Überredungskunst vor dem Divisionsgericht

Seit dem 26. November 1989 die GSoA-Initiative «Für eine Schweiz ohne Armee» mit 35,6 Prozent Ja-Stimmen einen Achtungserfolg erzielte, hat sich in der Frage der Militärverweigerung einiges getan. Am 2. Juni 1991 wurde die Revision des Militärstrafgesetzes, die sogenannte Barras-Reform, vom Volk gutgeheissen, am 17. Mai 1992 mit 82,5 Prozent Ja-Stimmen auch die Verfassungsgrundlage für einen zivilen Ersatzdienst. Die Botschaft zum entsprechenden Bundesgesetz hat der Bundesrat am 22. Juni letzthin verabschiedet; seine Inkraftsetzung ist für Anfang 1996 vorgesehen.

Bis 1994 schlossen sich rund ein Dutzend Kantonen dem Tessiner Justizdirektor Pietro Martinelli an, der im Mai 1990 ein Strafmoratorium für Militärverweigerung ausgesprochen hatte. Seither werden Verweigerer zwar noch zu Gefängnisstrafen verurteilt, müssen sie aber immer häufiger nicht mehr absitzen. Der Bundesrat, der im November 1990 die InitiantInnen des «Aufrufs zur Tat»[1] noch bedroht hatte, jede «Aufforderung zur Dienstverweigerung» werde gerichtlich verfolgt, antwortete am 25. August 1993 auf eine Interpellation im Nationalrat, er habe «aus Zweckmässigkeitsüberlegungen politischer Natur» auf die Strafverfolgung solcher Aufforderungen verzichtet.

Wie war dieser Liberalisierungsschub möglich?

Lebt der Mensch oder atmet er?

Die beiden GSoA-Aktivisten Leo Boos und Marc Spescha haben unter dem Titel «Ungehorsam für Recht und Freiheit» die «Dokumentation eines ungewöhnlichen Prozesses» veröffentlicht. Boos selber gehörte zu den UnterzeichnerInnen des «Aufrufs zur Tat» und engagierte sich aktiv um sein Für und Wider, das anlässlich seiner Lancierung auch in der GSoA selber umstritten war (die WoZ diente dieser Diskussion als eine der öffentlichen Plattformen, siehe WoZ Nrn 16, 20, 27/1990). Später hat Boos als Soldat konsequenterweise einen Ergänzungskurs verweigert. Am 3. Dezember 1993 musste er sich deshalb wegen «Dienstverweigerung» – für ihn ein Stück «zivilen Ungehorsams» – in Dielsdorf vor dem Divisionsgericht 6 verantworten. Verteidigt wurde er von Marc Spescha.

Die Dokumentation des Prozesses bildet den ersten Teil des Buchs, nachzulesen sind ein Prozessbericht von Renate Schoch, Speschas Verteidigungsplädoyer, das Schlusswort von Boos, das Urteil und dessen Begründung (der zweite Teil dokumentiert vor allem die Diskussion um die Perspektiven des zivilen Ersatzdienstes).

Dieses Urteil hat den Prozess in der Tat zu einem aussergewöhnlichen gemacht. Boos erhielt nämlich den privilegierten Tatbestand der «schweren Gewissensnot» zuerkannt, obschon er während des Prozesse keinen Hehl aus seinem Engagement für die GSoA und den «Aufruf zur Tat» machte und seine Verweigerung klassenkämpferisch begründete, indem er die für 1995 angekündigte Amnestie für SteuerhinterzieherInnen den verschiedenen «abgeschmetterten Vorstössen für eine Amnestie für Militärverweigerer» gegenüberstellte. Noch vor wenigen Jahren wäre Boos als geradezu klassischer Fall eines politischen und deshalb eben gerade nicht zu privilegierenden Verweigerers für seine Gesinnung mit einer Zusatzstrafe sanktioniert worden. Nicht so diesmal.

Diesmal brach der Richter den eidgenössischen Militärjustiz-Wahn auf, wonach eine Militärverweigerung entweder politisch oder ethisch-moralisch begründbar zu gelten habe (was von der logischen Konsistenz ungefähr der Aussage entspricht: Entweder lebt der Mensch, oder er atmet). Der Richter von Leo Boos argumentierte: «Der Angeklagte hat sich auf die Fahnen geschrieben, bei der Realisierung einer freien und gerechten Menschheit seinen Beitrag zu leisten. Dieses Ziel ist sowohl ethischer wie auch politischer Natur […], weshalb die Voraussetzungen der Privilegierung erfüllt sind.»

