Hoffnung für die Welt

«ICH HÖRE DEN UNTERGANG 
ALLEN RAUMS 
ZERSPLITTERNDES GLAS 
BRECHENDES MAUERWERK 
UND DIE ZEIT EINE 
EINZIGE LETZTE BLEI
FAHLE FLAMME!» 
(AJZ I, basel, mauerinschrift)

1. prognosen

am 27. mai 1977 gab der US-präsident Carter eine untersuchung in auftrag «über die voraussichtlichen Veränderungen der Bevölkerung, der natürlichen Ressourcen und der Umwelt auf der Erde bis zum Ende dieses Jahrhunderts». drei jahre später war die untersuchung abgeschlossen und wurde dem präsidenten unter dem titel «Global 2000» vorgelegt. sie kam unter anderem zu folgenden schlüssen:

–      bis zum jahr 2000 wird die kluft zwischen den reichsten und den ärmsten, gemessen am pro-kopf-bruttosozialprodukt – beinahe doppelt so gross sein wie heute.

–      «Im Zeitraum von 1975 bis 2000 werden die verbleibenden Rohölreserven pro Kopf voraussichtlich um mindestens 50 Prozent abnehmen.»

–      «Die Wüstenausdehnung wird sich auf einen erheblichen Teil des Weide- und Ackerlandes auf der Erde erstrecken.»

–      In etwas mehr als zwei Jahrzehnten werden 15-20 Prozent aller Pflanzen- und Tierarten auf der Erde ausgestorben sein – ein Verlust von mindestens 500000 Arten.»

–      «Eine grosse Zahl von Menschen wird bei ungünstigen Witterungsverhältnissen unter höheren Nahrungsmittelpreisen oder gar Hungersnot zu leiden haben.»

in der BaZ vom 16. oktober 1981 sagt professor A. Künzli in einem interview: «Wenn man die Entwicklung der letzten 50 Jahre extrapoliert auf die nächsten 50 Jahre, kommt man zwingend zum Schluss, dass die Welt im Jahre 2030 nicht mehr bewohnbar ist.» «Global 2000» bezeichnet er als eine «apokalyptische Vision der Zukunft» und stellt weiter fest: «Wir leben in einer Welt, die auf eine Katastrophe zusteuert.»

2. vom leben vor dem tod

letzthin traf ich einen kollegen auf der strasse, in basel, den hatte ich schon lange nicht mehr gesehn. der erzählte mir leichthin und als ob das das selbstverständlichste wäre bei so einem wiedersehen, er sei vor einiger zeit zu besuch gewesen bei wirklich reichen leuten, «politisch rechts», wie ich mir denken könne und die hätten erzählt, leichthin, als wäre das das selbstverständlichste, dass sie damit rechneten, in ihrem leben noch einmal alles zu verlieren, was sie besitzen. WELTUNTERGANGSSTIMMUNG, sogar bei jenen, die den bombenauslösern ein ganzes stück näher sind als wir.

die hoffnung auf ein leben vor den tod schwindet. die «Eidgenössische Kommission für Jugendfragen» empfiehlt den kirchen in ihren neuveröffentlichten «Stichworten» – einem meisterwerk eidgenössischer problemverdrängung – «eine der christlichen Tradition entsprechende Haltung zu den Fragen, die die Jugend bewegen» einzunehmen, sich auf ihre «Meditationstradition zurückzubesinnen und diese von den fernöstlichen Einflüssen neu befruchten zu lassen», damit das bedürfnis der jungen, die nicht «Religion hören», sondern «Religiosität erleben» wollen, nach «Mystik» befriedigt werde; so werde «die Kirche wieder zum Hort emotionaler Geborgenheit und zum Ort tätiger Brüderlichkeit». wenn von zukunft die rede ist, soll wieder ausschliesslich vom jenseits geredet werden: rückbesinnung auf das todsichere, die dieseitige zukunft wird mehr und mehr tabu, denn sie kann von niemandem mehr garantiert werden; am wenigsten von jenen, die die welt regieren.

