Mit zu breitem Pinsel

Rechtzeitig zum Gotthelf-Jahr hat sich E. Y. Meyer (* 1946) von einem Satz des Literaturwissenschaftlers Walter Muschg über Albert Bitzius zu einem Roman inspirieren lassen: «Am ersten Tag des Jahres 1831 war er, von Sinnlosigkeit umlagert, in das winterliche Emmental.» Damals ritt Bitzius, der sich später Jeremias Gotthelf nannte, unterwegs von Bern nach Lützelflüh. Weil ihn die Stadt als Pfarrer nicht wollte, musste er hinten im Emmental eine neue Stelle antreten. Diesem Ritt ist der Text gewidmet.

Meyer, der gewöhnlich nicht davor zurückschreckt, erzählerische Stoffe wie weiland Gotthelf mit Moral und dozierenden Belehrungen zu belasten, hat seinen Stoff diesmal in eine denkbar schlanke Form gebracht. Erzählt wird, wenn auch kenntnisreich, in grösstmöglicher Verknappung, in kurzen Abschnitten, in einzeiligen Sätzen und Satzfragmenten: die Kindheit in Murten, die Jugend in Utzenstorf, die Studienzeit in Deutschland, Pestalozzi in Langenthal, das Vikariat in Herzogenbuchsee – montiert zu Assoziationsketten des Reitenden.

So radikal Meyer in seinem Frühwerk (z. B. «In Trubschachen», 1973) oppulent mäandernde Satzungetüme gebaut hat, so radikal lässt er seine Sätze nun an der Auszehrung leiden: «Er kannte  die Höfe der Bauern./ Die Ställe. Das Tenn. Die Heubühne./ Labyrinthe./ Gangsysteme. Verstecke. Irrgärten./ Die Felder. Die Bäche. Die Weiher. Die Wälder.» In dieser Art aquarelliert Meyer – gegen den Schluss des Textes zunehmend – mit dem Flachmalerpinsel und verbindet das quellenmässig Gesicherte statt mit eigener Erfindung mit der Deckfarbe von Einwortsätzen. Das muss die Gestaltungsarbeit im einzelnen probat verkürzt haben.

Eine Schlagseite ins Hochstaplerische erhält das Grobgepinselte zum Beispiel in der Passage, in der über zweieinhalb Seiten die Lebensverhältnisse von Verdingkindern geschildert werden (88 ff). Sie ist – ohne Quellenangabe – zusammengebastelt aus lauter einschlägig bekannten Formulierungen aus Gotthelfs Texten «Der Bauernspiegel» und «Die Armennot». Wo beginnt im Literarischen eigentlich das Plagiat? Weil der Text zudem voll ist von ausgewiesenen Zitaten, wirkt er zunehmend als eine Sammlung von Gotthelf-Exzerpten, die durchsetzt sind von einigen biografischen Apercus (der Sprachfehler, die Jagdbegeisterung) und Schilderungen des winterlichen Biglentals. Die Erfindung der Innenwelt des jungen Bitzius, die diese Materialsammlung erst zum inneren Monolog hätte werden lassen, behält Meyer seinem Publikum weitgehend vor.

E. Y. Meyer: Der Ritt. Ein Gotthelf-Roman,  Wien/Bozen (Folio-Verlag) 2004.

In der WOZ erschien die Besprechung leicht gekürzt unter dem Titel: «Die Weiher. Die Wälder».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5