd mit Manuskripten und zum Teil mit Schreiben zu tun hatte, nachts um 11 noch mit Schreiben begonnen. Ich habe meine ersten drei Romane bei voller Berufsbelastung geschrieben. Ich musste eine fünfköpfige Familie durchbringen, sechs Romane schreiben und über 50 Jahre alt werden, um nun vom freien Schreiben leben zu können. Gut, ich bin kein Journalist. Aber es gibt natürlich auch Journalisten, wie andere Berufsleute, die ihren Beruf ausüben müssen, um daneben schreiben zu können.

WoZ: Aber sind solche Situationen nicht total schizophren? Da stelle ich mir lauter Wald- und Nebelgedichte vor, die einer zur Entspannung nach Feierabend in die Maschine klopft. Was ist das für eine Auffassung von Schreiben?

Otto F.: Das ist keine Auffassung; das ist vernunftwidriges Verhalten. Es gibt doch tausende und Abertausende von Schreiberinnen und Schreibern, die verdammt sind dazu, irgendwie ihren Beruf auszuüben, und sie müssen sich dann irgendwann ein wenig Zeit stehlen zum Schreiben. Schizophren? Sicher.

WoZ: Was heisst, sie sind verdammt dazu?

Otto F.: Das heisst: gemessen an ihrem Traum, ihr eigenes Zeug schreiben zu können. Das ist doch die Regel: «Schau, ich muss arbeiten und irgendwie meine Stütz zusammenbringen, aber eigentlich möchte ich schreiben, und dafür bleiben mir dann nur noch Abende und die Wochenenden.» Du kannst beliebige 30 Schweizer Autorinnen und Autoren auswählen: nicht alle, aber 90 Prozent, leiden schwer unter diesem Konflikt.

WoZ: Hierzulande kann man kaum von der Schriftstellerei leben. Was heisst das für die SchriftstellerInnen und ihre besondere Art von «Freiheit»?

Otto F.: Die Freiheit der Besessenheit, Tonfiguren zu kneten und sie in Gang zu setzen.

WoZ: Um auf Wander zurückzukommen: In einem Restaurant servieren und daneben schreiben, das kann ich mir noch vorstellen. Aber wie kann man in sich eine dienende und eine freie Sprache vereinigen?

Otto F.: Vielleicht gerade darum. Weil dein Beruf als Journalist dich zu einer dienenden Haltung gegenüber den Ereignissen zwingt. Gerade das kann ja in dir den Wunsch nach einem autonomen Schreiben, wo du nur dir gegenüber verantwortlich bist, verstärken. Das ist möglich.

WoZ: Diese Trennung beim Schreiben in Verpflichtung und Freiheit hat mit unserer Realismus-Debatte zu tun. Ich behaupte, dass bei einer solchen Trennung des Schreibens in Verpflichtung und Freiheit auch das scheinbar Autonome, Persönliche, Private nach Abhängigkeit schmeckt. Also ein Misstrauensvotum gegen die «freie» Fiktion.

Niklaus: Ja, oder gegen Werbetexter, die glauben, sie könnten bis um sechs Werbetexte machen und dann am Abend persönlich aufleben und integren Journalismus schreiben.

Otto F.: Bei dem Beispiel Werbetexter bin ich auch sehr im Zweifel, ob man das über 10, 20 Jahre hin machen und dann noch in einer autonomen Sprache schreiben kann.

WoZ: Aber bei einem Journalisten kannst Du Dir das noch vorstellen?

Otto F.: Bei dem relativ privilegierten Frankfurter Korrespondenten kann ich mir das besonders gut vorstellen, wobei der ja auch irgendwann sagt: So, jetzt ist Schluss. In der Schweiz gibt es mindestens zehn literarische Autoren und Autorinnen, die ihren Unterhalt mit journalistischer Arbeit verdienen. Hundert andere leben am Rand des Existenzminimums und darunter.

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8. Die Wahrheit über Blumer

N.M. auf seinem Occasionstöff davonfahrend: Mou, genau so – Realität als Hohlform, um Imagination dreinzugiessen – Steht am Ende der Recherche der Mensch oder der Typus?

Otto F.: Übrigens habe ich ja schon einmal einen Journalisten gebraucht in einem Buch, den Blumer in der «Verwilderung».

Niklaus: Ja, und dort zeigten sich doch genau die gleichen Probleme...

Otto F.: ...das war ein interessanter Fall...