3. kopfrechnung betreffs lebenserwartung

auf irgendetwas hofft jeder und wenn es nur darauf ist, wieder einmal einen guten film zu sehen. das lustige daran ist allerdings, dass kaum einer darauf hofft, gestern ins kino gehen zu können; gewöhnlich hofft man vielmehr, morgen zu gehen. hoffnung, die ich meine, ist zukunftsgerichtet; sie braucht demnach zeit. wer rückwärts- oder jenseitsgerichtete hoffnung formuliert, hat keinen grund, weiterzuleben: er lebt mit einbalsamiertem bewusstsein. wenn ich aber zum beispiel darauf hoffe, mit jahrgang 1955 die heute gültige durchschnittliche lebenserwartung von ungefähr 75 jahren zu erreichen, dann brauche ich zeit. zeit bis zum jahr 2030, in dem die welt, nach professor künzli, möglicherweise nicht mehr bewohnbar ist. in unserer generation zu hoffen, das durchschnittliche lebensalter unserer grosseltern zu erreichen und danach einen halbwegs natürlichen tod zu sterben, ist demnach möglicherweise eine vermessene hoffnung, eine hoffnung, die nicht mehr in frage kommt.

4. NO FUTURE

wenn jemandem zukunft, das heisst zeit, in der sich hoffnung realisieren kann, weggenommen wird, dann hat er zwei möglichkeiten, darauf zu reagieren:

1. er projiziert seine nun sinnlosen diesseits-hoffnungen auf irgend ein jenseits. dazu habe Max Brod Franz Kaftka einmal gefragt: «Wo gäbe es ausserhalb unserer Welt Hoffnung?» Kafka habe gelächelt und geantwortet: «Viel Hoffnung – für Gott – unendlich viel Hoffnung –, nur nicht für uns» («Kafka-Buch», fischer 708, s. 251)

2. er beschränkt sich auf immer kurzfristigere hoffnungen, die den verbleibenden, «gesicherten» zeitraum abdecken.

daraus folgt zweierlei: offenbar impliziert der verlust von zukunft verlust auf hoffnung. mit dem verlust auf hoffnung verlieren aber auch alle werte, denen es nicht mehr gelingt, sich mit hoffnung zu verbinden, ihren sinn.

diese wachsende sinnlosigkeit betrifft in erster linie jene «langfristigen» werte, die man als staatlich oder kirchlich institutionalisierte hoffnungen oder «ewige werte» bezeichnen könnte und deren funktion seit jeher eine systemstabilisierende war. sinnlos werden also werte wie: pflichtbewusstein (um sich zum beispiel eine rente im alter zu sichern), beruf (im sinn von handwerk), treue (gegenüber staat, beruf, menschen), ehe und familie (wer kann es heute verantworten, kinder zu zeugen, die im jahr 2030 nicht einmal 50 wären?) usw. der verlust von zukunft führt also direkt zur demontage der (klein)bürgerlichen lebensführung.

5. die «apokalyptische generation»

für die heutigen jugendlichen (also auch für mich) sehe ich grob drei mögliche lebensformen, die auf den drei möglichkeiten beruhen, das lebensnotwendige minimum an hoffnung zu verteidigen.

die erste und, weil sie die grösste sicherheit verspricht, die am häufigsten gewählte möglichkeit ist die lebensform des stupor-bürgers, wobei ich stupor durchaus im medizinischen sinn als zustand geistiger erstarrung bei aufhebung aller willensleistungen aufgrund von schreck- und angsterlebnissen verstehe. die hoffnung des stupor-bürgers geht dahin, seine gegenwärtige situation verewigen zu können: die zukunft, die seine stabile, geordnete lebensform noch zu seinen lebzeiten wegen der zerstörten umwelt und der verbrauchten ressourcen unmöglich machen wird, wird verdrängt, sein versuch des bürgerlichen lebens, gekoppelt mit einem wachsenden sicherheitsbedürfnis, fordert als politische perspektive eine immer konsequentere bekämpfung aller «zukunfts»-weisenden ideen, weil diese auf die verdrängte «apokalypse» reagieren wollen. dieses sicherheitsbedürfnis wird eine derartige eigendynamik entwickeln, dass sich der als politische folgerung daraus hervorgehende techno-faschismus als eine endlose folge von «plausiblen», logischen sachzwängen darstellen wird. dieser faschismus wird es dann eben erlauben, mensch und materie total zu kontrollieren und so die zukunft «nach menschlichem ermessen» auszuschliessen. dieser techno-faschismus wird der faschismus der weissen westen sein: physische brutalität wird auf ein minimum reduziert, dafür wird die psychische zerstörung der menschen um so totaler sein. der stupor-bürger, der spätestens in der übernächsten generation unser land regieren wird, macht die (berechtigte?) angst vor jeder form von zukunft zur einzigen maxime seines politischen handelns.

