Die Züchtigung der Verräter an der Poesie

Wer hat die Bücher von Jeremias Gotthelf geschrieben? Er zögere nicht, hat Carl Albert Loosli am 1. Februar 1913 öffentlich festgestellt, seiner Überzeugung gemäss zu antworten, «dass dies wohl kein anderer als Johann Ulrich Geissbühler, Landwirt auf der Bleiche bei Lützelflüh, war»[1]. Die Kapazitäten rieben sich die Augen. Die akademisch geadelten literarischen Leichenfledderer – von Loosli der Käferspezies der «Nekrophoren» zugerechnet[2] – sassen für einen Augenblick sprachlos vor der neusten Ausgabe der erst seit kurzem erscheinenden Bümplizer Wochenzeitschrift «Heimat und Fremde» und verstanden die Welt nicht mehr ob der Provokation eines autodidaktischen Schreiberlings, der Öffentlichkeit nicht nur respektlose Fragen zu Gotthelfs Biographie, sondern als Antwort darauf auch gleich eine hirnrissige Schlussfolgerung zuzumuten.

Aber fragen kann man sich natürlich schon: Warum hat Albert Bitzius, von 1831 bis 1854 Pfarrer von Lützelflüh im Emmental, bis in sein neununddreissigstes Lebensjahr mehr oder weniger nichts, danach jedoch innert achtzehn Jahren an die 20 000 Druckseiten geschrieben? Woher hat einer nach dem Studium der staubtrockenen Theologie und einigen Vikariatsjahren in Herzogenbuchsee und Bern auf einmal diese «umfassenden Kenntnisse aller land- und volkswirtschaftlichen Fragen» noch auf «den entlegendsten agrartechnischen Gebieten […], wie sie sich nur ein Praktiker im Laufe jahrelanger Arbeit auf der Scholle erwirbt»? Warum kannte dieser Pfarrer – nota bene ein Bernburger, dem die Landbevölkerung schon deshalb verschlossen begegnet sein wird – innert kürzester Zeit «die intimsten Familienverhältnisse der Gemeinde Lützelflüh»? «Wie erklärt es sich ferner», so Loosli, «dass die Nachkommen Bitzius’ sich je und je, ohne eigentliche stichhaltige Gründe für ihr Verhalten ins Feld führen zu können, gegen eine wissenschaftliche Bearbeitung der Gotthelfschen Werke sträubten? […] Wie erklärt es sich endlich, dass die Manuskripte einer ganzen Reihe von Hauptwerken, welche im Jahre 1898 noch vorhanden und in der bernischen Stadtbibliothek deponiert waren […] spurlos verschwunden und nicht wieder aufzufinden sind?»[3]

Fragen eines Insiders, wie man zugeben musste. Und Looslis Antwort war eben Geissbühler, ein Freund von Bitzius, «ein überlegen gescheiter Bauer, Eigenbrötler und Gesinnungsgenosse», der «seine Mussestunden mit Schreibereien» ausgefüllt habe. Bitzius habe die Arbeiten gelesen und ihre Veröffentlichung vorgeschlagen, Geissbühler habe abgewinkt, das sei nicht möglich, weil ihm «das Wesentliche abgehe, die akademische Bildung, die für schriftstellerische Tätigkeit bedingend» sei. Schliesslich hätten sich die beiden darauf geeinigt, dass Bitzius die vorliegenden Manuskriptstösse redigiere und anschliessend unter einem Pseudonym herausgebe, in dem Johann Geissbühlers Initialen enthalten sein sollten. Diese Theorie erklärt nicht nur Gotthelfs unglaubliche Produktivität, sondern auch seinen agrartechnischen und sozialen Sachverstand und gibt ein plausibles Motiv für die abweisende Haltung der Bitzius-Nachkommen gegenüber verlegerischen Bemühungen: Würde das ganze Gotthelf-Archiv öffentlich, käme an den Tag, dass «das grösste epische Talent, welches seit langer Zeit und vielleicht für lange Zeit lebte» – wie schon Gottfried Keller gerühmt hatte[4] – nichts als der Ghostwriter eines Lützelflüher Bauern gewesen war.[5]