Niklaus: Du hast in der «Verwilderung» geschrieben, der Blumer setze sich aus drei Teilen zusammen: Ein Teil sei Fiktion, ein Teil Deine Erfahrung und ein Teil sei N.M. Da hast Du meine Biografie gebraucht.

Otto F.: Deine äussere Biografie...

Niklaus: Nicht meine äussere Biografie, meine Biografie. Das wäre mal interessant für eine Untersuchung. Ich fühlte mich reduziert auf eine Rolle, in etwa die des intellektuellen Töffahrers. Ich habe dort das Gefühl gehabt, dass Du Dich gar nicht richtig interessierst – wenn Du schon N.M. schreibst –, wie ich wirklich bin; so wie es Dir nicht unter die Haut gegangen ist, meiner Ansicht nach, wie ganz schlimm und verschissen die Journalistensituation ist.

Otto F.: Als ich damals circa einen Drittel der Verwilderung verfasst hatte, hast Du, Niklaus, mich besucht. Wir haben uns über irgendetwas gut unterhalten und dann hast Du mir begeistert davon erzählt, dass Du eine gute Occasion gekauft hast. Du hast mir den Töff auch gezeigt, und dann bist Du davongefahren, ich habe Dir nachgeschaut und gedacht: Mou, genau so. So muss derjenige aussehen, der mir da fehlt in meinem Manuskript.

Niklaus: Nachher hast Du das gedacht?

Otto F.: Ja, nach diesem Drittel, als ich Dich davonfahren sah. Weil, diese Figur hat mir ungeheuer gefehlt, die mir gewissermassen ermöglicht hat, mich selber einzubringen in den Roman. Ich habe nicht einen Verlagsmenschen einbringen können in jenes Buch. Dieses Bild, wie das ausgesehen hat: der alte Töff, Du mit Deiner Jacke... Ja, das hat einfach etwas ausgelöst bei mir: Eine partielle Identifikationsmöglichkeit mit einer Figur, die ich brauchen konnte. Ich habe mich tatsächlich nicht für Deine Biografie interessiert und für Dein Schreiben und Dein Lieben und Hoffen, sondern für Dich als Typus, als Hohlform, die ich habe nehmen können, um mein Zeug hineinzufüllen. Oder: interessiert schon, aber nicht in diesem Zusammenhang.

Du hast mit Recht einmal gesagt: Gopferdami, das dä ou no e Sälbschtmord mues mache, das chunt doch gar nid in Frog. Das hab ich doch gar nicht gemacht...

Niklaus: Ich bin nicht einmal mehr frei, Selbstmord zu machen. Sonst würde es heissen, jetzt ist doch noch eingetroffen, was der Otti einmal vorausgesagt hat. Diesen Gefallen werde ich Dir nicht machen.

Otto F.: ...und ich hab damals geantwortet: Da ist doch vor allem viel von mir darin, sehr viel mehr als von Dir.

Niklaus: Aber im Buch ist der Blumer Journalist, war in Paris, fährt Töff, Mai 68. Es ist also nicht der Luchsinger von der NZZ, sondern schon eher ich, nicht wahr.

Otto F.: Das bist eher Du als der Luchsinger ja.

Niklaus: Aber es ist auch eher mich als Dich, weil Du aus irgendeinem Grund nicht Töff fährst. Das ist doch so ein Punkt.

Otto F.: Das ist auch ein Punkt, gut. – Und in meinem letzten Buch: Da findet, wie ich meine, ein freundschaftliches Spiel statt, als der Freund Peter zu Wander sagt: Gopferdami, wie kommst Du dazu, mich, meine Biografie in Deinem Buch darzustellen? Mir sogar einen Selbstmord anzuhängen, und Deine Imagination draufzugiessen, geht man so mit Freunden um... Ich könnte mir sogar vorstellen, dass da beim Lesen über das Gesicht von Nik ein weiches Lächeln ging.

Niklaus: Tat’s auch, tat’s auch. Ich habe die Stelle schon richtig verstanden, aber damit ist das Problem nicht gelöst. Ich dachte mir, jetzt fängt er das Zeug noch auf eine raffinierte literarische Art an zu verwursten.

WoZ: A propos Verwursten, Du selber verwendest in Deinen Artikeln doch auch, was Du erfährst, was man Dir erzählt.

