Ein Hauch von Dissidenz

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Jeweils nach fünfundzwanzig Jahren fragen sich die Schweizer und Schweizerinnen plötzlich: Gibt es uns noch? Dann veranstalten sie in einem Akt  vaterländischer Selbstvergewisserung eine grosse Landesausstellung. Dort überzeugen sie sich und die Welt mittels wohlgefälliger Selbstbespiegelung davon, dass es sie noch gibt. Danach leben sie die nächsten fünfundzwanzig Jahre arbeitssam und und zufrieden weiter.

Das war 1939 so, als mit der «Landi» in Zürich dem Faschismus im Süden, dem Nationalsozialismus im Norden und - nicht zuletzt - dem Kommunismus im Osten das vorexerziert wurde, was man schon damals als «geistige Landesverteidigung» bezeichnete. Dieses ausgewogene Taktieren des Kleinstaats mit dem Faschismus ausserhalb und innerhalb der Landesgrenzen ist nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Epoche des Kalten Krieges, dann zu einem plumpen Antikommunismus verkommen, der den kritischen Geistern in der Schweiz Leben und Wirken bis in diese Tage  über Gebühr schwer gemacht hat. – Und das war 1964 so, als die Schweiz mit der «EXPO» in Lausanne den Anschluss an den Glauben unbeschränkter technologischer Machbarkeit der Welt nachvollzog. Seither ist die Schweiz ein modernes Land.

Und das wäre 1989 wieder so gewesen. Jedoch vor gut 100 Jahren hat die hiesige historisierende Mythenschreibung dekretiert, die Schweiz sei exakt am 1. August 1291 von drei knorrigen Innerschweizern auf der Rütliwiese am Vierwaldstättersee gegründet worden, und zwar weil resp. obschon resp. nachdem (oder bevor?) ein wildgewordener Individualanarchist namens Wilhelm Tell einen Funktionär der Besatzungsmacht Habsburg über den Haufen geschossen hatte (Markenzeichen Armbrust!).  Naheliegenderweise hat die akuelle Obrigkeit ge-

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wünscht, ihre Selbstbeweihräucherung mit dem 700sten Geburtstag «dieser unserer ältesten Demokratie der Welt» zu begehen. Voilà.

Die Begeisterung des Fussvolks hielt sich ob dieses staatlich verordneten Jubilierens allerdings in Grenzen. Die Kredite für das ursprünglich tendenziell gigantomanische Projekt «CH 91»,  wurden von den Innerschweizer Kantonen («Urschweiz!) in Volksabstimmungen bachab geschickt. Im zweiten Anlauf hat der Bundesrat, die nationale Exekutive, einen PR-Mann aus der Touristikbranche, den Tessiner Marco Solari, als «Bundesdelegierten für die 700-Jahr-Feier» eingesetzt, der unter dem sinnigen Motto «Utopie» eine nie gesehene, gesamtschweizerisch-flächendeckende Festerei anzuzetteln hatte, deren provisorisches Programm – vorgelegt als kleines rotes Büchlein mit dem abermals sinnigen Titel «Was wird eigentlich 1991 in der Schweiz gespielt?» – bereits Mitte 1990 vom Kaminfegertreffen am 1. Januar bis zum «Bruder Klaus - ‘inner’schweizerischen Erlebnis» am 22. Dezember 1991 über sechshundert Veranstaltungen umfasste.

Trotzdem standen Solaris Vorbereitungsarbeiten unter einem schlechten Stern. Der Korruptionsfall um die erste Bundesrätin der Schweiz, Elisabeth Kopp, führte nicht nur zu deren Rücktritt. Die zur genaueren Abklärung der Affäre eingesetzte «Parlamentarische Untersuchungskommission» (PUK) schaute auch bei der Schweizerischen Bundesanwaltschaft vorbei und fand dabei Schnüffelkarteien, in denen ungefähr eine Million SchweizerInnen, AusländerInnen und politische Organsationen registriert worden waren. Als die PUK diesen Sachverhalt öffentlich machte, war die Neugier des Fussvolks geweckt: Die Verantwortlichen mussten sich bei der Abwiegelung der bekanntgewordenen Tatsachen richtiggehend anstrengen. Trotzdem, wurde ein wenig demonstriert. Und bei der Bundesanwaltschaft in Bern zerschlug der aufbrausende Volkszorn die eine oder andere Fensterscheibe. Und mehr als 300'000 von ihnen verlangten schriftlich Einsicht in ihre «Fichen» und die dazugehörenden Akten (ein im April 1990 eingesetzter nationaler Fichendelegierter wird voraussichtlich noch jahrelang mit der Erledigung dieser Gesuche beschäftigt sein). Eine Volksinitiative zur Abschaffung der politischen Polizei wurde lanciert. Und ein Kulturschaffender setzte ein Signal.