Looslis Aufsatz «Jeremias Gotthelf, ein literaturgeschichtliches Rätsel?» bringt die Innereien der vaterländischen Philologen-Zunft in mächtige Konvulsionen und bereitet einen feuilletonistischen Sprachdurchfall vor, wie er sich selten über dieses Land ergossen hat. Diesen Loosli hatte man schon lange im Auge gehabt, diesen intellektuellen Emporkömmling, dem der Literaturwissenschaftler Jonas Fränkel vor einigen Jahren gar den Ehrentitel «Philosoph von Bümpliz»[6] glaubte geben zu müssen. Dieser Zeitungsschmierfink, der überall dreinreden zu müssen meinte, dieser «Bauernphilosoph», der «mit Stallschuhen in jede gute Stube» trat[7], wollte also aus Gotthelf Geissbühler machen. Jetzt war Loosli fällig.

Loosli der Gotthelf-Herausgeber

Nach seinem Tod 1854 geriet Jeremias Gotthelf, der sich selber als «Volksschriftsteller» verstanden hatte und als emmentalischer Dialekt- und Heimatdichter galt, mehr und mehr in Vergessenheit. Erst um die Jahrhundertwende begann sich die Neubewertung seines Werks durchzusetzen: Nun machten massgebliche Philologen Gotthelf zunehmend zum «Shakespeare als Dorfpfarrer im Kanton Bern» und bemühten sich, sein Werk in den Kanon der «Weltliteratur» emporzureden[8]. Zu den Pionieren dieser Gotthelf-Renaissance gehörte Ferdinand Vetter, «Ordinarius für germanische Philologie» an der Universität Bern. Zwischen 1898 und 1900 hatte er im Verlag Schmied und Francke mit einer «Volksausgabe von Jeremias Gotthelfs Werken im Urtext» begonnen. Das Projekt blieb, weil sich die Verleger zurückzogen, nach zehn Werkbänden und einem Ergänzungsband stecken.[9]

Zu diesen Pionieren gehörte aber auch ein Unbefugter. Carl Albert Loosli begann spätestens 1906, also als 29jähriger, Fäden zu spinnen mit dem Ziel, eine von einem Schweizer Verleger besorgte kritische Gesamtausgabe von Gotthelfs Werk zu initiieren.[10] Ein bemerkenswerter Vorsatz, wenn man bedenkt, das Loosli als Referenzen nichts als seine Leseerfahrung, den jugendlichen Enthusiasmus und seine Kenntnis der gotthelf’schen Sprache vorzuweisen hatte, die er sich zwischen 1895 und 1897 als Insasse der «Korrektionsanstalt für jugendliche Verbrecher» in Trachselwald zwangsweise erworben hatte. Ein schlechter Trost wird ihm damals gewesen sein, dass die zuvor an gleicher Stelle bestehende «Armenerziehungsanstalt Trachselwald» 1835 massgeblich von Pfarrer Albert Bitzius gegründet worden war.[11] Item, Loosli hatte einen starken Bezug zu Jeremias Gotthelf, und zwar nicht nur zum Dichter, sondern, wie er 1911 in einem Brief hervorhob, «in den letzten Jahren in stets erhöhtem Masse» auch zum «Menschen Gotthelf».[12]

Am 10. Februar 1911 schloss Loosli mit dem aus Bümpliz stammenden Jungverleger Eugen Rentsch in München einen Vertrag ab, der ihn zum Herausgeber einer «kritischen Gesamtausgabe der Werke von Jeremias Gotthelf» und einer «zwölfbändigen Volksausgabe ausgewählter Werke» machte; er versicherte sich der Mitarbeit von Ferdinand Vetter und Hans Bloesch, des späteren Oberbibliothekars der Berner Stadtbibliothek; er verfasste ein Subventionsbegehren an Gemeinden, den Kanton Bern und an die Eidgenossenschaft; Rentsch übertrug ihm gegen Honorar «Druckbeaufsichtigung, Adressensammlung, Subventionsverhandlungen, Propaganda aller Art»[13] – kurzum: Im Frühjahr 1911 war der kecke Loosli zum Manager eines publizistischen Projekts avanciert, das sich über mehrere Dutzend Bände erstrecken sollte.