die zweite lebensform ist die des sektierers, wobei ich diesen begriff auch, aber nicht ausschliesslich auf dessen religiösen aspekt beziehe. der sektierer hofft auf die arche noah. das soll heissen: der sektierer hofft auf individuelle dispensation von der profanen, irdischen zukunft; er versucht, sein bewusstsein vor dem geschilderten alltag zu beschützen, sich abzusetzen. der sektierer unterwirft sich freiwillig einem guru,gibt das, was andere als «individuelle freiheit» oder «autonomie» bezeichnen, auf und erhält dafür autoritär formulierte zukunftsversprechen fürs diesseits und jenseits, die ihn langfristige hoffnungen schöpfen lassen. so können sektierer für sich wieder atem holen: sie fühlen sich soweit befreit, dass sie ihre resignation, hoffnungslosigkeit und ihren zynismus überwinden können. der sektierer, der sich so seine arche noah gebaut hat, kann seine erfahrungen aber nicht weitergeben, ohne dass der andere sich ihm sektiererisch unterwirft, das ziel seiner gesellschaftspolitischen mission ist demnach die gesellschaft als (seine) sekte.

die weltliche variante des sektierers versucht etwas paradoxes: er projiziert seine jenseits-hoffnung des paradieses auf seine unmittelbare gegenwart und macht sich daran, seine so zeitlos gewordene diesseits-hoffnung in die tat umzusetzen. ob dieser sektierer im einzelnen körnli frisst oder trips schmeisst, ob er auf einer graubündner alp schafe hütet oder in der mansarde der elterlichen wohnung die weltrevolution vorbereitet, spielt keine grosse rolle: wichtig für diese art des sektierers ist, dass er auf eine mystische art in die «innere emigration» geht, dass er sich in seinem kopf die arche zimmert in form einer (paradiesischen) gegenwelt, deren hervorstechendstes merkmal die zeitlosigkeit und somit die verdrängung der zukunft ist. (mit diesem abschnitt soll keineswegs gesagt sein, jeder körnli-, resp. tripfresser, jeder schafhirt oder jeder revolutionär sei ein sektierer. immerhin: je weiter ich mich an den rand der gesellschaft begebe, je radikaler die position ist, die ich innerhalb dieser gesellschaft einnehme, umso mehr muss ich mich gegen sektiererisches gedankengut der geschilderten art wehren.)