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Die Drohung

Ende Januar 1990 zog der Schriftsteller Gerold Späth ein Hörspiel zurück, dass er für das staatliche Radio DRS geschrieben hatte. Es sollte Teil einer  Hörspielserie sein, die unter dem Titel «Lasst hören aus alter Zeit» 1991 zur «700-Jahr-Feier» hätte ausgestrahlt werden sollen. Späth verstand diesen Rückzug als «Protest gegen die Praxis der Bundesanwaltschaft bezüglich Einsichtnahme in die Spitzelakten des Bundespolizei».

Späths Aktion wirkte animierend. Die Autoren und Autorinnen Gruppe Olten, die sich 1971 vom Schweizerischen Schriftstellerverband abgespalten hatte und  bis heute die «demokratische sozialistische Gesellschaft» als Ziel in ihren Statuten hat, lancierte gemeinsam mit der linken WochenZeitung (WoZ) unter dem Titel «Keine Kultur für den Schnüffelstaat» eine Kulturboykottdrohung gegen die 700-Jahr-Feier. Darin wurde erklärt

– «dass wir nicht bereit sind, einen Schnüffelstaat zu feiern, auch nicht durch ‘konstruktive Kritik’, über deren Konstruktivität die Schnüffler an der Berner Taubenstrasse [Sitz der Bundesanwaltschaft, fl.] befinden;

– dass diejenigen, die an einem der zahlreichen CH-700-Propjekte beteiligt sind, ihre Mitarbeit überdenken und sich vorbehalten, aus den Projekten ganz auszusteigen, falls bis Ende Jahr nicht alle Registrierten volle Einsicht in Fichen und Akten erhalten und die Polizei ihrer Schnüffelaufgabe entledigt ist.»

Erstunterzeichnet wurde diese Boykottdrohung von Andreas Balmer, Beat Brechbühl, Urs Faes, Franz Hohler, Arnold Künzli, Mariella Mehr, Niklaus Meienberg, Adolf Muschg, Paul und Goldy Parin Matthéy, Hans-Ulrich Ramseier, Isolde Schaad, Irène Schweizer, Hans Stürm und Otto F. Walter.

Im Verlauf der nächsten Wochen kamen die Unterschriften von 624 Kulturschaffenden und 24 kulturell tätigen Gruppen und Organisationen zusammen. Einigermassen aufgeschreckt sagte Solari in einem Interview Ende Februar, es sei schlimm genug, wenn Menschen von Dilettanten bespitzelt worden seien, jetzt dürften sie sich nicht noch selber ausgrenzen, gerade jetzt sollten die Kulturschaffenden mit ihren Wer-

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ken zum Ausdruck bringen, was sie bewege. Der Bundesrat Arnold Koller forderte, «namentlich auch die Kulturschaffenden» hätten sich jetzt der Aufgabe zu stellen, «im teilnehmenden Gespräch die Konflikte im demokratischen Rechtsstaat zu bewältigen». Und sein Amtskollege Flavio Cotti appellierte Anfang März an die Intellektuellen: «Die Schweiz ist auf Sie angewiesen, damit in diesem Land etwas aufgebaut werden kann, damit diese starren Fronten, die uns sehr belastet haben, abgebaut werden können.»

In der gleichen Zeit wurde aber auch klar, dass selbstverständlich keine der Forderungen, die die Kulturschaffenden mit der Boykottdrohung verknüpft hatten, auch nur annähernd erfüllt würde. In der Frühjahrssession lehnten die  eidgenössischen Räte am 5. März 1990 die Abschaffung der politischen Polizei ab. Klar wurde auch, dass aus staatsschützerischen Gründen die «vollständige Einsicht» weder in Fichen noch in die dazugehörenden Akten gewährt würde.

