Die Kunst, den Aufbruch zu verteidigen

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Spätherbst 1987: Das waren die Tage, als sich die Berner Stadtregierung gezwungen sah, die Neubesetzung des ehemaligen AJZs, des Autonomen Jugendzentrums Reithalle, zuzulassen. Das waren die Wochen, in denen mehrmals Tausende auf die Strasse gingen, um gegen die Vertreibungspolitik zu demonstrieren, mit der das Bürgertum im Gaswerkareal die Hüttendorfsiedlung Zaffaraya bekämpfen und schliesslich zerstören liess. Das war der Winter, in dem an der Fassade der neueroberten Reithalle ein riesiger hölzerner Hampelmann hing, der in Anspielung auf den damaligen Polizeidirektor Marco Albisetti auf den Namen «Albiseppli» getauft worden war. Das war die Stunde der erwachsen gewordenen Berner Subkultur, die sich nicht mehr daran hindern liess, Freiraum zu erobern und ihn zu befreien «von der Macht des Geldes»[1].

Heute, zehn Jahre danach, scheint der Begriff «Subkultur» noch verschwommener zu sein, als er es damals schon war. Klar ist nur, dass Stadttheater, Casino und Kunstmuseum heute so wenig wie damals zur Subkultur zu zählen sind. Aber bereits bei der Kunsthalle, der Dampfzentrale, dem Wasserwerk, dem Alten Schlachthaus ist das nicht mehr eindeutig. Und wie ist es mit den Kellertheatern und den Galerien in der Altstadt? Oder müsste man Subkultur dort suchen, wo sich Leute treffen, von den Schachclubs über die Kaninchenzüchtervereine bis zu Jodlerchören und Trachtengruppen? Oder ist der Begriff «Subkultur» von den Randgruppen und der Jugendkultur gepachtet, von den YB- und SCB-Fans bis zu Techno-Freaks und Internet-Surfern? Von den Schwulen und Lesben bis zur «Aktion Mühleberg stillegen» und zum Grimselverein? Von den Snowboardern und Skatern bis zu den Psychiatrieerfahrenen und den DrogenkonsumentInnen?

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Proletariat und Volkskultur

Definitionen des «Subkultur»-Begriffs gibt im deutschsprachigen Raum bereits aus der Zeit um 1968. Für den Soziologen Walter Hollstein war die Jugend prädestiniert für die Bildung von Subkulturen: «Da die Industriegesellschaft vor allem Rolle und Status der Heranwachsenden undefiniert lässt, ist die Jugend nachgerade prädisponiert, Teilkulturen zu entfalten.» Diese Teil- oder Subkulturen, fährt er fort, bezeichneten «einen akzidentiellen Dissens von der herrschenden Kultur, der sich zeitlich beschränkt in eigenen Normen, Verhaltensweisen und Gruppenbeziehungen ausdrückt.»[2]

In seiner «Theorie der Subkultur» stellte der Philosoph und Staatswissenschaftler Rolf Schwendter 1970 die Gesamtgesellschaft als Dreieck dar, dessen Spitze das «Establishment» bildet, das von einer «kompakten Majorität» aus Proletariat und Kleinbürgertum getragen wird. Zu beiden Seiten dieser Majorität bilden progressive und regressive Subkulturen die Ränder der Gesellschaft: «Die Normen, Institutionen etc. der progressiven Subkulturen dienen diesen dazu, den gegenwärtigen Stand der Gesellschaft aufzuheben, weiterzutreiben, einen grundsätzlich neuen Zustand zu erarbeiten. Die Normen, Institutionen etc. der regressiven Subkulturen dienen diesen dazu, einen vergangenen Stand der Gesellschaft, Normen, die nicht mehr oder nicht in dieser Weise, in der gegenwärtigen Gesellschaft wirksam sind, wiederherzustellen.»[3]