Niklaus: Wenn ich jetzt aber etwas machen würde, wo Du, Otti, auch nur annähernd drin vorkämest, nicht einmal als Drittel, dann würde ich mich mit Lust hinter Deine Biografie machen. Die paar Sachen, die Du mir wegen Deinem Vater erzählt hast, was Du über Deine Kindheit dokumentarisch geschrieben hast in der «Zeit», habe ich hochinteressant gefunden und mit viel mehr Spannung gelesen, als wenn Du einen Roman draus gemacht hättest. Dass Du in diese wahnsinnige Verlegerfamilie hineingeboren bist, die Geschichte von Deinem Vater, wie er Dich, den Sohn nach den vielen Mädchen, auf’s Ross genommen und herumgezeigt hat. Wenn ich richtig orientiert bin, ist er mit Dir, dem kleinen Bürschchen, in den Spunten rund um Olten renommieren gegangen: Schaut, wie ich nach den Mädchen doch noch einen Buben zustande gebracht habe – das ist schon ein starkes Bild. Deinen Vater würde ich gerne recherchieren. Gut, ich käme mir als Eindringling vor in Deine Familie

WoZ: Der Unterschied ist, dass Otto F. gar nicht Dich darstellen wollte.

Niklaus: Doch, er hat mich dargestellt, er hat mich als Versatzstück gebraucht.

Otto F.: Ich werde Dich mal darstellen...

Niklaus: Gott bewahre.

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9. Und die Frauen in Euren Büchern?

Frau als Projektionsfläche – Frau, funktionslos Vibrationen auslösend – Niklaus wäre mit Ruth nach Italien gefahren – Die politische Situation, kurz und bündig – Zwei Schriftsteller am Ende der Aufklärungstradition.

WoZ: In deinem Buch reflektierst Du, Otti, darüber, dass die Frauen als Projektionsfläche missbraucht werden. Gleichzeitig bleiben die Frauenfiguren im Roman vor allem Projektionsflächen.

Otto F.: Ich glaube natürlich schon, dass wir in unseren patriarchalischen Mustern nicht allein dadurch geändert werden, indem wir sie durchschauen. Ich erzähle von dieser Irritation durch Frauen. Das ist ein erster möglicher sinnvoller Schritt. Summarisch: Ich erlebe Frauen als deutlich weniger kaputt als Männer. Diese Erfahrungen machen entsprechend auch meine Roman-Männer. Dass dabei Idealisierung mitspielt – nun ja: ist möglich.

WoZ: Um einfacher zu fragen: Welche Funktionen, welchen Stellenwert haben Frauen in euren Büchern?

Niklaus: Die haben keine Funktion bei mir, und ich glaube auch nicht, dass ich sie brauche. Sondern sie bringen mich, wie auch Freunde, in Vibration und dann interessiert es mich und ich versuche möglichst genau hinzuhören, aber sie haben keine Funktion in einem Handlungsablauf drin.

WoZ: Sie kommen ja auch kaum vor in Deinen Büchern.

Niklaus: Goht’s no! Ich habe wirklich Anrecht darauf, dass meine Sachen gelesen werden, wenn man darüber reden will. Bei mir kommt zum Beispiel eine Gewaltsmama vor, namens Madame Soleil in einer meiner Frankreichreportagen. Gut, es ist vielleicht nicht eine Frau, die Eurem Frauenbild entspricht, aber das ist doch eine unheimliche Muttergottes-von-Einsiedeln. Dann kommen X Frauen in meinen Gedichten vor, in Liebes- und anderen Gedichten, es kommt Frau Arnold vor, die als Dienstmädchen die Titanicüberfahrt überlebt hat. – Frauen haben nicht einfach eine klare Funktion.

WoZ: Du hast Otto F. wegen seiner feministischen Passagen angegriffen, Feminismus, den sich seine männlichen Figuren «vor den Bauch hängen». Wie ist da Deine persönliche Haltung?

Niklaus: Mich hat einfach diese Stelle in Walters Buch schockiert: Da wollen die zwei nach Italien fahren, kommen offenbar einmal dazu, sich richtig zu geniessen und da fährt der politische Hammer dazwischen, die Pflicht ruft sie zurück. Ich könnte mir das mit keiner Frau, die mir gefällt und der ich auch gefalle – gegenseitiges Wohlgefallen und Wohlbefinden und Geilheit und Lust – vorstellen, dass ich da nach Zürich zurückdube, wenn ich schon am Gotthard oben bin. Das ist für mich jenseits.

