«Nach dem zweiten Vollschock erwachte sie lächelnd»

 

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Es war keine Foltermethode, sondern einer der ersten medizinischen Versuche, Psychiatriepatienten ein normaleres Leben zu ermöglichen: Der Elektroschock war in der Klinik Münsingen bis 1988 eine gängige Therapieform. Heute kommt man wieder darauf zurück.

Elektroschock? – Unwillkürlich sieht man vor dem inneren Auge den Schauspieler Jack Nicholson. Wie hiess er gleich in Miloš Formans Film «Einer flog über das Kuckucksnest»? Genau: Randle McMurphy, ein Kleinkrimineller, der aus dem Gefängnis zur Begutachtung in eine psychiatrische Anstalt überwiesen wird. Schnell weckt er in den Kollegen auf seiner Abteilung den verschütteten Sinn für den aufrechten Gang und das Misstrauen gegenüber dem therapeutischen Alltag. Deshalb ist dieser McMurphy ein Unruhestifter und muss mit einem Elektroschock behandelt werden. Wer Nicholson in dieser Szene gesehen hat, wird sie nicht mehr vergessen. 

Zwar verliefen Elektroschockbehandlungen um 1975 ziemlich anders, aber wahr ist: Genau so wie McMurphy, ohne Narkose, sind in den ersten Jahren des Elektroschocks die Kranken behandelt worden. Auch in der Schweiz. In der Heil- und Pflegeanstalt Münsingen zum Beispiel seit Spätherbst 1939. Praktiziert wurde diese Behandlung bis 1988, als man sie aus dem Therapieangebot strich – um im Herbst 2017 wieder darauf zurückzukommen. Seither bietet das Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) die Elektrokonvulsionstherapie – wie man den Elektroschock heute nennt – wieder an (siehe Kasten).

Etwas gegen den therapeutischen Nihilismus tun

Der Psychiatriepionier Max Müller amtet zwischen 1938 und 1954 als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Münsingen. Als weltweit einer der ersten ausserhalb Italiens führt er die Elektroschockbehandlung Ende Oktober 1939 in den therapeutischen Alltag ein. Zuvor hat er sich bereits einen internationalen Namen gemacht als einer der Pioniere des Insulinschocks, bei dem durch Injektion von Insulin der Körper derart stark unterzuckert wird, dass die Person in ein Insulinkoma fällt. 

War der Psychiater Max Müller ein Sadist? Nein. Er hatte als Anstaltspsychiater ein grosses Problem, und er versuchte es mit jenen Möglichkeiten zu lösen, die damals Erfolg versprachen. Das Problem, das ihn als junger Anstaltsarzt zur Verzweiflung trieb, nannte er später «therapeutischen Nihilismus». Kamen Menschen in die Anstalt, weil es draussen nicht mehr ging, blieben sie nicht selten bis zum Tod: Man fütterte sie und schaute zu ihnen, und wurden sie zu laut oder zu aggressiv, fesselte man sie, sperrte sie in Einzelzellen oder Deckelbäder. Max Müllers Sohn Christian – später selber ein prominenter Psychiater – erinnert sich in der Autobiografie an seine Kindheit unter anderem so: «Säle, Korridore, Zimmer, alles mit Kranken gefüllt, die herumsitzen, herumstehen, herumwandern, rastlos, ruhelos, es riecht nach Tabak, Schweiss und Urin. Zusammen mit dem Geruch von abgestandener Suppe und Bodenwichse ergibt sich der unverwechselbare Anstaltsgeruch.»

Gegen die oft lebenslängliche Verwahrung ohne medizinische Hilfe will Max Müller etwas tun. Er interessiert sich für alles, was Erfolg verspricht beim Versuch, Menschen zu einem normaleren Verhalten und in die Gesellschaft zurückzuführen. Darum interessiert er sich für die Psychoanalyse und arbeitet mit ihr, er interessiert sich für die aktivierungstherapeutische Arbeit mit Anstaltsinsassen und führt sie in Münsingen ein – und er interessiert sich für die so genannten «körperlichen Therapien». Dabei geht es darum, die Körper von Behandelten durch einen massiven Schock oder einen epileptischen Krampfanfall quasi auszuschalten, damit die «Festplatte» neu zu formatieren und die Person so zu normalisieren. In den 1930er Jahren experimentiert man mit Fiebertherapien, Schlaftherapien, mit der Cardiazolkrampftherapie und der Insulinkomatherapie.