Aber schon bald belasteten Konflikte das ehrgeizige Projekt. Es kam zum Bruch mit Vetter, dem Bloesch und Loosli vorwarfen, Gotthelf-Manuskripte veruntreut zu haben. Als im Januar 1912 «Geld und Geist» als erstes Buch (Band VII der Gesamtausgabe) erschien, zeichneten Bloesch und Loosli zusammen mit Rudolf Hunziker «in Verbindung mit der Familie Bitzius» als Herausgeber.[14] Darüber hinaus war Loosli den Bitzius-Nachkommen nicht genehm, wohl nicht zuletzt, weil er einen entscheidenden Fehler gemacht hatte: Er hatte die Familien Bitzius, Rüetschi und von Rütte erst begrüsst, als er mit Rentsch seinen Vertrag bereits abgeschlossen hatte. Die Familien hatten zwar grundsätzlich nichts gegen den neuen Versuch zu einer kritischen Gotthelf-Ausgabe einzuwenden, stellten nun aber Bedingungen: Vetter, mit dem sie sich überworfen hatten und der Nobody Loosli kamen für sie als Herausgeber nicht in Frage. Als Ersatz brachten sie neben Bloesch den Winterthurer Professor Rudolf Hunziker als Mitherausgeber ins Spiel und sperrten den Herausgebern der Rentsch-Ausgabe den Zugang zum Gotthelf-Archiv in der Stadtbibliothek so lange, bis sie ihren Willen vollständig durchgesetzt hatten.[15]

Loosli wehrte sich, doch wurde seine Position im ersten Halbjahr 1912 unhaltbar. Aus dem von ihm – mag sein: zu eigenmächtig – verfassten Subventionsbegehren wurde ihm der Strick gedreht. Er hatte im Ganzen 30 000 Franken verlangt und den grösseren Teil des Geldes als Honorar für die drei Herausgeber vorgesehen. Er machte mit anderen Worten geltend, als freier Schriftsteller und Familienvater von seiner Arbeit leben können zu müssen. In einer Pressekampagne wurde er dafür der Geldmacherei verdächtigt.[16] Rentsch konnte sein Gotthelf-Projekt nur retten um den Preis, Loosli fallenzulassen. Am 8. Juni schrieb er ihm aus München: «Um so etwas zu machen, ist eben ein gewisses diplomatisches Geschick erforderlich, das Dir – wie es sich nun gezeigt hat – ganz abgeht. Du hast eine Aufgabe übernommen, die Dir nicht liegt & der Du nicht gewachsen bist.»[17] Gleichentags erhielt er auch von Seiten der Bitzius-Nachkommen einen Brief: «Wir müssen auch unsererseits Ihren Rücktritt als Herausgeber verlangen.»[18] Am 24. Juli hat Loosli nachgegeben; an Rentsch schrieb er: «Um Dir gefällig zu sein und nur darum, bin ich bereit, auf den Vertrag betreffend der Gesamtausgabe der Werke Gotthelfs zu verzichten.»[19] Hunziker, der den Inhalt von Looslis Subventionsgesuch scharf missbilligt hatte, wurde von Rentsch mit der Oberleitung über das Projekt beauftragt. Damit hatten sich die Gotthelf-Erben durchgesetzt. Als im Herbst 1912 als zweites Buch der Gesamtausgabe der Band XVII (Kleinere Erzählungen 2) erschien, figurierte Loosli nicht mehr unter den Herausgebern. Bis 1932 wuchs die Ausgabe auf insgesamt 24 Werkbände, zwischen 1922 und 1977 kamen 18 Zusatzbände hinzu, vor allem Briefe, Predigten und politische Schriften. Rentschs Gotthelf-Ausgabe gilt bis heute als die beste und vollständigste und ist untrennbar mit den Namen Bloesch und Hunziker verbunden. Aber initiiert worden ist sie von Carl Albert Loosli.