Der einzige Berner, der in der damals internationalen Auseinandersetzung um den Begriff «Subkultur» mitdiskutierte, war der Schriftsteller Sergius Golowin. Ihn lässt der Marxist Schwendter in seinem Buch ironisch kommentieren, «eine jede von 50 Subkulturen halte sich für progressiv und die anderen 49 für regressiv». Von Schwendtners Analyse hielt Golowin so wenig wie von einer geschichtsphilosophischen Festsetzung objektiven gesellschaftlichen Fortschritts. Er war geprägt von der Auseinandersetzung mit aussereuropäischen und mit all jenen Subkulturen, die die Obrigkeiten zu allen Zeiten nicht zu integrieren vermocht hatten, von den Bänkelsängern und Gauklern des Mittelalters bis zu den Hippies, Rockern und Freaks der Gegenwart. Für Golowin fielen die Begriffe «Volkskultur» und «Sub-Kultur» weitgehend zusammen und meinten beide den zeitlos in jeder Gesellschaft vorhandenen kulturellen Untergrund, der den Nährboden für die sterile Hochkultur der gesellschaftlichen Eliten bilde.

Subkultur als mikrosoziale Strategie

Der Nachteil all dieser Bestimmungen des Begriffs «Subkultur» ist ihre makrosoziale Perspektive. Sie taugen nicht, um im mikrosozialen Raum konkrete Phänomene auf ihren Subkulturgehalt hin zu überprüfen. Deshalb schlage ich vor, den Begriff so umzuformulieren, dass er für mikrosoziale Analysen tauglich wird. In meiner Auseinandersetzung mit verschiedenen kulturpolitisch aktiven Kreisen und Szenen auf dem Platz Bern seit 1950[4] erweist es sich als sinnvoll, die Subkulturhaltigkeit der einzelnen Phänomene anhand von fünf Bestimmungen zu überprüfen, wobei gilt: Der Grad, in dem diese Bestimmungen auf das konkrete Phänomen zutreffen, gibt Auskunft darüber, wie stark es insgesamt subkulturhaltig ist. Bei einem solchen Vorgehen ist von vornherein klar, dass es keine reine Subkultur gibt. Umgekehrt gibt es kaum kulturpolitische Phänomene ohne subkulturelle Anteile.

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Die fünf Bestimmungen lauten:

1. Prozess.– Der Aggregatszustand von Subkultur ist «flüssig», nicht «fest»; ist Bewegung, nicht Materie; ist Prozess, nicht Produkt.

2. Identität und Botschaft. – Subkultur hat einen ideellen Anspruch. Gegen die herrschenden Werte setzt sie ihre Werte; gegen die herrschenden Normen ihre Normen. Die selbst mitbestimmten Werte und Normen prägen die Identität ihrer Mitglieder. Subkultur ist die Praxis der bewussten Nichtintegration in die Gesamtgesellschaft und ermöglicht ihren Mitgliedern eine nicht-gesamtgesellschaftliche Gegenintegration.

3. Gegenöffentlichkeit. – Subkultur hat den Anspruch, sich und ihre Weltsicht in der Gesamtgesellschaft zur Diskussion zu stellen. Weil sie dissidente Inhalte öffentlich machen will, erfindet sie eigene Medien.

4. Organisation. – Die subkulturelle Selbstorganisation ist informell dominiert und deshalb instabil. Nicht nur ihr Zerfall, auch ihre formelle Verfestigung beendet tendenziell den subkulturellen Prozess. Defensive Subkultur manifestiert sich als «Kreis», offensive als «Bewegung».

5. Ökonomie. – Die ökonomische Basis von Subkultur ist reine kapitalistische Unvernunft: Das vorhandene Geld stellt sich in den Dienst für ein besseres Leben, nicht das schlechte Leben in den Dienst des Geldvermehrens.

Gegenkultur im Traumdepot

Mit diesen fünf Bestimmungen lassen sich bis 1970 verschiedene Phänomene auf plausible Weise als Subkulturen beschreiben. Für die Zeit seit den frühen siebziger Jahren genügen sie aber immer weniger, um den neuen Phänomenen gerecht zu werden. Seit den ersten Hausbesetzungen (zum Beispiel jene am Forstweg im April 1973) tritt eine Radikalisierung in der Frage des selbstbestimmten Raums ein, in dem sich subkulturelle Aktivität entfalten kann. Hat man sich bisher mit dem Mieten geeigneter Lokalitäten zufriedengegeben, wird nun «autonomer» Kulturraum zur vorrangigen politischen Forderung und – immer wieder – die extra-legale Raumnahme zur politischen Praxis.