in ermangelung eines präziseren begriffs umschreibe ich die dritte lebensform mit «bewegung», womit keinesfalls nur das gemeint ist, was sich seit anderthalb jahren unter den blinden augen der öffentlichkeit ereignet. die hoffnung des bewegten menschen setzt zeit und also zukunft voraus, verdrängt aber die tatsache nicht, dass wir einer «apokalyptischen» generation angehören. wenn eine der zentralsten, aus dem gedankengut der 68er-bewegung heraus ins alltagsbewusstsein gewachsene formel das hundertfach variierte NEIN DANKE ist, das direkt auf passiven widerstand, auf die philosophie der verweigerung verweist, so stehen im zentrum des 80er-denkens formulierungen wie: ALLES, ABER SUBITO. subito bedeutet nichts anderes, als dass uns nicht mehr viel zeit bleibt, hoffnung zu realisieren. hoffnung und ihr ausdruck in form politischer forderungen werden deshalb pragmatisch, kurzfristig, es bleibt keine zeit mehr für debatten über revolution und klassenlose gesellschaft, über sozialismus und solidarität mit der dritten welt; der bewegte lebt unter zeitdruck. jeder bewegte wird für sich allein zurückgeworfen auf seine unmittelbaren, die gegenwart betreffenden bedürfnisse. «ewige werte» und argumentierende, die in kategorien «ewiger werte» denken, werden zum blossen ärgernis. da nur noch auf das ausleben aktueller bedürfnisse gehofft werden kann, werden schlagworte wie autonomie, selbstbestimmung (statt fremdbestimmung), selbstverwirklichung zentral, an stelle von leeren sprachhülsen wie staat und gesellschaft setzt er überschaubare soziale einheiten: wohngemeinschaften, grossfamilien, arbeitsgruppen, genossenschaften usw.: ICH, NICHT DIE GESELLSCHAFT (graffito aus der BRD). Walter Hollstein: «Alle neueren soziologischen Untersuchungen bestätigen diesen Trend zum Rückzug in mikrosoziale Strukturen». diese kleinsten sozialen einheiten garantieren ein optimum an selbstbestimmung, was wiederum voraussetzung ist für die kurzfristige realisierung von hoffnung.

das politische verhalten des bewegten menschen ist von der tatsache bestimmt, dass er sich seine hoffnung buchstäblich von tag zu tag neu holen muss. seine forderungen können nicht langfristiger sein als seine bedürfnisse; bedürfnisse und forderungen reagieren permanent auf veränderungen und entwicklungen in der umwelt (die als «umwelt», nicht als «gesellschaft» wahrbenommen wird). sein politisches verhalten ist somit zwar kein egoistisches, aber ein ego-zentrisches. es ist nur in bezug auf die unmittelbare bedürfnisbefriedigung agierend, ansonsten wird reagiert. es besteht keinerlei theoretisches konzept mehr, die gesellschaft zu verändern; gesellschaft wird – so lange wie möglich – nicht zur kenntnis genommen. H. E. Richter umschreibt die neue bewegung im vergleich zu den 68ern als «emotionaler, anarchistischer und pessimistischer». allerdings: emotional in dem sinn, als von den unmittelbaren bedürfnissen ausgegangen wird; anarchistisch im widerstand gegen jede fremdbestimmung und in der verweigerung gegenüber den trägern der institutionalisierten hoffnung: gegenüber kirche und staat also; pessimistisch, was die einschätzung der verbleibenden zeit betrifft.

6. ICH LIEBE MICH

wahrscheinlich ist, dass der objektive gegensatz von arm und reich, besitzendem und besitzlosem, mehr und mehr überlagert wird von der trias des stupor-bürgers, des sektierers und des bewegten, wobei sich diese trias unter einem begriff trotz allen gegensätzen wieder zu einen scheint: unter dem begriff des privatismus.

während der stupor-bürger als extremer haben-mensch im fromm’schen sinn seinen privatismus vor allem im raffen von privatem besitz, von privilegien und von macht ausleben wird, werden sektierer und bewegte zunehmend einen ideellen privatismus praktizieren. die vom stuporbürger kaschierend aufrechterhaltene alibi-demokratie wird vom bewegten zunehmend verweigert (doch, da er sich ja aus «egozentrischen» gründen verweigert, deshalb noch nicht automatisch auch durchschaut), während der sektierer, auf dem weg zu seinm absoluten sein, gefahr läuft, als politische manöveriermasse vom stuporbürger missbraucht zu werden.

der privatismus der partikularinteressen jeder der drei gruppen wird den zentrifugalen druck auf staat und gesellschaft um ein vielfaches verstärken. wo die vom stupor-bürger immer verstärkt geforderte staatliche repression den zusammenhalt von staat und gesellschaft nicht mehr garantieren kann, werden akute gesellschaftliche zerfallserscheinungen auftreten. diese zerfallserscheinungen, die sich parallel zum zerfall von langfristiger hoffnung des einzeln entwickeln, werden privat- wie staatskapitalistische systeme gleichermassen erfassen.

sollte dieser zerfall auch die ökonomischen strukturen, die produktionsmechanismen und die märkte ergreifen, so würden ungewollterweise umwelt und ressourcen im umgekehrten verhältnis zum zerfall geschont. das allerdings wäre eine wirklich langfristige hoffnung, für die welt: « – nur nicht für uns».

