Narrenschiff und Revolte

Eben ist Rodja, der Ich-Erzähler, in die Luft gegangen. Im Stil eines Skispringers schiesst er über das slowenische Hafenstädtchen Piran empor, fliegt aufs Meer hinaus, stürzt ab und wird beim Auftauchen von einer sprechenden Möve folgendermassen begrüsst: «Ziemlich geschickt, Ihr Trick, sich die eigene Geschichte von Marek und Mâlek und Manek erzählen zu lassen.» Diesen «Trick» erläutert der Ich-Erzähler gleich zu Beginn des Buches so: «Jemand, den ich Marek nenne, wird dir meine Kindheit und frühe Jugend erzählen; einer, den ich Mâlek nenne, die wilden Jahre; ein dritter, der Manek heisst, wird alles noch einmal berichten – von Anfang an und anders, und wie es auch hätte sein können, oder tatsächlich gewesen ist.» So zerlegt Monnerat die erzählte Biografie in drei Teilgeschichten und montiert sie anschliessend so, dass sie aufscheint wie in einem zerbrochenen Spiegel.

Drogen, Sex und Revolution

Marek ist der, «der vom Rand her kam durch das Brachland aus der Erinnerung». Wie Monnerat 1949 geboren wächst er mit den Eltern und dem Bruder in der Vorstadt auf. Die Mutter ist wegen einer Tuberkulose längere Zeit in einem Sanatorium; der Vater, ein geschickter Handwerker mit «grossen Schlosserhänden», baut seinen Buben zu Weihnachten eine Eisenbahnanlage mit sechs Weichen. Das Vorgymnasium bringt die  Entfremdung vom Elternhaus trotz der Hoffnung, «später als Studierter nicht aus der Welt der Maschinen und Handgriffe» hinauszufallen. Marek kauft sich eine Kamera und begibt sich in der «Verlorenheit von stillgelegten Bahngeleisen» auf die Suche nach dem Schönen. Er findet es – ins weiche Fleisch einer Melone fickend – im Sound der Rolling Stones. Diese Geschichte bricht 1966 ab.

Mâlek ist ein radikaler Jugendlicher voller «Verweigerung des ihm Zugedachten». Ihn empört «die Öde des Lebens», das die anderen führen. Er lebt mit einer Gruppe von militanten Linken in einer Kommune und begeht daneben mit Rutlof Kutter, einem ehemaligen Schulkollegen, Einbrüche und Autodiebstähle. Als die beiden als anarchistische Aktivisten einen Brandanschlag auf Polizeifahrzeuge durchführen, fliegt Mâlek «wegen Gefährdung der Gruppe» aus der Kommune, und die Karriere als Revolutionär kann er vergessen: «Der Ruf, politisch unzuverlässig zu sein, würde ihn überall einholen und ihm im Wege stehen.» Er findet Unterschlupf in einer Wohngemeinschaft, verliebt sich dort in «die Malerin», mit der er den Mittelmeerraum und auf LSD das eigene Bewusstsein bereist. Nach der Rückkehr geht die Malerin nach Mexico, Mâlek bleibt und macht «Erkundungs- und Beschaffungsaktionen» für «Sabotagezellen», Rutlof verschwindet und bringt sich in einem südfranzösischen Naturreservat um. Mâleks Geschichte bricht 1975 ab.

Zu dieser Zeit sitzt Manek im Gefängnis und schreibt an biografischen Aufzeichnungen: Als Gymnasiast hat  er «die Amazone» kennengelernt, die ihn aus seiner Vorstadtherkunft in die breite «Alltagskultiviertheit» ihres Zuhauses einführte. Die Jahre nach 1968 waren für die beiden die «Jahre der Lebensfülle». Sie zeugten ein Kind und richteten sich in einer Wohngemeinschaft ein. Nach der Geburt Arianes kam es zur Entfremdung, Manek unternahm als «lonely cowboy» endlose Töfffahrten. Einmal fand er «am Wegrand» eine Walther-P-38-Pistole samt Munition – jene, die Mâlek früher einmal nach einem Einbruch vergraben hat? – und beginnt, vom fahrenden Töff aus auf Hinweisschilder zu schiessen. Dabei verletzt er einen Passanten schwer. Vor Gericht wird der in privaten Problemen steckende Freak zum Terroristen gemacht und entsprechend bestraft. Er kommt im Mai 1976 aus dem Gefängnis, durchlebt eine wilde Zeit mit harten Drogen und wird schliesslich Vater des Sohnes von Li, die «in ihrem entschlossen gegen die Welt gestemmten Gang» an chinesische «Rotgardistinnen» erinnert. Seit 1985 arbeitet Manek als «Journalist bei einer Gewerkschaftszeitung».