Der Elektroschock kommt nach Münsingen

Am 6. Mai 1938 besucht laut Gästebuch der Anstalt Lothar B. Kalinowsky seinen Kollegen Alfred Storch, der als Assistenzarzt in Münsingen arbeitet. Als Juden mussten sie beide aus dem nationalsozialistischen Deutschland emigrieren. Weil die Direktorenfamilie Müller ein offenes Haus führt, sitzt beim Abendessen auch Kalinowsky am Tisch und erzählt Neuigkeiten, die Max Müller interessieren: Der junge Assistenzarzt arbeitet in Rom unter dem Psychiater Ugo Cerletti. Dieser hat letzthin, am 11. April, den ersten Menschenversuch mit elektrischem Strom durchgeführt – als Material hat er einen von der Polizei zugewiesenen Verwirrten verwendet. Unterdessen ist man im Team von Cerletti davon überzeugt, dieser Elektroschock sei weniger angstauslösend, billiger, unschädlicher und flexibler anwendbar als die bisher erprobten Schockmethoden.

In den Lebenserinnerungen schreibt Müller später: «Entscheidend für mich aber war wohl Kalinowsky.» Müller bleibt dran, liest die ersten Fachartikel, und im Sommer 1939 stellt er beim Kanton Bern den Antrag für einen Kredit, um ein Elektroschockgerät kaufen zu können. Mitte Oktober ist er in Mailand, um dort dem Psychiater Giuseppe Corberi über die Schultern zu schauen, der bereits mit Cerlettis Methode arbeitet. Einige Tage nach Müllers Rückkehr aus Italien ist es so weit. In der Krankengeschichte 10086 des PZM-Archivs steht unter dem 31. Oktober 1939: «Heute 1. Elektroschock. Mittelschwerer Anfall bei 900 Ohm, 80 Volt, 0,1 sc. Schläft nach dem Anfall während 10 min., ist nachher kurz laut, isst dann aber ohne Widerstand und gut, was sonst beides nicht der Fall ist. Nachts wieder schwatzhaft.»

Übrigens emigriert Lothar B. Kalinowsky im März 1940 in die USA und wird dort zu einem der bekanntesten Propagandisten für die Elektroschocktherapie. Bereits Ende 1944 schreibt er aus New York an Müller: «Im grossen Ganzen lässt sich die hiesige Entwicklung so zusammenfassen, dass Electric Shock einen unerhörten Umfang angenommen hat und dank seiner Einfachheit vielfach kritiklos in Privatpraxis angewandt wird.»

Positive Wirkung und drei grosse Probleme

Von jetzt an gehören Elektroschockkuren zum Behandlungsangebot der Heil- und Pflegeanstalt Münsingen. Angewendet werden sie vor allem bei Personen mit Diagnosen im Bereich der Schizophrenien und der Depressionen, wobei sich im Verlauf der vierziger Jahre zeigt, was bis heute gilt: Am stärksten beeinflusst werden können depressive Zustände, insbesondere bei älteren Personen.

Bei der Lektüre in den Krankengeschichten des PZM wird die kurzfristige Wirkung von Elektroschockbehandlungen immer wieder ähnlich beschrieben. Zum Beispiel so: «Nach dem zweitenVollschock erwachte sie lächelnd, hatte einen freien Gesichtsausdruck u. konnte nicht verstehen, warum sie nicht esse, warum sie nicht arbeite, sie sei doch immer arbeitsam gewesen. Pat. fühlt sich so wohl, sie sagte, sie fühle sich wie neugeboren.» Es gibt Krankengeschichten, die solch schnelle, deutliche Verbesserungen des Zustands, wenige Behandlungen und die Entlassung vermerken und damit abgeschlossen sind. Aber es gibt auch drei grosse Probleme:

Der manchmal geradezu spektakuläre Normalisierungseffekt bedeutet nicht Heilung, sondern Besserung – in Münsingen sprechen die Ärzte von «Remission». Diese Besserung hält meistens nicht an, im erwähnten Beispiel wird die Patientin bereits gegen Abend des gleichen Tages wieder als derart in sich versunken beschrieben, dass man ihr «das Zvieri» habe eingeben müssen. Aber auch wenn der gebesserte Zustand mit einer Kur von einigen Einzelbehandlungen stabilisiert und die Person entlassen werden kann, vermerken die Ärzte in der Krankengeschichte bloss eine «soziale Remission»: In vielen Fällen kommt es innert Wochen, Monaten oder weniger Jahre zur nächsten Einweisung in den Anstalt.