Loosli der Gesellschaftskritiker

Zur gesellschaftskritischen Publizistik, die Loosli bereits seit der Jahrhundertwende gepflegt hat, schreibt sein Biograph Erwin Marti: «In seiner selbständigen Denkhaltung geriet Loosli in Konflikt mit ideologischen Strömungen, vor allem dem Imperialismus und dem Patriotismus; der materialistische Zeitgeist in seinen verschiedenen Ausprägungen stellte für ihn keine Alternative zur dahinserbelnden Religiosität dar.»[20] Eine Woche, nachdem sich Loosli als Gotthelf-Herausgeber hatte zurückziehen müssen, am 1. August 1912, brachte er die Broschüre «Ist die Schweiz regenerationsbedürftig?» heraus. Ein fulminanter Rundumschlag gegen «politische Dekadenz» und «Parteiendiktatur», gegen Juristentum und Beamtentum. Dagegen stellt er den «Willen zur Kultur», der in diesem Land jedoch «instinktiv als antidemokratisch, also staatsfeindlich» empfunden werde. Mit dem Kulturbewusstsein, das immer mehr dem finanziellen Erfolg geopfert werde, verschwinde auch der Sinn, «welcher unser Land bis jetzt noch politisch und ökonomisch zusammenhielt». Loosli schliesst, entweder müsse nun die «Regeneration erbarmungslos» durchgesetzt oder – wenn es denn wirklich nur noch um das Geld gehe – erwogen werden, «ob wir nicht unser Land einer grosszügigen Kursaalverwaltung à la Monaco in Regiebetrieb geben sollten».[21] Mit dieser Schrift habe sich Loosli «noch ganz andere Gegner auf den Hals gezogen als die ‘Universitätsbildungsschuster’ der philologischen Lehrstühle», hat der Literaturhistoriker Gustav Huonker später kommentiert.[22]

Geissbühler macht Schlagzeilen

Als Carl Albert Loosli die Philologenzunft mit seiner Geissbühler-These aufschreckte, war er als abgesägter Gotthelf-Herausgeber berühmt und als Gesellschaftskritiker berüchtigt. Auch deshalb ist das Rauschen im Blätterwald im Februar 1913 derart gross. Die Redaktoren der mächtigen Feuilletons, Hans Trog für die NZZ und Hermann Stegemann für den «Bund», aber auch Rudolf Hunziker als nun führender Gotthelf-Spezialist weisen Looslis These entrüstet zurück. Die Bitzius-Nachfahren wehren sich im «Bund» gegen die «literarische Gaunerei», die ihnen Loosli unterstelle und hoffen zu ihrer Ehrenrettung auf ein Machtwort von Volkes Stimme.[23] Die Zeitschrift «Wissen und Leben» bringt Belegstellen aus Gotthelf-Briefen, die Loosli widerlegen sollen und schliesst: «Man schämt sich recht von Herzensgrund, dass ein fraglos talentvoller und geistreicher Schweizer Schriftsteller ein derartiges Attentat auf die ethisch, nicht nur dichterisch so gewaltig dastehende Persönlichkeit Jeremias Gotthelfs gewagt hat.»[24] Der Herausgeber der «Weltchronik», August Lauterburg, gibt sich als Neffen des ersten Gotthelf-Biographen Carl Manuel zu erkennen und schreibt, in ihren Gesprächen habe Manuel «die Mitarbeiterschaft J. Geissbühlers» nie mit einem Wort erwähnt. Looslis These entspringe nicht «gewissenhafter wissenschaftlicher Forschung», sondern sei «gemeiner Bluff».[25] Kurzum: Mit bierernster Empörung breiten die feuilletonistischen Koryphäen aus, was sie von Gotthelf wissen.

Loosli hat in diesen Tagen häufig «wonnegrunzend», wie er später schreibt, in der Tagespresse geblättert. Am 22. Februar rückte er in «Heimat und Fremde» eine «Erklärung» ein, die er bereits am 4. Januar bei einem Notar versiegelt hinterlegt hatte. Darin stellte er fest, dass er seine Geissbühler-These veröffentlichen werde, «um einmal an Hand eines praktischen Beispiels den Nachweis zu erbringen, wie leicht es ist, auf dem Gebiete der Philologie Hypothesen aufzustellen, die einfach unhaltbar sind, und um mir das Vergnügen zu machen, die gelehrten Herren, welche auf meine Ausführungen hereinfallen werden, weidlich auszulachen. Weil ich die Herren Philologen als Verräter an der Kunst und der Poesie betrachte, darum züchtige ich sie.» Diese «Erklärung» hinterlege er bei einem Notar, «um Missdeutungen meiner Handlungsweise vorzubeugen und um das Andenken Albert Bitzius’ gegen übereifrige Philologen zu schützen».[26] Im übrigen gestand Loosli, dass er im vorigen Herbst mit einem Freund über die damals kursierende Hypothese diskutiert habe, Shakespeares Werk sei von Francis Bacon geschrieben worden. Mit diesem Freund habe er die Wette abgeschlossen, irgendeinem Dichter, «wenn er nur einmal fünfzig Jahre tot ist», sein Werk zu bestreiten. Und zwar wolle er das Rezept der Philologen anwenden: «Hochtrabender Ton, freche Behauptungen und viel Rabulistik! Das langt und dann noch eine gehörige Dosis Respektlosigkeit!» Zu den Reaktionen auf seinen Geissbühler-Artikel schrieb er: «Es ist ferner eingetroffen, was ich voraussah: Nämlich die nationale Eigenliebe ist verletzt worden – die Volksseele kocht –, und eine prächtige Anzahl ‘berufener Gotthelfkenner’ hatte Gelegenheit, ihre profunde Sachkenntnis im Kampfe gegen ein Phantom ritterlich und öffentlich zu beweisen.»[27]