Der Boykott

Deshalb beschloss am 6. April 1990 in Zürich die Vollversammlung jener Kulturschaffenden, die die Boykottdrohung unterzeichnet hatten, sich endgültig von der «700-Jahr-Feier» zu verabschieden. Sie setzte ein fünfköpfiges Komitee ein, das einerseits einen zweiten Aufruf, diesmal in Form eines Boykottaufrufs ohne Wenn und Aber, an die schweizerischen Kulturschaffenden lancieren sollte. Andererseits sollte der Versuch gemacht werden, die Diskussion um Boykott auszuweiten in eine breite Kulturdiskussion, die sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kultur in den neunziger Jahren befassen sollte. Hierzu wurde das Komitee beauftragt, im Herbst 1990 ein Symposium organisieren.

Dieses Kulturboykott-Komitee – bestehend aus dem Schriftsteller Andreas Balmer, dem Musiker Markus Eichenberger, dem Schriftsteller Linus Reichlin, der Veranstalterin und Kritikerin Liliane Studer und dem Schreibenden (er ist Redaktor der WoZ) – lancierte Ende April den «Kulturboykott 700» mit der Formulierung:

«Wir boykottieren jegliche kulturelle Mitarbeit bei sämtlichen Veranstaltungen zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft. Wir appellieren an all jene Kulturschaf-

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fenden, die Projekte für die ‘700-Jahrfeier’ in Auftrag haben, sie abzusagen und die Boykottbewegung zu unterstützen.» Der Nachsatz lautete: «Selbstverständlich werden wir unsere kulturelle Arbeit 1991 trotz CH 700 tun. Dies ist unser Beitrag zur Identität und Zukunft der Anderen Schweiz.»

Diese zweite Erklärung polarisierte nach ihrer Lancierung während des Monats Mai die öffentlich geführte Diskussion vorab unter den Mitgliedern der Gruppe Olten:

– Andreas Balmer, Komiteemitglied und Präsident der Gruppe Olten verteidigte den Boykott gegen den Vorwurf des «Gesinnungsterrors»: «Die, welche den Aufruf zum Boykott erhalten, unterschreiben, oder sie unterschreiben nicht. Was sie auch tun oder nicht tun, es ist eine Entscheidung. Das ist schon ein bisschen hart, doch ich bin froh, dass jetzt endlich in der Schweiz eine kulturpolitische Debatte noch nie gekannten Ausmasses stattfindet, und ich bin froh, dass sie in unseren konsensgefederten Gefilden eben mit dieser Schärfe geführt wird.»

– Hansjörg Schneider, Gruppe Olten-Mitglied, der als Dramatiker den lukrativen Auftrag angenommen hat, dem eidgenössischen Parlament für die 700-Jahr-Feier-Sondersession Anfang Mai 1991 ein «Sinnspiel» zu liefern: «Die meisten der sogenannten Kulturschaffenden, die die Boykottdrohung unterschrieben haben, sind ebensowenig Kulturschaffende, wie ich ein Velochampion bin. Ihre Drohung ist ebenso lächerlich, wie es meine Drohung wäre, nicht an der Tour de Suisse von 1991 mitzufahren, wenn bis dann die Bundespolizei nicht abgeschafft sein sollte. Der einzige Erfolg, den die Boykottdrohung bis jetzt gehabt hat, ist die Spaltung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in zwei Lager.»

– Hans Saner, Philosoph, der zwar die Drohung, nicht aber den «Kulturboykott 700» unterzeichnete: «Ich bin persönlich für den absoluten Boykott. Dennoch bin ich mit denjenigen nicht einverstanden, die daraus schliessen, sie müssten den anderen eine Empfehlung geben, dass auch sie boykottieren sollen. Die Überzeugung, dass ich besser boykottiere, beruht einerseits auf politischen Überzeugungen, andererseits auf Vermutungen, was aus dieser Feier werden könnte. Das reicht nicht hin zu einer diskursiven Erkenntnis, aus der heraus

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ich gleichsam Ratschläge, ja Appelle oder Forderungen, womöglich gar moralische Forderungen an andere stellen könnte.»

– Monique Laederach, Schriftstellerin, die in der Debatte eine boykott-kritische Position vertrat, die vorab in der französischen und der italienischen Schweiz mitgetragen wurde: «Ich bin nicht einverstanden mit dem Boykott, weil ich mich verantwortlich fühle für meine Mitbürger, für die Leute, mit denen ich lebe, für die Zukunft dieses Landes. Austreten im Moment, wo mir geboten werden kann, dass ich zu vielen Leuten spreche, scheint mir unverantwortlich.»