Otto F.: Ja, ich habe die erwartete Bumsszene ausgelassen. Ich habe Anlass gehabt, die beiden aus dem Urnerland zurückkehren zu lassen. Nik wäre einfach lieber mit dieser Frau nach Italien, was auch immer sonst sein mag. Das ist eine respektable Möglichkeit. Ich habe möglicherweise zuwenig plausibel gemacht, dass das Zurückkehren für Ruth, aber auch für Wander ein Zwang war, dem beide nicht ausweichen konnten. Es ist mir in diesem Buch unter anderem darum gegangen, die Behaftbarkeit von einem, der etwas geschrieben hat, darzustellen, die Behaftbarkeit von Fiktion, von Literatur. Du, der du die und die Sachen geschrieben hast, gerätst in eine Situation, wo du plötzlich merkst: Moment, das ist ja eine Situation, die ich sehr ähnlich auch schon beschreiben habe. Und jetzt muss ich mich entscheiden, zu agieren. Das ist ja das tolle am Schreiben, du kannst deine Grenzen, alle Grenzen, die dir gegeben sind, die kannst du schreibend völlig überwinden, kannst ausflippen, über alle Weltmeere hinweg. Kannst unvergleichlich radikaler sein, als du es wagst in deiner persönlichen Existenz.

Dieser Zusammenprall von Fiktion und Leben bei dem, der Fiktion erzeugt, hat mich bei der Entwicklung der Fabel interessiert. Dass es im Grunde das Überich seines eigenen Schreibens ist, das ihn spüren lässt, zwar fluchend: ‚Morn mues i mir im Spiegel wider chönne is Gsicht luege; und der Spiegel ist unter anderem das, was er geschrieben hat. Da kommt ein Druck, der selbst die Versuchung, nach Italien abzuhauen, killt. Eine Frage der Selbstachtung, gar nicht mal der Moral. Im übrigen bleibt das Versprechen: Wir zwei bleiben dabei, das machen wir noch, nur nicht gerade jetzt, in diesem Moment. Sonst wäre der ganze Italientrip vermiest durch das Gefühl, dass ich, Wander, versagt habe, vor dem, was ich geschrieben habe.

Niklaus: So, wie Du das erzählst, kann ich es akzeptieren. Aber aus dem Text ging dieser Zwang einfach nicht klar hervor.

Otto F.: Es gibt immer die Möglichkeit, dass man ungenau liest.

WoZ: Otti, Du hast vorhin gesagt, Utopien könnten im Augenblick höchstens im Märchen überwintern...

Otto F.: Ich hab wirklich nur wenig Hoffnung im Augenblick, dass Utopien realisierbar wären. Ich halte die politische Situation für absolut verschissen und ich halte es für möglich, dass es jetzt step by step so weitergeht, bergab, immer noch verschissener.

Niklaus: In letzter Zeit hab ich allerdings den gleichen Eindruck wie Otti, vor allem in der Schweiz.

Otto F.: Diese Einschätzung würde für mich aber nicht heissen: Widerstand aufgeben. Widerstand leisten ist einfach die menschenwürdigere Haltung, die Haltung, die uns nicht ganz kaputt macht. Das ist keine Resignation. Das ist das Beharren auf einem Kern. Hoffnung? Doch. Auf alle die Leute, die sich bewegen. Die sich zusammentun, um gemeinsam aufrecht zu gehen.

WoZ: Ihr steht als Schriftsteller beide in der Aufklärungstradition. Kann man das heute noch, aufklären?

Otto F.: Ich meine: Beharren auf dem aufklärerischen Geist, dem oppositionellen, dem anarchistischen Denken, unabhängig von der Chance auf Wirkung. Dabei bleibt’s für mich auch dann, wenn ich schon längst weiss, dass ich für eine Minderheit schreibe.

Niklaus: Ob Du für eine Minderheit schreibst, das ist ja sehr schwierig zu entscheiden: Ein Buch hat auch eine

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Langzeitwirkung, kommt zum Beispiel beim Ex Libris noch mal, Übersetzungen –

Otto F.: Du, ja schon. Am Schluss sind es vielleicht 10 Prozent der Leute –

Niklaus: Du musst natürlich von jenen ausgehen, die überhaupt lesen.

Otto F.: Die Lesenden sind eben eine Minderheit.