• Die Berner Jugendbewegung verbindet ihre erste Demonstration am 20. Juni 1980 mit dem Slogan: «Tramdepot wird zum Traumdepot» und fordert an ihrer Vollversammlung am 23. Juni unter anderem «freie autonome Zentren». In den folgenden Monaten werden nicht nur das provisorische AJZ an der Taubenstrasse 12 besetzt und die Reithalle als AJZ erstritten, sondern in der Stadt auch rund ein Dutzend Häuser besetzt.

• Am 14. April 1982 lässt die Stadtregierung das AJZ räumen und das Areal anschliessend elf Monate lang durch Polizeigrenadiere hinter Stacheldraht sichern. Bis zum Herbst 1987 versucht sie danach vergeblich, mit einer Politik der Kulturraumverknappung die städtischen Subkulturen zurückzubinden.

• Seit 1984 häufen sich die Besetzungen, bei denen es meistens, aber nicht nur um Wohnraum geht: Das ZAFF an der Villettenmattstrasse 7 wird schnell zu einem AJZ-ähnlichen Kultur- und Veranstaltungstreffpunkt; die Gutenbergstrasse 50 wird vorübergehend von feministischen

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Aktivistinnen zu einem Frauenhaus umgenutzt; unter dem Namen «Strafbar» finden auf kurzfristig besetztem öffentlichem Boden immer wieder illegale Feste statt; auf dem Gaswerkareal bauen die ZaffarayanerInnen ihr Hüttendorf auf.

• Am 24. Oktober 1987 schliesslich wird als Abschluss einer Demonstration das Reitschulareal zurückerobert. Die erste Ausgabe der Zeitung «Megaphon» erklärte damals programmatisch: «Notwendig für ein wirklich öffentliches Leben sind selbstverwaltete Kulturzentren, eine flexible Kulturpolitik und Freiräume für längst überfällige Experimente in neuen Kulturformen.»[5]

Subkulturen, die bis heute mit Raumnahmen den territorialen Anspruch auf «rechtsfreie» Räume durchzusetzen versuchen, sind mit den fünf erwähnten Bestimmungen von Subkultur nicht mehr adäquat zu fassen. Deshalb wird eine sechste Bestimmung nötig:

6. Gegenkultur. – Schafft sich eine Subkultur durch Raumnahme einen Rahmen, der ihren Aufbruch in der Zeit haltbar machen soll, so entsteht dadurch eine Gegenkultur.

Subkultur in der Gegenkultur

In der Reithalle hat im Herbst 1987 ein Netz von Subkulturen einen gegenkulturellen Ort erobert. Was ist darin seither «Subkultur» geblieben? Zur Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, die Geschichte der Reithalle entlang der fünf Subkultur-Bestimmungen zu skizzieren.

1. Prozess: Die Reithalle als subkultureller Durchlauferhitzer.

Wie können prozesshafte Verläufe dingfest gemacht werden? Zwar spiegeln sie sich in Dokumenten, etwa in den Programmen der Kinogruppe oder den Archivbeständen des Infoladens, in den Menüplänen der Beiz SousLePont oder den Bühnenbildern des Theater-Dojos. Aber der Prozess ist gerade das, was in dem, was übrigbleibt, nicht mehr vorhanden ist; er ist das Schmiermittel der Maschine, nicht das, was sie produziert. Prozesshaftigkeit muss deshalb im Rückblick negativ bestimmt werden.

In der Reithalle ist kein Produktionsort und kein Dienstleistungsbetrieb entstanden, der auch nur lokal betrachtet zum volkswirtschaftlichen Faktor geworden wäre. In der Reithalle ist in den letzten zehn Jahren weder eine Musik, noch eine Literatur, noch eine Kunst, noch eine Filmkultur entstanden, die über die Schützenmatte hinaus als spezifische «Reithalle-Kultur» gelten könnte. Die wichtigen Hervorbringungen, die sich eindeutig der Reithalle zuordnen lassen, haben stark prozeduralen Charakter: Die Monatszeitschrift «megafon» so gut wie die laufenden Sanierungsarbeiten des Baukollektivs BakIKuR, die Konsumationsangebote von SousLePont und Cafeteria so gut wie die Konzert- und Filmprogramme der Veranstaltungs- und der Kinogruppe.