Das zweite Problem ist die Brutalität der unmodifizierten Elektroschockbehandlung. Zwar nehmen die Behandelten im Moment nichts wahr, weil sie mit dem Stromstoss sofort ohnmächtig werden. Aber der Strom löst derart heftige Muskelkrämpfe aus, dass mehrere Pfleger, die mit aller Kraft den Körper der behandelten Person auf dem Schragen zu fixieren versuchen, nicht genügen, um Knochenbrüche, Ausrenkungen und vereinzelt Muskelrisse sicher verhindern zu können. 

Gegen Ende der 1940er-Jahre beginnt man deshalb auf der Suche nach einer weniger brutalen, modifizierten Behandlungsweise auch in Münsingen mit Muskelentspannungsmitteln zu experimentieren. Weil solche Mittel aber eigentlich nicht «entspannen», sondern kurzfristig alle Muskeln lähmen, führen sie bei der behandelten Person zu einer extrem beängstigenden Atemnot. Dieser Nebeneffekt macht vorgängig eine Kurznarkose nötig, damit die eintretende Lähmung der Atemmuskulatur nicht wahrgenommen wird. Mit künstlicher Beatmung garantiert man während der Lähmung die Sauerstoffzufuhr.

Zwischen Therapie und Disziplinierung

Durch diese modifizierte Behandlungsweise können seit den frühen 1950er-Jahren chirurgische Zwischenfälle während der Behandlung ausgeschlossen werden. Wenn 1975 im Film «Einer flog über das Kuckucksnest» ohne Narkose, also unmodifiziert, gearbeitet wird, wird deshalb nicht eine medizinische Behandlung nach den Regeln der Kunst, sondern eine Disziplinierungsaktion gezeigt. 

Die Filmsequenz ist demnach unfair gegenüber dem jederzeit auch vorhandenen Bemühen der Ärzteschaft, Menschen, die schwer leiden, zu helfen. Andererseits verweist sie auf das dritte grosse Problem des Elektroschocks: Er war immer auch ein probates Mittel, um im dicht bewohnten, kasernenartig funktionierenden Anstaltsbetrieb für Ruhe und Ordnung zu sorgen. In den Krankengeschichten spiegelt sich diese Form der Behandlung nicht als Vorsatz, repressiv durchgreifen zu wollen. Aber wenn Personen in Krisen als laut, unflätig, aggressiv oder sonstwie störend beschrieben werden und der nächste Eintrag eine «ES-Behandlung» vermerkt und wenn die Behandlung danach nicht als therapeutische Kur weitergeführt, sondern von Fall zu Fall gegen solche Krisen eingesetzt wird, dann geht es nicht um Remission, sondern um die Erhaltung eines anstaltskompatiblen Zustands, den man früher durch Fesseln oder Einsperren, also durch brachialen Zwang hergestellt hat. 

1600 Elektroschockkrankenkarten

Nach dem Abgang von Max Müller als Anstaltsdirektor – er übernimmt im Frühling 1954 die Waldau – verändert sich die Betriebskultur in Münsingen rasch. Die nachfolgenden Direktoren kümmern sich nicht mehr um medizinische Forschung, sondern immer mehr um betriebswirtschaftliche und gesundheitspolitische Fragen. 1967 wird die Heil- und Pflegeanstalt in psychiatrische Klinik umbenannt. Die Elektroschockbehandlung ist nicht mehr im Gespräch, sie wird aber weiterhin angewendet. 

Für die Zeit von 1960 bis 1988 gibt es im Archiv des PZM zwei grosse Holzschachteln mit mehr als 1600 Elektroschock-Krankenkarten. Ihre statistische Auswertung hat vier hauptsächliche Erkenntnisse gebracht: 

• Frauen wurden häufiger geschockt als Männer (im Verhältnis von gut 1,5 zu 1). 

• Am meisten geschockt wurden junge Erwachsene und Frauen zwischen 40 und 55.

• Am meisten Behandlungen wurden in diesem Zeitraum im Jahr 1972 durchgeführt, danach nimmt ihre Zahl schnell stark ab.

• In knapp zwei Dritteln der Fälle reicht eine einzige Elektroschockkur, wobei sich eine Krankengeschichte gefunden hat, in der in 26 Kuren 107 Behandlungen vermerkt sind.