– Josef Felix Müller, Bildhauer und Maler in St. Gallen: «Der Boykottaufruf ist seit Jahren eine erste gemeinsame politische Aktion von Kulturschaffenden. Schrecklich, wie zurückgezogen viele lebten, ohne ein Wort zum politischen Geschehen. der Kulturboykott ist kein Arbeitsboykott. Nichtstun ist keine Auseinandersetzung. Ich arbeite, boykottiere aber einen Auftraggeber, den Staat, der seine Bürger bespitzelt.»

Auch die grossen Tageszeitungen griffen in die Diskussion ein. Das Verständnis der Kommentatoren (es gab kaum Kommentatorinnen) für die Boykottdrohung wich im Verlauf des Mais 1990 scharfer Polemik gegen den «Kulturboykott 700»:

– «Kultur boykottiert sich selbst – nicht ohne Grund. Denn wo hätten die Hundertschaften von Boykotteuren je gezeigt, dass sie der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Staat gewachsen sind?» (St. Galler Tagblatt)

– «Für Saturiertheit und Kreativitätsmangel sind Fichen keine Ausrede.» (Luzerner Neueste Nachrichten)

– «Nichts gegen Klartext, erbitterten Meinungsstreit und Kompromisslosigkeit, auch Unversöhnlichkeit. Die 700-Jahr-Feier böte dazu tausend Chancen. Das aber hätte mehr Kraft und Energie, mehr Hartnäckigkeit und Widerstandsgeist erfordert als der Rückzug ins Reduit der Gesprächsverweigerung.» (TagesAnzeiger Zürich)

– «Kulturboykott als Werbekampagne der ‘WochenZeitung’» (Basler Zeitung).

– Und die kommunistische Wochenzeitung «Vorwärts» kritisierte: «Die Bestätigungsfeierer bleiben unter sich. Wie in Zeiten unseligen Geden-

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kens kann die Harmonisierungsfunktion voll spielen. Eine von der Linken verpasste Gelegenheit mehr.» 

Trotz dieser ablehnenden publizistischen Front kamen bis zum Stichtag vom 1. Juni 1990 400 Unterschriften zusammen (darunter jene von Max Frisch); im Verlauf des Sommers erhöhte sich die Zahl der Boykottierenden auf rund 500. Über diese Kulturschaffenden redete Solari nun Klartext. In einem Interview mit dem St. Galler Tagblatt sagte er am 26. Juni: «Die Kritik an der 700-Jahr-Feier dient handfesten Partei-Interessen und die protestierenden Künstler werden manipuliert. Ich rufe ihnen zu:‘Die Freiheit sich auszudrücken garantiere ich, nicht die WoZ.’»

Das Symposium

Am 3./4. November 1990 fand unter dem Titel «Welche Schweiz braucht die Kultur?» das «Kultursymposium 90» statt, gemeinsam veranstaltet vom Kulturzentrum Rote Fabrik Zürich, vom Schauspielhaus Zürich und vom «Kulturboykott 700». Die sechs grossen Diskussionsveranstaltungen versuchten ein breites Fragespektrum zum aktuellen Verhältnis zwischen Staat und Kultur auszubreiten. Sie trugen die Titel «Nein sagen hat immer einen Preis», «Der verinnerlichte Holzboden», «Das menschenverachtende Paradies», «Der totale Kulturrummel», «Die Abschaffung der Schweiz» und «Der leergeglaubte Staat». Auf den Podien sassen Boykottierende und Boykott-KritikerInnen, Szenengrössen und international Bekannte, KünstlerInnen und sonstwie mit Kunst Befasste. Bis zu fünfhundert Personen wohnten den Debatten bei.

Trotzdem wurde das Symposium nicht zum Signal für einen weiteren Aufbruch in Richtung eines selbstbewussteren, gar ein bisschen dissidenten Kulturschaffens, sondern zeigte vor allem die Grenzen der öffentlichen kulturpolitischen Auseinandersetzung in einem Land, in dem es seit vielen Jahren keine öffentliche kulturpolitische Auseinandersetzung mehr gegeben hat. Der grosse Aufmarsch von Kulturinteressierten täuschte nicht darüber hinweg, dass die Kulturschaffenden selber (auch die meisten jener, die den «Kulturboykott 700» unterzeichnet hatten) zu Hause blieben, wenn, sie nicht gerade auf einem der Podien auftre-