Nun war klar: Loosli hatte sich – nota bene zur Fasnachtszeit – einen Scherz erlaubt und der Öffentlichkeit die gelehrten Feuilletonisten als eingebildete, hohle Schwadroneure vorgeführt. Die NZZ war entgeistert: «Wir hatten bisher in unserer Schriftstellerwelt den Fall nicht erlebt, dass sich einer von der Gilde aus Freude am Ulk zum Ehrabschneider und Verleumder degradiert.»[28] Die «Neuen Zürcher Nachrichten» kommentierten: «Heute kann man den ‘Männern vom Fach’ nur kondolieren, dass sie Herrn Loosli auf den Leim gegangen sind.»[29] Das «Echo von Homberg» sagt Loosli «sehr unangenehme Folgen» voraus[30]; das «Solothurner Tagblatt» drohte ihm an, ihn von nun an «als einen Hanswurst» anzusehen[31]; das «Oberländer Tagblatt» befand: «Im gewöhnlichen Leben geht man an solchen Witzbolden mit verachtender Gelassenheit vorüber.»[32] Und auch Vetter, den vor allem die Hinweise auf das Verschwinden von Gotthelf-Manuskripten aus der Stadtbibliothek verletzt hatten, griff für den «Bund» zur Feder: Die «Hanswurstiade mit Gotthelf-Geissbühler und das Geschwätz von beseitigten Handschriften» bezeichnete er als «frechen Schwindel» und als «Lausbuberei».[33] Und einen guten Monat später, Ende März, führte er den Streit in der «Deutschen Literaturzeitung» weiter.[34] Loosli und Bloesch haben scharf repliziert, Vetter hat verletzt dupliziert[35]; die literarisch gebildete Welt wird sich ob diesem Hahnenkampf in der Provinz amüsiert haben.

Eine der wenigen differenzierten Stimmen zum «Gotthelf-Handel» war jene des Schriftstellers Jakob Bührer im «Berner Intelligenzblatt». Für ihn war zwar Looslis Aktion «nichts weniger als geschmackvoll». Jedoch: «Das ist ganz sicher, der Beweis ist ihm geglückt, dass heute der unsinnigste philologische Klatsch in der lächerlichsten Weise breitgetreten wird.» Und: «Ich müsste Bitzius von Grund aus verkennen, wenn der Jeremias Gotthelf und der C. A. Loosli nicht dereinst im Literatenhimmel mehr als eine Flasche zusammen ausstechen und herzlich lachen über den tollen Einfall des Bümplizers im Frühjahr 13.»[36]

Looslis der SSV-Gründer

Aber als Loosli seinen «Gotthelf-Handel» inszenierte, war er eben nicht nur freier Schriftsteller, streitbarer Gesellschaftskritiker und abgesägter Gotthelf-Herausgeber, sondern auch Präsident des Schweizerischen Schriftstellervereins (SSV).

1908 bis Anfang 1912 war er Generalsekretär der Gesellschaft schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten (GSMBA) gewesen und sass schon damals in der Urheberrechts-Kommission, der zwar der Handels- und Industrie-Verein sogut wie der Gewerbe- und Hotelier-Verein angehörten, jedoch kein einziger Schriftsteller. Auf einen entsprechenden Vorhalt sagte Bundesrat Eduard Müller damals, die Beiziehung von Schriftstellern sei auf Schwierigkeiten gestossen, weil sie «nicht gleich den anderen Interessenten zu einem Verband vereinigt» seien.[37]

Wieder war es Loosli, der handelte. Zusammen mit Hermann Aellen, Heinrich Federer und Alfred Huggenberger verfasste er einen Aufruf zum Zusammenschluss der Schriftsteller. Am 17. November 1912 wurde mit einer Vollversammlung in Bern der SSV gegründet; Loosli fiel die Ehre zu, zum ersten Präsidenten gewählt zu werden. Eine Woche später verschickte er per Zirkular an alle Vereinsmitglieder ein detailliertes Arbeitsprogramm: Im Zentrum stand die rechtliche Besserstellung der schriftstellerischen Arbeit.