Trotzdem hat die Reithalle unbestreitbar eine Ausstrahlung weit über Bern hinaus und ist heute für tausende von Leuten ein Begriff, ein Treffpunkt, eine Werkstatt des kulturellen und politischen Engagements, kurz: ein subkultureller Durchlauferhitzer. Dass sie von vielen seit jeher als alternativer Konsumtempel genutzt worden ist, wäre erst dann entscheidend, wenn dadurch das prozesshaft Ablaufende verhindert worden oder weggefallen wäre.

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2. Identität und Botschaft: Bricolage und Weltfragmente.

Die explosive ideologische «bricolage», die im Herbst 1987 über Wochen bis zu 10 000 Leute auf die Strasse brachte, bestand vor allem aus zwei Elementen. Einerseits mobilisierte das gegen die «zivilisierte» Kultur gerichtete ganzheitliche Kulturverständnis, das aus dem Umfeld des Zaffarayas 1986 mit einem überall geklebten «Manifest» bekannt gemacht worden war und ein Jahr später wegen der obrigkeitlichen Räumungsdrohungen gegen das Hüttendorf zum Stadtgespräch avancierte: «Essen, Wohnen, Arbeiten, Denken, Fühlen, Träumen, zämä sii, zämä rede…Kultur heisst leben.» Andererseits hatten sich im Frühling 1986 verschiedene Einzelpersonen und alternative Kulturgruppierungen zum Verein «Interessengemeinschaft Kulturraum Reitschule» (IKuR) zusammengeschlossen und seither beharrlich ihre Forderung nach einem selbstverwalteten Kulturzentrum in den Räumen des ehemaligen AJZ’s wiederholt. Deshalb wurde die Anfangszeit der Reithalle von einem ideologischen Amalgam geprägt zwischen der rückwärtsgewandten Utopie vorzivilisatorischer Ganzheitlichkeit und der Forderung nach selbstverwaltetem Kulturraum durch eine postmaterialistische, urbane Alternativszene.

Durchgesetzt haben sich – über die letzten zehn Jahre betrachtet – zwei Botschaften: die Kulturvermittlung und das politische Engagement:

• In den Sparten Musik, Film und Theater ist die ursprüngliche Forderung der IKuR nach einem selbstbestimmten Kulturzentrums eingelöst worden. Als illusionär erwiesen hat sich dabei sowohl im Bereich der Konsumation als auch in jenem der Kulturvermittlung, Kultur im Sinn der Zaffaraya-Utopie ausserhalb des Marktes zu realisieren. Die Reithalle ist kein Indianerdorf, sondern ein Dienstleistungsbetrieb geworden.

• Am zumeist verbal-radikal vorgetragenen politischen Engagement fällt die fragmentierte Weltsicht auf. Einerseits ist die lokalpolitische Ebene wichtig, die häufig reduziert wird auf die Kritik der städtischen Repressionspolitik und auf die pragmatisch-schlitzohrig geführten Verhandlungen mit der Stadt um die Legalisierung der Reithalle-Aktivitäten. Andererseits gibt es die Kritik der weltpolitischen Grosswetterlage durch die kontinulierliche Solidaritätsarbeit, die Betreibung des Infoladens und die «Internationalistischen Seiten» im «megafon». Zwischen diesen beiden Ebenen jedoch klafft eine grosse Lücke: Zentrale innenpolitische Themen der letzten zehn Jahre fehlen weitestgehend (der dramatische wirtschaftliche Strukturwandel und die Schwäche des gewerkschaftlichen Widerstands; die Auseinandersetzungen um die Überführung des Nationalstaats in supranationale Strukturen u.a.).

Gesteuert wird das politische Engagement der Reithalle-Gegenkultur bis heute weniger von einer konstistenten Wahrnehmung der realpolitischen Wirklichkeit, als vielmehr von der je spezifischen Interessenlage der aktiven subkulturellen Kreise. Die feministisch engagierten Frauen beispielsweise wurden im Sinn einer gegenkulturellen Selbstkritik aktiv und begannen die patriarchalen Strukturen zu thematisieren, die sich innerhalb der Gegenkultur unreflektiert reproduzierten. In der Folge erkämpften sie sich durch zeitlich beschränkte und unbeschränkte Raumnahmen (Frauendisco, Frauenraum) eine Gegenkultur in der Gegenkultur.