Öffentliche Kritik und Pharmainteressen

Dass die Elektroschockbehandlung in der Psychiatrischen Klinik Münsingen immer weniger durchgeführt und schliesslich ganz eingestellt wird, hat vor allem zwei Gründe. Zum einen macht die zum Teil antipsychiatrische öffentliche Kritik das Angebot der Elektroschockbehandlung zum Imageproblem für die Kliniken. Kritisiert wird, Elektroschock sei keine Therapie, die beobachtbaren Verhaltensveränderungen bei Patientinnen und Patienten seien Folgen der Hirnschädigung durch den Stromstoss und der Einschüchterung durch Androhung weiterer Behandlungen. Als der Münsinger Klinikdirektor Jean-Pierre Pauchard 1994 in der «Hauszeitung» zum Thema Elektroschock schreibt, macht er die «massiven Vorurteile und die Desinformation» in der Öffentlichkeit dafür verantwortlich, dass diese Behandlung nicht mehr angeboten werden könne.

Zum anderen sind psychiatrische Kliniken seit den 1950er-Jahren zum wichtigen Absatzmarkt für Produkte der chemischen Industrie geworden. Darum hat diese ein Interesse, die Vorteile von Neuroleptika und Antidepressiva gegenüber der Elektroschockbehandlung zu betonen. Vielen Klinikärzten und -ärztinnen kommt die Pharmapropaganda auch deshalb entgegen, weil es für sie einfacher ist, Tabletten zu verschreiben, als eine körperliche Therapie durchzuführen, die stark in der öffentlichen Kritik steht und für sie ethisch belastend ist: Was, wenn man mit ihr eben doch mehr schadet als nützt?

Laut Aussagen mehrerer Angestellten, die damals in der Psychiatrischen Klinik Münsingen – seit 2000 Psychiatriezentrum Münsingen – gearbeitet haben, ist das Thema Elektroschock in den 1980er Jahren einfach «eingeschlafen». Ganz eingestellt habe man die Behandlung schliesslich auch deswegen, weil immer häufiger die die ärztliche Praxis und Routine gefehlt habe. Darum ist im Juni 1988 in Münsingen die letzte Elektroschockbehandlung des 20. Jahrhunderts durchgeführt worden. Im September 2017 nun die erste des 21. Jahrhunderts (siehe Kasten). 

 

Warum die Behandlung wieder normal wird

Heute ist im Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) ein Team von sechs Ärztinnen und Ärzten für die Durchführung von Elektrokonvulsionstherapien zuständig. Behandelt wird, wenn die Medikamente die Erkrankung nicht günstig zu beeinflussen vermögen und wenn das Einverständnis der zu behandelnden Person vorliegt. Die Therapieform hat man deshalb wieder eingeführt, weil die Depressionsbehandlung eine Kernkompetenz des PZM ist und man zuvor günstige Verläufe bei extern mit EKT behandelten Patientinnen und Patienten beobachtet hat.

Die heutige Behandlung ist mit der modifizierten des 20. Jahrhunderts vergleichbar. Jedoch wird nicht mehr mit Wechselstrom aus der Steckdose gearbeitet, sondern mit einem Kurzstromapplikationsgerät. Dieses führt bei längerer Stromflussdauer mit einem Bruchteil der Strommenge zur Auslösung des epileptischen Krampfanfalls. Der Chefarzt Christian Kämpf sagt, das Ziel bleibe allerdings das gleiche wie früher: «Mit möglichst geringer Strommenge soll ein Krampfereignis ausgelöst werden.»

Das Hauptargument der Elektroschockkritik der 1970er-Jahre, die Behandlung heile nicht, sondern zerstöre Hirnzellen, ist für die Oberärztin Claudia Jöstingmeier widerlegt: Das Hirn werde nicht zerstört, im Gegenteil führten die Behandlungen «zu einer leichtgradigen Zunahme des Hirnvolumens». Dies belegten neuere Forschungen mit dem Hirnwachstumsfaktor «Brain-Derived-Neurotropic Factor» (BDNF). Die Stimulation des Hormonhaushalts und der Neurotransmitter im Gehirn ermögliche die gewünschten Schritte aus der Krankheit. 

Seit der Wiedereinführung wurden im PZM im ersten Jahr (2017/2018) etwa 400 Behandlungen durchgeführt. Im zweiten Jahr waren es nun bereits rund 600.

Die Titel und der Lead des Beitrags wurden von der «Bund»-Redaktion gesetzt. 

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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