Entsprechend fielen nun im Februar 1913 anlässlich des «Gotthelf-Handels» die Seitenhiebe gegen Loosli aus. Das «Badener Tablatt» sah den SSV durch seine Aktion «in tief bedauerlicher Weise blossgestellt»[38]. Und eine scharfe Abrechnung in der NZZ endete mit der Pointe: «Der schweizerische Schriftstellerverein hätte die leitende Vertretung seiner Berufsinteressen wirklich in keine seriöseren Hände legen können.»[39] Die Folge dieser Attacken: Der Vorstand des SSV spaltete sich sofort unwiderruflich und demissionierte am 5. April 1913 in corpore. Ein Protokolleintrag vermerkte, die Anti-Loosli-Fraktion im Vorstand sei der Meinung, es sei besser, wenn «ein polemischer Schriftsteller von der Schärfe des Herrn Loosli […] nicht an der Spitze einer Berufs-Organisation stehe». Weil gar ein Massenaustritt aus dem jungen Verein und damit der Verlust der Repräsentativität zu befürchten war, trat Loosli als Präsident zurück und gab seinen Austritt. Er ist dem Verein bis zu seinem Tod 1959 nie mehr beigetreten.

Für Loosli waren die Folgen des «Gotthelf»-Handels, wie Erwin Marti feststellt, «katastrophal»: «Viele verziehen ihm nie, ächteten ihn, versuchten ihn totzuschweigen.»[40] Für Gustav Huonker war Looslis Aktion zwar eine «famos durchgeführte, aber doch fragwürdige Literaturmystifikation» und alles in allem eine «groteske Unbedachtsamkeit»[41]. Bereits am 13. Februar 1913 hatte das «Oberländer Volksblatt» festgestellt, nach seiner Publikation «dürfte der Pamphletschreiber Loosli für ernsthafte Leute wohl erledigt sein». Erledigt war er zwar in der Tat für viele, die er dem Spott preisgegeben hatte. Trotzdem war er es, der am 1. März in «Heimat und Fremde» die vermutlich hellsichtigste Bilanz zum «Gotthelf-Handel» zog: «Sie rächen sich nicht an dem Loosli, der sich den Gotthelf-Scherz erlaubte, sondern sie rächen sich an dem Loosli, der die Frage aufwarf: ‘Ist die Schweiz regenerationsbedürftig?’ […] Immerhin, die Geschichte hat mich darin bestätigt, dass es unsern ‘geistigen Führern’ entschieden an Spürsinn gebricht und dass sie auf jede beliebige Leimrute kriechen. Sie hat mir fernerhin bewiesen, dass keiner, auch wenn er in guten Treuen jahrelang ehrliche Arbeit seiner Überzeugung gemäss geleistet hat, gegen die unter der kultiviert scheinenden Oberfläche lauernde Gemeinheit geschützt ist. Und endlich hat sie mir bewiesen, dass die Herren Moralstabstrompeter, wenn sie bedrängt sind, zu jeder Zeit der unglaublichsten Waffenbrüderschaften fähig sind.»[42]

Für diese Einsicht hat Carl Albert Loosli teuer bezahlt.

[1] Zitiert nach Stalder, Rudolf: Carl Albert Loosli 1877-1979. Nonkonformist und Weltbürger, Münsingen (Fischer) 1982, 182.

[2] Marti, Erwin: Carl Albert Loosli 1877-1959. Zwischen Jugendgefängnis und Pariser Boheme 1977-1907, Zürich (Chronos), 1996, 252.

[3] Zitiert nach Stalder, a.a.O. 180-182.

[4] Weder, Heinz/Cavigelli, Franz: Gottfried Keller über Jeremias Gotthelf, Zürich (Diogenes) 1978, zitiert nach Klappe.

[5] Ganzer Abschnitt: Stalder, a.a.O., 182-184.