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3. Gegenöffentlichkeit: Kaum mehr störende Kanäle.

Das wichtigste, weil kontinulierlichste Medium der Reithalle-Gegenkultur ist das «megafon», die monatlich erscheinende «Zeitung aus der Reithalle Bern», die von der reithalleeigenen Druckerei hergestellt wird.[6] Seit das Lokalradio Bern (RaBe) am 1. März 1996 seinen Sendebetrieb aufgenommen hat, gestalten Reithalle-AktivistInnen die wöchentliche Sendung «Störung – Infos aus dem Pferdestall». Im politischen Bereich wird von Fall zu Fall mit Demonstrationen, Transparenten und Flugblättern Öffentlichkeit hergestellt; die kulturveranstaltenden AG haben heute keine Mühe mehr, ihre Hinweise über die grossen Tageszeitungen, die Lokalradios oder über Radio DRS 3 zu verbreiten.

4. Organisation: Von der Brüllaffen-VV zum Alternativmanagement.

Seit den ersten «Brüllaffen-Vollversammlungen», die nach der Besetzung anfänglich jeden Sonntagnachmittag stattgefunden haben, hat sich die Organisation der Reithalle «zu einer disziplinierten Sitzungskultur weiterentwickelt».[7] Die grundsätzliche Organisationsstruktur ist von der Jugendbewegung zu Beginn der achtziger Jahre übernommen worden: Die AktivistInnen arbeiten in verschiedenen AG und halten zur Koordination und zu politischen Grundsatzdiskussionen regelmässige VV ab. Bereits das «Megaphon» Nummer 1 vermeldete, dass an der letzten VV «verschiedene Arbeitsgruppen» gebildet worden seien. Zwei Wochen später gibt es bereits eine Arbeitsgruppe «Telephonzytig», eine Elterngruppe, eine SchülerInnengruppe, die AG Repression, die AG Zärtlichkeit und Zorn, dazu Baugruppe, Sanitätsgruppe und Zytigsgruppe, eine Küche und die Gruppe für die Festkoordination Weihnachten.[8]

Wöchentlich entstehen damals weitere Arbeitsgruppen. Mitte Januar wird die «Koordinationsgruppe» aktiv: «Aus jeder Arbeitsgruppe zwei Leute delegieren, die max. 3mal teilnehmen (Rotationsprinzip). Neben der VV wird hier administrativer Kram erledigt (Stutz verteilt, Pool verwaltet, VV-Themen vorbereitet etc.).»[9] Bereits nach weniger als drei Monaten wurde also die Relativierung der basisdemokratischen Struktur nötig und die operative Leitung einem Gremium von vergleichsweise sachkompetenten AktivistInnen übergeben. Diese Struktur existiert bis heute. Vollversammlungen finden nur noch selten und dann zu grundsätzlichen Problemen (Wirtepatent, Bauhütte) statt; für die Organisierung des gegenkulturellen Alltagsbetriebs haben sie keine Bedeutung mehr.

Innerhalb der einzelnen AG machen sich heute in unterschiedlichem Mass Professionalisierungstendenzen bemerkbar – etwa wenn die Programmgestaltung in der Veranstaltungsgruppe nur noch von vier routinierten Aktivisten vorgenommen wird, die sich ihrerseits aufteilen auf die Sparten Jazz, experimentelle elektronische Musik sowie im Bereich der tanzbaren Musik auf Techno und Rap.

5. Ökonomie: Von Proudhon zur Quersubventionierung.

So uneinheitlich wie der Grad der Professionalisierung ist der Stand der Dinge in der Frage der Lohnarbeit. Bereits im Winter 1987/88 ist eine heftige Stutz-Debatte entbrannt. Auf der einen Seite führte eine anarchistische Fraktion

