Familie Eggli-Farner, 8447 Dachsen (ZH)

Drei Geschwister raufen sich zusammen, um an der Geschichte ihrer Familie, der Fabrigglerfamilie Eggli in Dachsen zu schreiben: Ursula, Schriftstellerin («Herz im Korsett»), als Betroffene engagiert in der Behindertenbewegung; Daniel, Hotelier, der mit der «Daniel E. Eggli AG» Konkurs gemacht hat, verheiratet, schwul;Christoph, Kunstmaler, Anarchist, gelegentlicher WoZ-Mitarbeiter, wie Ursula durch Muskelschwund stark behindert. Christoph und Ursula haben auch im Film «Behinderte Liebe» mitgearbeitet.

Am 3. Januar 1983 notiert Ursula Eggli in ihrem Tagebuch: «Ein gedanke hat sich in meinem kopf eingenistet (…): Ich möchte wieder einmal ein buch schreiben.» Als Thema ist ihr von einem Freund die Geschichte ihrer Familie vorgeschlagen worden. Am 15. Januar schreibt sie: «Daniel müsste mitmachen, Christoph, mutter und vater. Nur so entstünde eine genaues bild unserer familie.» So begann die Arbeit an der «Zärtlichkeit des Sonntagsbratens».

Irgendwie ist es immer gegangen

Irgendwann mitten im Krieg heiratete die Fabrikarbeiterin Frieda Farner mit dem schiefen Fuss, der von einer Kinderlähmung herstammt, den Fabrikarbeiter Erwin Eggli mit seinen wirren Ideen von einer besseren Welt. Sie lassen sich in Dachsen im Kanton Zürich nieder. 1944 kommt das Urseli zur Welt, von dem die Leute schon sagen, es sei zu faul zum Laufen, als der junge Doktor Lichtenhahn herausfindet, das es Muskelschwund hat. 1946 kommt der Dani zur Welt, 1952 «das Christöpheli», auch er behindert durch «progressive spinale Muskelatrophie».

Irgendwie geht es mit den Kindern, weil Erwin von Zeit zu Zeit «auch wieder 50 Franken mehr» verdient, weil die Mutter Johannisbeeren und Himbeeren pflückt und verkauft, später einen kleinen Waschsalon betreibt und einzelne Zimmer an ausländische Arbeiter untervermietet – und weil die Eltern die beiden behinderten Kinder weggeben, wenn es gar nicht mehr geht: «Was habe ich wirklich über ‘meine’ Familie zu sagen, wenn ich doch den grössten Teil meines Lebens in Heimen und Anstalten für Behinderte verbracht habe? Ich bin gewissermassen ein ‘Heimkind’.» (Christoph)

Die drei Kinder machen ihren Weg: Ursula wird Schriftstellerin, Daniel Hotelmanager, Christoph Kunstmaler. Währenddem erblindet zuhause die schwer zuckerkranke Mutter und Ursula protokolliert die Zeit, in der sich die Mutter wegen der gleichen Krankheit ein Beim amputieren lassen muss.

Drei «verrückte Extremisten» raufen sich zusammen

«Diese Familie der Abnormalen, der verrückten Extremisten. Diese Familie der eisigen Einsamen, die zufällig zusammenleben, zusammenhalten, zusammenkleben. Die ihre Sensibilitäten und Zärtlichkeiten mit einem grossen Sonntagsbraten abdeckt.» So charakterisiert Daniel seine Familie, als ihn Ursula anfragt, ob er am Familien-Buch mitschreiben würde. Zuerst sträubt er sich: Die Buchläden seien voll von «Beziehungsgewichse und Selbsterfahrungsbrunz». Trotzdem gibt er nach, fragt sich aber: «Warum müssen wir unbedingt immer auffallen, Dinge tun, die uns ausserhalb der Herde, ausserhalb des Gewohnten stellen. (…) Ständig müssen wir uns irgendwie exponieren. (…) Familiensyndrom Profilneurose?» Danach beginnt Daniel Texte zu liefern, die Ursula in ihr Tagebuch montiert. Mit beachtlichem Geschick, locker und selbstironisch berichtet er über die Grosseltern, über Jugend, Erziehung, gescheiterte Karriere, porträtiert er seine Eltern, redet er über sein Schwulsein.