Das Typoskript trägt die Datierung 20.-30.10.1981. – Anfang Oktober hatte in Zürich die WochenZeitung (WoZ) zu erscheinen begonnen. Schnell suchte die WoZ-Redaktion den Kontakt zur Pressegruppe der Berner Jugendbewegung, um für ihre Zeitung eine Berichterstattung aus Bern aufzubauen. Zur Gewährleistung dieser Berichterstattung wurde das «Berner Schreiberkollektiv» gegründet, dem ich angehörte (neben – insbesondere – Urs Frieden). Einige wenige Texte in freier Form habe ich in den folgenden Monaten mit dem Zangger-Pseudonym gezeichnet, zum Beispiel «Hoffnung für die Welt».

Bei den Akten liegt ein Sonderdruck der Zeitschrift «Psyche» aus Heft Nr. 1/1983, der den Essay «Die Angst der Mächtigen vor öffentlicher Trauer» des Psychoanalytikers Paul Parin (1916-2009) beinhaltet. Der Sonderdruck trägt die handschriftliche Widmung: «für ‘A. J. Zangger’ mit den besten Grüssen / Parin». Der 16seitige Beitrag schliesst mit den Worten: «Für die Trauernden läuft es auf das gleiche hinaus, ob ihre Wünsche und Ziele durch eine schweigende Mehrheit von Stupor-Bürgern (Zangger, 1981), die jede Änderung der sozialen Verhältnisse fürchten und ablehnen, eingeschränkt werden oder durch eine herrschende Machthierarchie. Mit der Teilnahme an der Trauer verstärken unbewusste Prozesse Engagement und Protest.»

Bei den Akten liegt weiter ein handschriftliches Fragment, dass offenbar vor dem Text für die WoZ entstanden ist und für die «Drahtzieher» gedacht gewesen sein muss:

ICH LIEBE MICH

als ich letzthin so harmlos wie möglich über den bärenplatz schritt, im verborgensten hinterkopf drahtzieheriges wälzend, da begegnete mir gewichtigen schrittes und pfichtbewussten blickes unser bundespräsident gotthelf ehrlichmann (SP) und blieb, zu meinem bodenlosen erstaunen, um nicht zu sagen: zu meiner platterdingsigen verblüffung stehen, um mich folgendermassen anzusprechen: «los itz mau, zangger, mis schtatistische amt het usegfunge, dass es nume no knapp tuusig unzfrideni schwizzer git, und du sigsch eine drvo. du weisch, dass i für aui, aber vor auem für die junge mitbürger…» wie es so meine art ist, warf ich an dieser stelle bestimmt und sachlich ein: «lotto im sääli», und während er, sichtlich verwirrt, noch etwas von einer eidgenössischen jugendkommission und von dialog-suchen brümelte, lud ich ihn mit einer generösen geste am bärenplatz zu einem kaffee ein.

*

«auso», sagte ich, als wir uns gesädelt hatten und dem kellner ob der schtruben bundespräsidentlichen begleitung ein unkontrolliertes wimpernzucken entfahren war, «punkt eins: ich werde ab sofort hochdeutsch sprechen, von wegen, der setzer wird’s mir danken.» schon an dieser eröffnung kann der geneigte leser erkennen, dass ich gewillt war, weitsichtig zu argumentieren. natürlich war ich ein wenig nervös, was daraus zu ersehen ist, dass mir schon gleich darauf ein böser kalauer entfuhr, für den ich mich bei gelegenheit bei herrn albert bitzius entschuldigen werde. ich sagte nämlich: «tja, herr bundespräsident, da ich mich, wie sie wissen, jeremia nenne und sie sich gotthelf benamsen, scheint es allerdings angebracht, dass wir uns ernsthaft über geld und geist unterhalten.» schlagfertig, wie ehrlichmann ja ist, entgegnete er, soviel er wisse, habe die 80er-jugendbewegung aus geld und geist «SCHWEIZ = GELD+GEIZ» gemacht. ich nickte anerkennend und ganz im geheimen staunte ich ein wenig ob ehrlichmanns sachkenntnis.