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Proudhon ins Feld («Eigentum ist Diebstahl») und schrieb im «Megaphon»: «Dass in der Reitschule gearbeitet wird, ist klar. Dass dies auf freiwilliger Basis und zum Nutzen aller geschieht, ist (war?) auch klar. (…) Die Diskussion läuft und Unglaubliches wird zum Teil vorgebracht: die Rede ist von LÖHNEN, ANGESTELLTENVERHÄLTNISSEN, STARGAGEN, EINTRITTSGEBÜHREN, GELD, KAPITAL. Kalte Schauer liefen mir den Rücken hinunter…»[10] Gegen solchen Purismus trat eine «Arbeitsgruppe gegen generalisierte Gratisarbeit – hier und anderswo» (AGGGGA-HUA) auf und argumentierte: «Zu den Ausgaben [der Reithalle, fl.] gehören neben Einrichtungsinvestitionen, Renovations- und Infrastrukturkosten vor allem Löhne und Entschädigungen. Denn wenn Tätigkeit zu Arbeit wird (stundenlang und immer wieder den Barbetrieb führen, Alk anschleppen, WCs putzen, aufräumen, Kinder hüten, Bücher abstauben, Abrechnungen erstellen etc.), dann hört über kurz oder lang der Spass auf.»[11]

Das Verhältnis zum Geld blieb in der Reithalle-Gegenkultur widersprüchlich und uneinheitlich. Wurden die Waren und Dienstleistungen zuerst überhaupt gratis oder zum Selbstkostenpreis angeboten, behalf man sich danach beim Eintritt zu Veranstaltungen jahrelang schamhaft mit Kollekten. Die Kinogruppe verlangt noch heute für ihre Vorstellungen keinen fixen Eintrittspreis, sondern gibt einen «Richtpreis» von 10 Franken an, der erst nach der Vorstellung entrichtet wird. Die meisten AG verkaufen ihre Dienstleistungen allerdings heute zu festgesetzten Preisen, anfallende Arbeiten werden normalerweise zum Reithalle-Einheitslohn von 15 Franken pro Stunde vergütet.

Vor allem zwei AG setzen heute Geld um: die Veranstaltungsgruppe und die Beiz SousLePont. In kleinerem Masstab fliesst Geld auch in der Cafeteria, im Dojo, im Kino und im Frauenraum. Die AG arbeiten nicht gewinnorientiert und haben einen Teil der Einnahmen an den Reithalle-Pool abzugeben, der darüberhinaus aus einer Steuer auf allem im Areal verkauften Alkohol und aus den Einnahmen des alljährlichen Baufestes gespiesen wird. Über diesen Pool wird eine Reithalle-interne Quersubventionierung (vor allem für das «megafon») und eine Deckung der Administrativkosten möglich (Löhne für die aus allen AG rekrutierten Betriebsgruppenleute, die sich im Sekretariatsdienst abwechseln; Telefonrechnungen; Büromaterial inklusive Hardware; Baurenovationen etc.). Für spezielle Projekte, die häufig genug die Möglichkleiten des Pools übersteigen, können die einzelnen AG’ Subventionsgesuche einreichen.

Das Primat des Territoriums: Vier Thesen zur Gegenkultur

Die Frage, die sich nach dem Überblick über die zehnjährige Geschichte der Reithalle stellt, lautet: Inwiefern ist die Reithalle heute noch Teil der Berner Subkultur? Allgemein: Inwiefern ist Subkultur innerhalb einer Gegenkultur möglich? Hierzu vier Thesen:

1. Gegenkulturen geraten tendenziell unter das Primat von territorialen Auseinandersetzungen, weil extra-legal eroberte Räume durch die Mitglieder der Gegenkultur ordnungspolitisch kontrolliert werden müssen. Deshalb haben nicht zuletzt territoriale Konflikte die bisherige Geschichte der Reithalle geprägt:

a) Geglückte Durchsetzung einer Gegenkultur in der Gegenkultur: Raumnahme durch die Frauen gegen die Männer;

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b) Gescheiterte Durchsetzung von Gegenkulturen in der Gegenkultur: Konflikt mit der Outcast-Subkultur auf dem Vorplatz, die schliesslich zu ihrer von der IKuR gebilligten Vertreibung durch die Stadtpolizei führte; Reithalle-intern organisierte Vertreibung der drogendealenden Gegenkultur aus dem Wohnhaus);

c) Gescheiterte «Besitznahme» von Raum: Grosse Halle, deren Nutzung heute von einem externen Verein organisiert wird.