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ten durften. Wenn Kultur gemeint ist, wird hierzulande im Prinzip ausschliesslich von Geld geredet. Der Vorschlag, öffentlich über das Kulturschaffen zu diskutieren, hat das Vorstellungsvermögen der meisten Kulturschaffenden offenbar zu stark strapaziert. Das ist erklärbar: Kulturschaffen in der Schweiz meint vor allem das prekäre Überleben von rechtlosen HeimarbeiterInnen in einer arg defizitären Branche. Das eigene Handwerk wird – statt diskutiert – eifersüchtig gehütet als geheimes Rezept für den erträumten Erfolg. Das über den materiellen Selbsterhalt hinausgehende Ziel der Arbeit versinkt im betretenen Schweigen einer umfassenden Theorieschwäche. Öffentliche Diskussionskultur unter Kulturschaffenden wäre in der Schweiz zuerst noch zu erfinden.

Die Zeitungen überschrieben ihre Berichterstattungen über das Symposium mit: «Eine ganze Szene in der Selbsttherapie?» (Tages-Anzeiger) oder «Gestörte Familienzusammenkunft der Kulturschaffenden» (Berner Zeitung) oder «Wühlen in Gefühlen» (Basler Zeitung). Weiterführende Impulse gingen vom Symposium nicht aus. Der Vorschlag der WoZ, nach dem Kulturboykott ein «Haus der Künste» als «autonom verwaltete Stätte der Begegnung, Weiterbildung und Auseinandersetzung über die eigene Tätigkeit hinweg» zu initiieren, fand keine öffentliche Resonanz.

«Nein» als Kunstwerk?

Für den 7. Dezember wurde noch einmal eine Vollversammlung einberufen zur Frage, ob und allenfalls wie der «Kulturboykott 700» weiterzuführen sei. Als zurücktretendes Kulturboykott-Mitglied hat der Schreibende dieses Treffen unter dem Titel «Das Kunstwerk ‘Nein’ - Der ‘Kulturboykott 700’ will in die Realpolitik» wie folgt kommentiert:

«Etwa zwanzig MitunterzeichnerInnen des ‘Kulturboykotts 700’ haben an ihrer Vollversammlung vom 7. Dezember in Zürich beschlossen, ‘weitere kunstvolle Taten folgen zu lassen’. Insbesondere soll sichergestellt werden, ‘dass die Erklärung – Wir boykottieren jegliche kulturelle Mitarbeit bei sämtlichen Veranstaltungen zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft – von der offiziellen Seite respektiert und nicht unter-

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laufen wird, etwa durch Filmaufführungen, Bücherausstellungen im Rahmen der offiziellen Feier oder unbewilligte Verwendung anderer Werke von Kunstschaffenden, die die Erklärung unterzeichnet haben.’ Aus dem bisherigen ‘Kulturboykott-Komitee’ sind Dres Balmer und der Schreibende zurückgetreten, neu dazugekommen sind die Kulturveranstalterin Rosmarie Flüeler, der Publizist Peter Kamber und der Schriftsteller H. U. Müller.

An einem Vorbereitungstreffen des Komitees habe ich beantragt, an dieser Vollversammlung den ‘Kulturboykott 700’ zum abgeschlossenen, kollektiven Kunstwerk zu erkären und seine Infrastruktur – 1 Komitee, 1 Postfach und 1 Postcheckkonto – als ‘Gerüst’, das zu seiner Errichtung  notwendig gewesen ist, aufzulösen. Das Komitee befürchtete jedoch, ein solches Vorgehen könnte als Auflösung des Boykotts interpretiert werden, die Auflösung der Infrastruktur sei gar zu ‘negativ’, und darüberhinaus sei es wichtig, auch 1991 als ‘Kulturboykott 700’ noch ansprechbar zu bleiben.

Sicher ist: Die Boykottdiskussion ist geführt, die Positionen sind bezogen. Ich meine: Damit hat der ‘Kulturboykott 700’ seine Aufgabe erfüllt. Andere haben an der Vollversammlung nach neuen Perspektiven gesucht. Was zusammenkam, waren Wunschträume: Telefonisch schlug Gerold Späth vor, als nächstes eine ‘Akademie der schönen Künste’ auf die Beine zu stellen, auch das ‘Haus der Künste’ (WoZ 45/90) wurde wieder erwähnt; vorgeschlagen wurde, die Boykottbewegung zu regionalisieren, ein ‘Fest der Boykottierenden’ ins Auge zu fassen, den Kontakt zum Komitee ‘700 Jahre sind genug’ herzustellen etc. Tatsache ist, dass sich die Vollversammlung nicht auf eine zündende Idee hat einigen können.