WoZ: Niklaus, ist Aufklärung noch möglich?

Niklaus: Oft kann man das nur noch in Form von zynischen Artikeln, sehr bösartigen Artikeln. In der alten Form Aufklärung – Du musst Dir vorstellen, da müsstest Du in einer wirklich grossen Zeitung regelmässig mit grossen politischen und wirtschaftlichen Artikeln zu Wort kommen – man kann es immer noch versuchen, aber diese Zeit ist wohl endgültig vorbei. Darum haben – unter anderem aus politischen Gründen – die Fiktionalisten Hochkonjunktur.

[1] Mit diesem Titel überschrieb Otto F. Walter seinen Beitrag zum Zürcher Literaturstreit, der am 17. Januar 1967 in der «Neuen Zürcher Zeitung» veröffentlicht worden ist.

[2] Mit dieser Antwort war Otto F. Walter beim Gegenlesen des Interviewmanuskriptes nicht mehr zufrieden. Er schrieb eine neue Fassung, die uns allerdings ein zu grosser Eingriff in den Gesprächsablauf schien. Um der Transparenz Willen dokumentieren wir sie als Fussnote:

Otto F.: Ihr liebt die Riesenfragen. – Ich versuch’s: «Langsam» – in Beziehung zu was? Zur Aktualität. Zur Zeitgeschichte. Sie ist das Feld vor allem der Reportage, des Dokumentarischen. Nicht zuerst der Literatur. Das von 100 Romanen in der Schweiz sich vielleicht deren zwei dennoch auf sie einlassen, ist kein Zufall. Was ist ein Roman? Er ist nicht Abziehbild der Wirklichkeit. Ist gerade nicht «realistische» Widerspiegelung. Er zielt immer wieder darauf, unbewusste Phänomene, individuelle, auch gesellschaftliche, in ästhetische zu verwandeln, wodurch sie erfahrbar, auch erkennbar werden. Sein Stoff ist subjektive Erfahrung, Gedächtnis, Erinnerung, ist aber auch Imagination, ist Entwurf der Phantasie. Er zielt auf Autonomie, auf eine künstlich hergestellte Wirklichkeit, die so stilisiert, so verdichtet ist, dass sich daraus etwas ablesen lässt, was über das Vereinzelte hinausgeht ins Allgemeinere. So kann ich als Leser ihn durchwandern, enträtseln und seine Bilder in meine Bilder, in meine Erfahrung übersetzen, versteht du? Kann dieses komische Ding Roman überhaupt aktuell auf Zeitgeschichte reagieren? Ich zum Beispiel tu das – im vollen Bewusstsein des Risikos, den Roman als Form zu überfordern. Weil ich mich auch als Chronist verstehe, und auch ein bisschen als Warnsystem. Und weil mich verletzt, was da so abläuft. – Jetzt erst zurück zur Frage: zur Sprache. Jede Sprache, ob Hymne oder Märchen oder erfundenes oder echtes Dokument, ob Vers, ob fingierte Reportage oder Rollenprosa oder Bibelzitat, ist mir recht, um den Roman, um diese Sinfonie so vollkommen klingen zu lassen, wie mir das nur immer möglich sein mag. Da steht mir die ganze Weltliteratur als Werkzeugkiste zur Verfügung. Noch hab ich viel zu wenig gelernt, mit dieser Fülle an Instrumenten umzugehen. Wird langsam Zeit, ich weiss.

[3] Schweizerische Journalisten und Journalistinnen Union, ab 1998 Teil der Comedia, seit 2010 Teil der Mediengewerkschaft Syndicom.

[4] Zu diesem Einwurf formulierte Otto F. Walter beim Gegenlesen eine weitere Antwort:

   «Aber Deine Feststellung, Lotta, wegen den Mechanismen der Repression. Klar sind Leute, die Jahre und Jahre subtil diszipliniert wurden, etwa in einer Redaktion, nicht plötzlich fähig, souveräne Journalisten zu sein. Repression macht bekanntlich auch psychisch kaputt. Zurückweichen macht kaputt. Davon schreibe ich ja. Das Unglück zwischen Euch und mir: Ihr habt mein Buch in den Kanal ‘Journalistenroman’ geschoben, weil Journalismus darin eine Rolle spielt. Es handelt aber – weit vor allem anderen – von einem ziemlich kaputten Schriftsteller, und der wird beim Wort seines Romans genommen, politisch und in der Liebe.»

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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