[6] Marti, a.a.O., 240, Fn. 71.

[7] Marti, a.a.O., 239, Fn. 64.

[8] Holl, Hans Peter, Jeremias Gotthelf. Leben, Werk, Zeit, Zürich (Artemis), 1988, 11.

[9] Juker, Werner: Die Entstehung der Rentsch-Ausgabe von Gotthelfs sämtlichen Werken, in: Leonore Rentsch [Hrsg.]: 50 Jahre Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich (Rentsch), 1960, 60f.

[10] Brief Loosli an Otto von Greyerz, 5.12.1906, in: Schweizerisches Literaturarchiv, Mappe Loosli Ms. B/Sq 62 von Greyerz.

[11] Marti, a.a.O., 45ff.

[12] Brief Loosli an Frau Pfarrer von Rütte-Bitzius, 25.8.1911, in: Schweizerisches Literaturarchiv, Mappe Loosli Ms. B/Lq 2.

[13] Juker, a.a.O., 60ff.

[14] Jeremias Gotthelf: Geld und Geist, München & Bern (Eugen Rentsch), 1911, 2.

[15] Ausführliche Darstellung der Intrige siehe Juker, a.a.O. 63ff.

[16] Juker, a.a.O., 71ff.

[17] Rentsch an Loosli, 8.6.1912, in: Schweizerisches Literaturarchiv, Mappe Loosli Ms B/Vq 125.

[18] Emil Hegg an Loosli, in: Schweizerisches Literaturarchiv, Mappe Loosli Ms B/Lq 1.

[19] Loosli an Rentsch, 24.7.1912, in: Schweizerisches Literaturarchiv, Mappe Loosli B/Vq 125.

[20] Marti, a.a.O., 244.

[21] C. A. Loosli: Ist die Schweiz regenerationsbedürftig?, in: C. A. Loosli: Ihr braven Leute nennt euch Demokraten. Schriften zur Politik, Geschichte und Kultur, Frauenfeld (Huber) 1980, 125-178.

[22] Gustav Huonker: Nachwort, in: C. A. Loosli: Die Schattmattbauern, Zürich (ex libris), 1980, 363.

[23] Der Bund, 11.2.1913.

[24] Wissen und Leben, 15.2.1913.

[25] Weltchronik, 22.2.1913.

[26] Stalder, a.a.O., 193.

[27] Stalder, a.a.O., 189ff.

[28] NZZ, 28.2.1913.

[29] Neue Zürcher Nachrichten, 24.2.1913.

[30] Echo vom Homberg, 26.2.1913.

[31] Solothurner Tagblatt, 25.2.1913.

[32] Oberländer Tagblatt, 25.2.1913.

[33] Der Bund, 24.2.1913.

[34] Deutsche Literaturzeitung, 29.3.1913.

[35] Deutsche Literaturzeitung, 14.6.1913.

[36] Berner Intelligenzblatt, 26.2.1913.

[37] Hier und im folgenden: Ueli Niederer: 75 Jahre Schweizerischer Schriftsteller-Verband, in: SSV [Hrsg.]: Literatur geht nach Brot, Aarau (Sauerländer) 1987, 7-120, v.a. 9-19.

[38] Badener Tagblatt, 19.2.1913.

[39] NZZ, 28.2.1913.

[40] Erwin Marti: Nachwort, in: C. A. Loosli: Wi’s öppe geit (zitiert nach Martis Typoskript, 4).

[41] Gustav Huonker, a.a.O. 362.

[42] Stalder, a.a.O., 198f.

In der WoZ wurde dieser Text ohne Fussnoten abgedruckt. Eine ganze Reihe von damals nötig gewordenen kleinen Straffungen sind hier rückgängig gemacht worden.

Die wichtigsten Originalbeiträge, die in den Wochen des Skandals um Gotthelfs Autorschaft an seinen Werken publiziert worden sind, können nachgelesen werden in: C. A. Loosli: Gotthelfhandel. Werke Band 4, Zürich (Rotpunktverlag) 2007, 60-136. Für die historisch gültige Darstellung der damaligen Ereignisse vgl. aus heutiger Sicht: Erwin Marti: Carl Albert Loosli. Eulenspiegel in helvetischen Landen 1904-1914, Biographie Band 2, Zürich (Chronos)1999, 311-354.

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