*

«wie soll ich zufrieden sein», begann ich, als wir in unserem kaffee rührten, «in einem land, das sich in der geisttötenden situation des wohlstands auf einer welt in der geisttötenden situation von hunger und armut befindet, das mir, trotz seiner privilegierten situation, nichts mehr garantieren kann als vielleicht zwanzig oder dreissig jahre versteinerter gegenwart und danach…» mit einem hässlichen pffft spritzte der kaffeerahm aus dem kartontetraederchen in meine tasse. nachdem ich einen schluck kaffee genommen hatte, liess ich mein gegenüber nicht zu wort kommen, sondern fuhr mit einem zitat fort: «‘Wenn man die Entwicklung der letzten fünfzig Jahre extrapoliert auf die nächsten fünfzig Jahre, kommt man zwingend zum schluss, dass die Welt im Jahr 2030 nicht mehr bewohnbar ist.’[1] da meine generation bei der gegenwärtigen lebenserwartung von gut 75 jahren das jahr 2030 im schnitt noch erreichen müsste, die welt aber möglicherweise bis dahin unbewohnbar sein wird, werden wir also voraussichtlich irgendeinmal in den nächsten fünfzig jahren durch irgend ein ereignis vom leben zum tod befördert.» ehrlichmann warf ein, das sei ihm zu polemisch und zu schwarzgemalt, und in diesem land hätte doch immer noch alles sein ordnung.

ich liess mich nun aber nicht mehr beirren, da ich so schön in fahrt kam, und fragte ihn, ob er den «Bericht an den Präsidenten» studiert habe, der «Global 2000» heisse und von amerikanischen wissenschaftlern anno ’80 für ihren chef carter produziert worden sei. ehrlichmann errötete schamhaft und brümelte etwas von der cheiben realpolitik, wo ihm so viel zeit wegnehme. ich schüttelte strafend den kopf und begann nun unerbittlich zusammenzufassen(2):

• bis zum jahr 2000 wird die kluft zwischen den reichsten und den ärmsten – gemessen am pro-kopf-bruttosozialprodukt – doppelt so gross sein wie heute.

• im zeitraum von 1975 bis 2000 werden die verbliebenen rohölreserven pro kopf voraussichtlich um mindestens 50 prozent abnehmen.

• der holzbestand wird im jahr 2000 pro kopf um 47 prozent unter dem von 1978 sein.

• die bodenerosion wird weltwelt im durchschnitt mehrere zentimeter ackerland abgetragen haben.

• die wüstenausdehnung wird sich auf einen erheblichen teil des wiesen- und ackerlandes auf der erde erstrecken.

• 15 bis 20 prozent aller pflanzen- und tierarten auf der erde werden ausgestorben sein – ein verlust von mindestens 500000 arten.

• die preise vieler lebenswichtiger ressourcen werden den prognosen zufolge real steigen.

• eine grosse zahl von menschen wird bei ungünstigen witterungsverhältnissen unter höheren nahrungsmittelpreisen oder gar hungersnot zu leiden haben.

• die spannungen, die zu krieg führen könnten, werden sich vervielfachen.

• eine verschlechterung der umweltverhältnisse, verursacht durch überbevölkerung, schafft lebensbedingungen, unter denen eine verringerung der fruchtbarkeit schwer zu erreichen ist. und das anhaltende bevölkerungswachstum verstärkt wiederum den druck auf umwelt und boden.

• tatsächlich deuten die besten zur zeit verfügbaren unterlagen – die auch die zahlreichen günstigen auswirkungen der entwicklung und übernahme neuer technologien berücksichtigen – darauf hin, dass die weltbevölkerung im jahr 2000 vielleicht nur noch wenige generationen von dem zeitpunkt entfernt ist, wo sie die grenze der belastbarkeit des gesamten planeten erreicht hat.