Christoph meldet sich nur einmal, am 8. Juni 1985, seinem 33. Geburtstag, zu Wort. Er ist der Buchidee gegenüber skeptisch. Für ihn ist das Ganze ein «zweifelhaftes Projekt», weil die «herzzerreissende Familiengeschichte» zwar «die narzisstischen Bedürfnisse» der Geschwister befriedige und die «Aufmerksamkeit einer sensibilisierbaren und liberalen Öffentlichkeit» erringen könne. Es ginge aber darum, sagt er, von der «‘interessanten’ Familie» weg und zum wirklichen Problem zu kommen: zur «Zwangsgemeinschaft des biokulturellen Produkts ‘Familie’». Er stamme «aus einer ganz ‘normalen’, verkleinbürgerlichten Arbeiterfamilie mit ihren üblichen, innerfamiliären Repressionsverhältnissen», die nur deshalb interessant werde, weil es sich «durch die eugenische Brille betrachtet» um «eine erblich defekte ‘Problemfamilie’» handle. Wichtig sei die Erkenntnis, «dass die gesellschaftliche Solidarität mit problembeladenen Familien verbessert werden sollte». Obschon er sich fragt, ob dieses Buchprojekt alles in allem nicht schädlich sei, schreibt er weiter, montiert streng ideologische Passagen über Sterbehilfe und eugenische Probleme mit der Beschreibung seines Geburtstags, lässt augenzwinkernd durchblicken, dass er als «mutiger Kläffer» (Ursula), als «linker Hund» und «bärtiger, anarchistischer Berufsrevolutionär» (Daniel) durchaus ein Privatleben hat.

Gegen die zwei ganz verschiedenen, stringenten Männersprachen ihrer Brüder stellt Ursula ihre Tagebuchnotizen, die in schweifendem Gesprächston das Leben als alltägliches beschreiben. Heftig wird sie nur einmal: Als sie Briefe von Christoph liest, in denen Daniel als «faschistoider Füdlibürger» und sie selber als «Verräterin an der Sache der Behinderten» tituliert werden, kommentiert sie wütend: «Dieses Arschloch». Aber ihre Sprache ist nicht jene des politischen Streits: «Lieber möchte ich so bleiben, wie ich bin: ein bisschen mittelmässig; mit dem quantum nüchternen verstands, der mich durchs leben geführt hat, und dem anteil abenteuerlust, der es mir spannend erscheinen liess. Ich möchte bis zum schluss meinen etwas ironischen humor behalten und die kleinlichkeit, mich über eine schmutzige WG-küche zu ärgern.»

Politisches Experiment

Für Christoph bleibt das Buchprojekt suspekt, weil es das Schicksal der Familie Eggli nur in wenigen Ansätzen politisch begreifen lasse. Die «Eggli-Saga» will aber gar keine politische Analyse sein. Sie belegt vielmehr, dass am Anfang einer Auseinandersetzung nicht eine fixfertige politische Analyse sein kann, sondern dass erst die intensive Auseinandersetzung mit der Betroffenheit gegenüber dem Thema (hier gegenüber der eigenen Geschichte) zur ernsthaften politischen Analyse führen kann. Die Art, wie Daniel seine Mutter auf den Refrain: «Sie wird es schon schaffen, sie hat es immer geschafft» porträtiert – ohne Abschnitt, ohne Punkt, atemlos – die ist politisch. Oder die immer wiederkehrenden klimatischen Schilderungen der Fünfziger- und Sechziger-Jahre-Kleinbürgerlichkeit: die sind politisch. Vor allem aber ist der experimentelle Ansatz des Buches politisch: Drei Personen montieren aus solidarischem Erkenntnisinteresse ihre unterschiedlichen Perspektiven zum gemeinsamen Fragment. Vielleicht muss man sich einen Augenblick vorstellen, Peter Bichsel, Adolf Muschg und Otto F. Walter würden gebeten, gemeinsam einen Montagetext zu schreiben (Arbeitstitel: Der Beizenpoet von Jammers trifft einen Vampir), um zu begreifen, wie radikal und uneitel der schriftstellerische Ansatz der Geschwister Eggli ist.

Ursula, Daniel und Christoph Eggli: Die Zärtlichkeit des Sonntagsbratens. Geschichten einer Familie, Bern (Zytglogge Verlag) 1986.

Aktuell

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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