Wie war diese kopernikanische Wende in der kleinen, bornierten Welt der schweizerischen Militärjustiz möglich?

Gerichtssaal als Spielwiese

Darüber, was den Militärrichter von Dielsdorf plötzlich zur Vernunft gebracht hat, darf spekuliert werden. Hat am Ende die Diskussionsfreudigkeit, die sich die GSoA-AktivistInnen aus Jürgen Habermas’ Lehre vom kommunikativen Handeln destilliert haben und mit der sie, wo sie auftauchen, nun seit bald zehn Jahren mit bewundernswürdigem Elan die Schweiz zu einer «offenen Schweiz ohne Armee» reformieren wollen, diesen Richter schlicht und ergreifend überzeugt?

Trotz aller skrupulösen Relativierungen suggerieren Boos und Spescha in ihren ansonsten lesenswerten und kenntnisreichen Ausführungen genau dies. «Tatsache ist, dass parallel zum Aufruf und zu den Folgetaten in drei Jahren zugunsten eines Zivildienstes und in Sachen Strafaufschub für Verweigerer mehr erreicht wurde als in 88 Jahren davor!» Aus dieser selbstbewussten Einschätzung leitet Spescha in seinem Plädoyer das bemerkenswerte Argument ab: «Dennoch ist nicht zu leugnen, dass er [Boos] durch sein politisch-moralisches Engagement für die Schweiz weit mehr tat als viele tausend Mitbürger mit ihrem Militärdienst.»

Die Buchautoren sehen im dokumentierten Prozess den Kampf einer radikaldemokratischen Avantgarde, die «Ungehorsam gegen Zivilitätsdefizite» stellt und dabei «auf eine lernfähige rechtsstaatliche Demokratie» setzt, eine Avantgarde, die, andersherum, dem verluderten Rechtssaat zu seinem Recht glaubt verhelfen zu müssen – nicht anders als die mutigen Bürger der sechziger Jahre, die als Nonkonformisten bekannt geworden sind und genau dies versucht haben. Neu an dieser Avantgarde ist, dass sie das politisch-ethische Sendungsbewusstsein mit einem diskursethischen verknüpft, das die Welt zum zivilgesellschaftlichen Marktplatz des Disputs unter Gleichberechtigten verklärt und deshalb einen Militärgerichtssaal nicht mehr von einer Spielwiese des herrschaftsfreien Diskurses unterscheiden will.

Hätte der Auditor die ideologische Schwäche des Richters von Dielsdorf nicht mit einer Appellation bereinigt, wenn dieser sich unbedacht hätte zur Vernunft überreden lassen? Ist die plötzliche Anerkennung der ethischen Ehrenhaftigkeit politischen Handels in diesem Fall nicht eine genau gleich abgekartete Sache, wir es in anderen Fällen auch heute noch deren Leugnung ist (siehe Zweittext)? Die Armeereform ’95 reduziert den Mannschaftsbestand bekanntlich um einen Drittel. Ist da nicht naheliegend, dass die Armee ein Interesse hat, die unsicheren Kantonisten, die statt strammzustehen von Ethik und Politik palavern, möglichst ohne Aufsehen loszuwerden? Ist nicht selbstverständlich, dass die Militärrichter gehalten sind, so oder so das Ihrige beizutragen zur Armeereform?

Ohne Zweifel haben auch die GSoA-Aktionen der letzten Jahre die Veränderung der militärpolitischen Realität in der Schweiz mitbeeinflusst (vielleicht etwa so, wie der Kampf gegen den Schnüffelstaat die Reform des Staatschutzes beschleunigt hat). Aber wenn der Glaube an die gesellschaftsverändernde Kraft des eigenen Arguments das Wissen um die realen Machtverhältnisse zu verschleiern beginnt, ist, befürchte ich, eine intellektuelle Kindekrankheit im Anzug. Ich würde sie die «Habermasern» nennen.

Leo Boos/Marc Spescha: Ungehorsam für Recht und Freiheit. Bülach (Realotopia Verlagsgenossenschaft) 1994.