*

ich nahm einen schluck lauwarmen kaffees und war mit mir zufrieden: soviel auswendig aufzusagen gelingt mir grundsätzlich nur in meinen geschichten. ehrlichmann zuckte hilflos mit den schultern und fragte, was das nun solle. ich entgegnete, er hätte mich danach gefragt, weshalb ich unzufrieden sei. und er entgegnete: «aber man ist doch nicht deshalb unzufrieden, weil voraussichtlich die wüsten wachsen werden. abgesehen davon haben wir in unserem land keine wüsten.»

«abgesehen davon», begann ich wieder, «dass ich da nicht so sicher bin wie Sie, bin ich gar nicht unzufrieden wegen der wüsten, die wachsen. nehmen sie alles, was ich bisher sagte und zitierte, herr bundespräsident, gleichsam als voraussetzung für meine unzufriedenheit. denn aus dem gesagten ergibt sich die einsicht, dass meine generation auf dieser welt die erste ist, die berechtigte, reale, existentielle angst davor hat, möglicherweise die letzte zu sein. wir sind die ersten menschen, die keine hoffnung mehr haben können über sich selbst hinaus. genau aus diesem grund sagen heute viele junge leute, sie könnten es mit ihrem gewissen nicht mehr vereinbaren, ein kind zu zeugen. es ist sozusagen wissenschaftlich erwiesen, dass unsere kinder trotz alpenglühen, trotz sennenjuchzen und euren anti-panik-sprüchen keine chance mehr haben. womit wir uns auseinanderzusetzen haben, ist das, was man als realität gewordene geistige umweltverschmutzung unserer väter und vorväter bezeichnen könnte: rapide sinkende lebensqualität, vorab in den städten, verbetonierung, verkehrschaos, systematische umweltzerstörung, vergiftung von wasser, luft und lebensmitteln, dazu die permanente bedrohung durch den nuklearen  wahnsinn. aus diesen äusseren symptomen folgen logisch fluchtversuche der menschen in depression, drogen, sekten, in den konsumismus und so weiter.» ich überlegte einen moment, dann fügte ich bei: «und daraus folgt natürlich, dass zwar keiner leben kann, ohne eine hoffnung über den tag hinaus, die es nicht mehr gibt, aber dass sich trotzdem viele nicht vertrösten lassen mit den sprüchen vom jenseits. da mir, meiner generation, die hoffnung auf zukunft genommen ist, entfällt logischerweise der sinn für alles, was über den tag hinausweist. es gibt nichts sinnloseres als ‘ewige werte’! die kirche ist sinnlos. der staat ist sinnlos. herkömmliche politik als langfristige privilegiensicherung der regierenden ist sinnlos. und so weiter. wer nach dem sinn fragt in meiner apokalyptischen generation, wird notgedrungen immer wieder auf sich selber zurückgeworfen, auf seine eigenen bedürfnisse. NO FUTURE, herr ehrlichmann. das geht so weit, dass beziehungen zu anderen menschen nur noch soweit sinnvoll sind, wie sie der momentanen bedürfnisbefriedigung dienen. der versuch langfristiger beziehungen ist bereits sinnlos. obwohl wir nicht egoistisch sein wollen, sind wir notwendigerweise narzissten, onanisten, masturbierende. ihr, herr ehrlichmann, habt uns die maxime aufgedrängt, nach der wir zu leben haben. sie lautet: ICH LIEBE MICH.»

Hier bricht dieser Entwurf ab. Für den weiteren Text vorgemerkt waren noch die Stichworte: «jugendkommission ’81: vgl. s. 22/ GESTERN STANDEN WIR KNAPP VOR DEM ABGRUND, HEUTE SIND WIR EINEN SCHRITT WEITER/  s. 23: gemeinsame interessen: «ewige werte»]

(1) Arnold Künzli, BaZ 16.10.1981.

(2) im folgenden: Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten, Frankfurt am Main (zweitausendeins) 1981, 88-93.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5