2. Durch die Raumnahme gerät Gegenkultur in das dialektische Spannungsfeld zwischen Desintegration und öffentlicher Wirkung. Je vollumfänglicher eine Raumnahme gegen das Recht der gesellschaftlichen Mehrheit durchgesetzt werden kann, desto grösser wird die Desintegration und desto kleiner die gesellschaftliche Ausstrahlung (exemplarisch ist dieZaffarayasiedlung, die heute ohne jede gesellschaftliche Ausstrahlung als eine Art Standplatz von neuen Fahrenden auf einem Autobahnzubringer im Neufeld existiert).

3. Die Verfestigung von Subkultur in Gegenkultur ist der Versuch, die flüchtige Substanz der Subkultur durch Raumnahme in einen in der Zeit haltbaren Zustand zu überführen. In dem Mass, in dem sich Subkultur zu Gegenkultur verfestigt, schwächen sich die ursprünglichen, subkulturellen Impulse ab: (1) Die Prozesse verlangsamen sich; (2) der ideelle Anspruch läuft Gefahr, als bunte Kulisse eine realpolitische Sachzwanglogik zu verdecken; (3) der öffentliche Auftritt verliert seine Umstrittenheit und wird zunehmend zur pragamatischen Opposition; (4) die informelle Struktur beginnt sich zu formalisieren; (5) die Ökonomie wird zur kapitalistischen Vernunft genötigt.

4. Eine Gegenkultur, die weiterbestehen würde, nachdem sämtliche subkulturellen Impulse abgestorben wären, würde Teil der gesamtgesellschaftlichen Feierabendunterhaltung: Sie würde Teil der kompensatorischen Reproduktionskultur für die Rädchen in der Maschine des Systems.

Ist also, alles in allem genommen, eine Gegenkultur wie jene der Reithalle am Ende nur viel Lärm um nichts – oder doch: Viel Lärm um immer weniger? Gegenfrage: Sogar wenn es schliesslich so wäre, wäre das so schlimm? Der Geist weht, wo er will, haben wir in der Sonntagsschule gelernt – aber nirgends ewig. Gegenkultur ist – so wenig wie Subkultur – kein Selbstzweck. Das Entscheidende an solchen Kulturen ist, dass sie wirken, solange sie dauern. Solange sie dauern, sind sie in jedem Augenblick gelebte Opposition gegen die herrschende Kultur, also gegen die Kultur der Herrschenden.

Bis im Zusammenhang mit Kultur – auch jener dieses demokratischen Landes – nicht mehr von Herrschaft wird gesprochen werden müssen, werden noch viele subkulturelle Aufbrüche und gegenkulturelle Beharrungsversuche nötig sein. Jener der Reitschulbewegung seit 1987 ist, scheint mir, auf dem Platz Bern der gesellschaftspolitisch bedeutendste solche Versuch seit langer Zeit.

[1] Daniel von Rüti, in: Diskussion auf Radio Förderband, 15.11.1987.

[2] Walter Hollstein: Untergrund. Zur Soziologie jugendlicher Protestbewegungen, Neuwied/Berlin (Luchterhand) 1969, 156ff.

[3] Rolf Schwendter: Theorie der Subkultur, Köln (Europäische Verlagsanstalt), 1993, 36f.

[4] In erster Linie der «Kerzenkreis» und der Tägelleist»; vgl. hierzu ausführlich: Fredi Lerch: Begerts letzte Lektion. Ein subkultureller Aufbruch, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1996, 116-285.

[5] Megaphon Nr. 1, 26.11.1987.

[6] Zur Geschichte von «Megaphon» – resp. seit Nummer 122 im Januar 1992 «megafon» – vgl. den Schwerpunkt in: megafon Nr. 192, Oktober 1997.

[7] Johannes Wartenweiler: Jahre, die die Stadt veränderten, in: WoZ 47/1997.

[8] Megaphon Nr. 2, Dezember 1987.

[9] Megaphon, Nr. 7, Januar 1988.

[10] Megaphon, Nr. 8., Januar 1988.

[11] AGGGGA-HUA (Arbeitsgruppe gegen generalisierte Gratisarbeit – hier und anderswo): Zum «Stutz», Flugblatt undatiert (Dezember 1987).

Abgedruckt in: Hansdampf [Hrsg.]: Reithalle Bern. Autonomie im Zentrum, Zürich (Rotpunktverlag) 1998, 18-25. – Vorabgedruckt wurde der Text in: WoZ Nr. 47/1998 vom 19.11.1998. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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