 

[Zweittext]

Rechtsunerhebliche Ethik

Trotz des bemerkenswerten Urteils gegen den GSoA-Aktivisten Leo Boos: Ignoranz und Willkür der Militärjustiz wird auch weiterhin die Erfahrung der «normalen» Militärverweigerer sein. Das zeigt der Fall des Flab Kan Maciéczyk Alexander.

Der heute 41jährige Architekt Alexander Maciéczyk hat 1991 seinen letzten Ergänzungskurs als Soldat bei den Flab-Kanonieren verweigert (und zwar nicht als Unterzeichner des «Aufrufs für die Tat»). Vor dem Divisionsgericht 8 begründete er seine Verweigerung am 27. August 1992 in Luzern pointiert politisch. Unter anderem führte er aus, er weigere sich, «die Waffe in die Hand zu nehmen, um die zerstörerischen Privilegien einer sich zunehmend entsolidarisierenden Konsum- und Freizeitgesellschaft» und «die Profiteure dieses Geldwaschkasinos» zu verteidigen. Seine Argumentation bezeichnete er als «politisch-ethisch» und die Tatsache, dass die Militärjustiz dem «politischen Handeln die ethische Motivation» abspreche, als «Skandal».

Der amtliche Verteidiger plädierte auf fünfzehn Tage Gefängnis bedingt, der Auditor auf dreissig, dem Gericht schienen vierzig Tage Gefängnis angemessen: Maciéczyks Argumente seien nicht im rechtserheblichen Sinn als ethisch zu bezeichnen. Unterschoben wurde ihm in der Urteilsbegründung – trotz der (von ihm abgelehnten) Vorschläge zum Korporal und zum Gefreiten – «schlechte militärische Führung» und «egoistische, unsolidarische Züge gegen diejenigen, die die Strapazen der Militärdienstpflicht auf sich nehmen».

Maciéczyk hätte zwar das drakonische Urteil akzeptiert, nicht aber seine teilweise verleumderische Begründung. Er appellierte. Am 7. Mai 1993 stand er vor dem Militärappellationsgericht 2A in Zürich, wo der Richter schnell einmal durchblicken liess, dass er das Urteil des Divisionsgerichts 8 nicht bestätigen werde, weil es überrissen sei. Jedoch war er auch nicht bereit, mit der Reduktion des Strafmasses die Vorinstanz zu desavouieren. Er verfügte deshalb, über «die Frage der Diensttauglichkeit und eventuell der Zurechnungsfähigkeit» Maciéczyks sei ein «psychiatrisches Gutachten» zu erstellen, unter anderem zur Frage, ob «der Angeklagte im Zeitpunkt der Tat an einer Geisteskrankheit, an Schwachsinn oder an einer schweren Störung des Bewusstseins» gelitten habe.

Maciéczyk weigerte sich, bei dem zum «Sachverständigen» ernannten Psychiater vorzusprechen, und beharrte auf der politisch-ethischen Begründung seiner Militärverweigerung. Der Psychiater saugte sich daraufhin, ohne Maciéczyk je gesehen zu haben, ein sechsseitiges Gutachten aus den Fingern, das er der Untersuchungskommission, der UC, zukommen liess. Am 10. August 1994 wurde Maciéczyk von ihr aufgeboten und traf dort zu seiner Verwunderung auf einen überaus verständigen Offizier, der ihm väterlich empfahl, doch vernünftig zu sein und sich psychiatrisch aus der Armee ausmustern zu lassen.

Mürbe gemacht vom zweijährigen Kampf um ein akzeptables Urteil (aber auch aus beruflichen und familiären Gründen), hat Maciéczyk schliesslich den «blauen Weg» akzeptiert. Auf Empfehlung der UC hat ihn das Appellationsgericht am 27. September aus der Armee entlassen. Für sich und andere ein «politisch-ethisches» Zeichen zu setzen ist ihm nicht gelungen. In den Statistiken wird er nicht einmal als Verweigerer auftauchen. Die Gesinnungsjustiz hat ihn gezwungen, aus Gründen der Vernunft seine Gesinnung als Krankheit anzuerkennen, bevor sie ihn gehen liess.

[1] Der 1990 von der Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA) veröffentlichte «Aufruf zur Tat» war ein Aufruf zur Dienstverweigerung, um der Forderung nach Einführung des Zivildienstes Nachdruck zu verleihen.

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