Die implodierte Gegenwelt

Das Marek-, die beiden Mâlek- und die drei Manek-Kapitel kontrastiert Monnerat in kurzen Zwischenspielen mit einer poetisch hintersinnigen Gegenwelt: Der Ich-Erzähler fabuliert für seine «vieille gamine» – eine Instanz, der er eine «dreifaltige Gestalt» zuschreibt: Sie ist «das Buch, das unter meinen Fingern entstanden ist», sie ist der, «der es geschrieben hat», und sie ist die «Frau, die die Gefährtin meiner mittleren Jahre sein könnte und vielleicht die Gefährtin meiner alten Tage sein wird». Ihr erzählt er die skurrilen Abenteuer, die er mit Jewgeni, Antonina, Raymonde und Séraphin erlebt, sympathischen Kobolden, die den sozialen Bedingtheiten enthoben durch die Welt ziehen. Einmal planen sie einen Internetfriedhof in Form einer weltumspannenden Schuhkästchenspirale, ein andermal errichten sie – plötzlich am Rand der Mâlek-Geschichte auftauchend – Rutlof Kutter ein Denkmal, ein drittes Mal unterhalten sie sich im Strassencafé mit dem Erzähler über ihre Existenz als Romanfiguren. Dazwischen räsoniert der Erzähler immer wieder über Gott, die Welt und seine Arbeit: «Wie ein Karnevalszug trottet mein Text über das Papier und stellt Vogelscheuchen auf, macht Lärm und Faxen aus reiner Verlegenheit, sich kein Haus im Jenseits vorstellen zu können.» Schliesslich setzt er seine erfundenen Figuren in ein «Narrenschiff», auf dem plötzlich drei Gestalten auftauchen, «die ihre Masken abnehmen und sich einander vorstellen». Sie nicken sich zu und sagen: «‘Ich’ – ‘Ich’ – ‘Ich’».

Dieser Moment der Rekonstruktion eines konsistenten Ichs trifft zusammen mit einem welthistorischen Datum: Am 9. November 1989 schlagen die jubelnden Menschen in Berlin «die Mauer Stein für Stein weg», und es wird klar, dass die USA «zur beherrschenden Macht der Erde und zu einer Bedrohung der Menschheit» werden würde. Damit hat in diesem Text die Fiktion ausgedient: Wenn keine andere Welt mehr angestrebt werden kann, muss erzählend auch keine mehr erfunden werden. Deshalb kauft sich der Ich-Erzähler einen Hut und einen Mantel, «um wie Rudolf von Salis auszusehen», der ihm als «Inbegriff eines Citoyens» erscheint. In diesem Vorbild, das für distanzierte Weltbeobachtung und -kommentierung steht, findet Marek-Mâlek-Manek, «der bis 1989 Kommunist war», seine neue Identität.

Hier ist dieser Entwicklungsroman zu Ende. Monnerat hängt jedoch ein Kapitel an, das die poetisch gehärtete Verbrochenheit der Romankonstruktion zum Einsturz bringt: 1995 macht der Ich-Erzähler – er ist nun nicht mehr von Monnerat zu unterscheiden –, mit seinen Eltern eine siebentägige Reise nach Beijing. Sozusagen als privatgelehrter Massentourist verfasst er dazu ein Reisetagebuch. Da diese vorläufigen Notate in ihrer Unentschiedenheit zu keinem Romanende führen, outet sich der Autor als Liedermacher und hängt der China-Sequenz einen Liedtext an («Der Fluss erinnert mich daran / Wie lange etwas wehtun kann / Und wie wenig wir davon wissen»). «Watching the River Flow» heisst dieses Kapitel und spätestens nach dem Satz «Hat mir der Buddha zugezwinkert?» wird die Koketterie mit der Altersweisheit etwas bemühend. Immerhin ist zuvor ein wirklich spannender, poetischer und klug erzählter Roman zu lesen, an dessen Ende die Citoyenneté weniger für buddhistische Weltabgeschiedenheit am ewigen Strom des Lebens als für die Einsicht steht, dass da ein Lebensentwurf zur Überwindung der kapitalistischen Welt gescheitert ist.

Roger Monnerat: Der Sänger. Roman, Zürich (Bilgerverlag) 2002.

Die Rezension von Roger Monnerats Roman «Lanze Langbub Simpelgeschichten» (1996) findet sich hier

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