Spätestens seit dem ‘Kultursymposium 1990’, wo vieles möglich gewesen wäre und wenig passiert ist, kann man wissen: Die grossen kulturpolitischen Organisationen – inklusive der Gruppe Olten, die neben der WoZ die Lancierung des Boykotts getragen hat – setzten sich zwar zum Teil intensiv mit der Boykottfrage auseinander, aber den ‘Kulturboykott 700’ als kulturpolitischen Faktor haben sie ignoriert: Er ist völlig isoliert geblieben. Daraus könnte man lernen: Wer einen Akt grundsätzlicher kultureller Dissidenz zum Programm erklärt, kann in einem Land nicht salonfähig sein, in dem die Geldbeschaffungsbemü-

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hungen farbloser Kulturverbandsfunktionäre die einzige konsensfähige kulturpolitische Perspektive bildet. Ich befürchte deshalb, dass, wer den ‘Kulturboykott 700’ über das Nein zur interkantonalen Solarität hinaus tragen will, ins Leere laufen wird. Darüberhinaus: Sogar wenn es jetzt eine neue zündende Idee gäbe, wer könnte sagen, dass sie von der Basis der 483 mitgetragen würde? Die Aufgabe des neugebildeten Kulturboykott-Komitees wird sehr schwierig sein.

Der ‘Kulturboykott 700’ war schöner Schein von Widerstand. Als solcher hat er eine erstaunliche Wirkung getan. Diese macht ihn aber auch zum nachhinein nicht zum kulturpolitischen Faktor. Der Kulturboykott 700 ist ein Kunstwerk, bestehend aus der Boykottformulierung und 483 Unterschriften. Der Versuch, ihn nun mit neuen Zielvorgaben weiterzuführen, wird ihn zwangsläufig mit seiner realpolitischen Marginalität konfrontieren.» (WoZ 50/1990)

«700 Jahre sind genug!»

Egal, ob sich der «Kulturboykott 700» nächstes Jahr noch öffentlich vernehmen lässt oder nicht, die offizielle 700-Jahr-Feier wird nicht unwidersprochen über die sechshundert Bühnen gehen. Unabhängig von den Kulturschaffenden, die den «Kulturboykott 700» mitgetragen haben, konstituierte sich 1990 ein gesamtschweizerisches Komitee «700 Jahre sind genug!» Am 26. Oktober hat es unter dem Titel «Schweiz 1991: kein Grund zum Feiern!» ein Manifest veröffentlicht, worin es unter anderem heisst: «Die 700-Jahr-Feier ist lächerlich. Es wird eine ‘helvetische Gemeinschaft’ beschworen, di es nicht mehr gibt und vielleicht nie gab. In der Inszenierung von Rütli, Armee und Schweizerkreuz sehen wir keinen Sinn, uahc wenn sie von PR-Managern auf modern getrimmt ist. Daran ändert auch das plötzliche Interesse am schweizerischen Kulturschaffen nichts. (...) Die nationale Feier, von der Wirtschaft mit Millionenbeträgen gesponsert, wird zur Kulisse, hinter der umso schamloser die Anbiederung an das Europa der Konzerne praktiziert wird.»

Dieses Komitee hat nicht den Boykott als Mittel der Dissidenz gewählt. Es will versuchen, den offiziellen Festivitäten Gegenveranstaltungen entgegenzustellen;, Umweltschutz, Militärverweigerung, Banken-

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politik sollen thematisiert werden. Ob Boykott oder Gegenveranstaltungen: Wenn die Schweizer und Schweizerinnen 1991 fragen: Gibt es uns noch?, werden sie die nicht zu überhörende Antwort erhalten: Ja, aber anders. Das «1991» der offiziellen Schweiz ist nicht ohne die Andere Schweiz zu haben und die Zukunft über das Jahr 1991 hinaus nicht ohne deren Widerspruch und – wer weiss – deren Dissidenz.

Abgedruckt in: Harald Hetzel [Hrsg.]: Löcher im Käse. 700 Jahre Eidgenossenschaft – SchweizerInnen über die Schweiz, Essen (Klartext Verlag) 1991, 132-142. – Mein Beitrag zur Anthologie ging mit Brief vom 16. Dezember 1990 an Harald Hetzel – also anderthalb Monate nach dem Kultursymposium in Zürich, aber noch vor Beginn der «700-Jahr-Feier».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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