Was kommt danach?

Redet man über journalistische Ethik, kriegt man Boden nur dann unter die Füsse, wenn man auch sagt, vor welchem Hintergrund man redet. In Bern ist es so: Hier gibt es mit der «Berner Zeitung» (BZ) und dem «Bund» nach wie vor zwei Tageszeitungen. Dass der Medienplatz aber nur deren anderthalb zu tragen vermag, war schon ein geflügeltes Wort, als der Inseratemarkt noch boomte. Als er dann 2001 schnell und stark zu schrumpfen begann, wuchs das Defizit des «Bund» bis über acht Millionen Franken jährlich, während die BZ als Milchkuh der «Espace Media Groupe» (EMG) laufend ausgedünnt wurde, damit sie weiterhin schwarzen Zahlen schrieb. 2003 stieg die EMG beim «Bund» ein, übernahm die publizistische Leitung und installierte das «Berner Modell»: Beide Tageszeitungen kamen unter das gleiche Verlagsdach. Ohne dieses Modell gäbe es den «Bund» heute nicht mehr.

Seit 2003 werden aber nun unter dem Druck der sinkenden Werbeeinnahmen die Ressourcen der beiden Zeitungen von Sparrunde zu Sparrunde abgebaut. Für das Jahr 2006 soll der «Bund» erneut 1,5 Millionen Franken einsparen. Das entspricht rund 15 der zurzeit noch knapp 65 Redaktionsstellen (die BZ hat noch rund 100).

Die Haltung des EMG-Managements: Man stehe weiterhin zum «Berner Modell», aber letztlich werde der Markt entscheiden. Absehbar wird dieser Entscheid eher früher als später lauten, gewinnbringend könne in Bern nur noch eine Zeitung betrieben werden. Dieses Monopolblatt wird, schätzt ein Insider, bei seiner Lancierung nicht viel mehr als hundert redaktionelle Vollstellen anbieten.

Ethik jenseits der Grenze

Vor diesem Hintergrund also diskutierten am 15. Berner Medientag unter Roland Jeannerets Leitung der «Blick»-Redaktor Georges Wüthrich und die «saemann»-Redaktorin Rita Jost mit folgenden EMG-Angestellten: Walter Däpp («Bund»), Bernhard Giger (BZ) und Matthias Lauterburg (Tele Bärn). Ihr Thema war das Spannungsfeld zwischen «Wunschvorstellungen und Redaktionsalltag». Es wurde lauter Richtiges gesagt: «Qualitätszeitung» sei ein dummes Wort, jede Zeitung könne – für verschiedene Bedürfnisse und Zielpublika – qualitativ gut oder schlecht gemacht werden. Qualität setze sich aus verschiedenen Ressourcen zusammen, eine davon sei eben die journalistische Ethik, die es gegen die Kassenwarte der Zeitungen zu verteidigen gelte, weil jene mit qualitativen Faktoren nicht rechnen könnten.

Auch die beiden Chefredaktoren trugen zum Medientag bei, was sie konnten: BZ-Chef Andreas Zgraggen blieb zuhause, Bund-Chef Hanspeter Spörri nahm teil und sagte, er werde sich gegen weitere Abbauschritte wehren, aber voraussichtlich «nicht sehr erfolgreich», denn das Bugetloch gebe es tatsächlich. Und über das EMG-Ziel, jährlich «einen stabilen Gewinn» zu erwirtschaften, könne er nicht reden, das sei «nicht sein Bereich». Publizistisch sei die Situation so: «Beide Blätter sind an der Grenze oder schon über die Grenze hinaus.»

Am Schluss der Veranstaltung wurde eine Resolution verabschiedet, in der «die Teilnehmenden des Berner Medientags 2005» die EMG aufforderten, «dem Inseraterückgang nicht allein mit hektischen Sparmassnahmen in der Redaktion zu begegnen, sondern publizistische Konzepte zu entwickeln.» Alle waren dafür und vermutlich niemand so naiv zu glauben, in der EMG-Chefetage werde sich nach diesem Appell jemand veranlasst sehen, im Fremdwörter-Duden nachzuschlagen, was «publizistisch» überhaupt heisst.

Ethisch ist, das Nötige zu tun

Wer hat in Bern überhaupt ein Interesse, publizistisch vorauszudenken? Die Angehörigen der beiden Zeitungsredaktionen! Tatsächlich müssen sie sich fragen:

• Bis an welchen Punkt können und wollen sie publizistisch das «Berner Modell» verteidigen? Und wie wollen sie das tun?

• Was folgt, wenn das «Berner Modell» publizistisch nicht mehr haltbar ist? Ist etwas anderes denkbar als die BZ als Monopolzeitung, aufgemotzt mit einigen möglichst billigen Supplements, um das bildungsbürgerliche «Bund»-Publikum bei der Stange halten?

• Was sind, aus Sicht der Macher und Macherinnen, die publizistischen Minimalstandards einer Berner Monopolzeitung?

Diese drei Fragen müssen die Redaktionen von BZ und «Bund» beantworten. Und zwar gemeinsam und jetzt. Es gibt aber ein Problem: Die beiden Redaktionen reden nicht miteinander:

Die Stimmung auf der BZ-Redaktion ist schlecht. Eines der nicht mehr als fünf am Medientag anwesenden Redaktionsmitglieder sagte anonym: «Wir schämen uns für die eigene Zeitung», auf der Redaktion herrsche «Sarkasmus und Niedergeschlagenheit» («Tages-Anzeiger, 14.11.05). Gegenüber dem «Bund» gibt es Ressentiments: Das dünkelhafte Gerede von der «Qualitätszeitung» nervt, und es gibt ein berechtigtes Misstrauen, dass die EMG 2005 mit dem aus der BZ gequetschten Gewinn den «Bund» quersubventioniert.

Die Stimmung auf der «Bund»-Redaktion ist auch schlecht. Man hat eben vergeblich versucht, die Entlassung zweier altgedienter Kollegen zu verhindern und nun soll bereits wieder gespart werden. Publizistisch hat man Mühe, die BZ ernst zu nehmen: Sie verabschiede sich immer mehr von jeder politischen Relevanz. Wenn gespart werden solle, dann nicht bei der publizistischen Qualität – also zuletzt beim «Bund».

Die Gründe für die gegenseitigen Ressentiments sind nachvollziehbar. Trotzdem sind sie medienpolitisch dumm: Weil die Redaktorinnen und Redaktoren von BZ und «Bund» heute die einzigen sind, die publizistisch vorausdenken und mitreden können, tragen sie – mit Verlaub – die Verantwortung dafür, dass sie miteinander ins Gespräch kommen und sich gegenseitig soweit unterstützen und stärken, dass dereinst «Nein» gesagt werden kann, wenn «Nein» gesagt werden muss. Und dass es dann vordiskutierte Ideen gibt, was stattdessen nötig und möglich wäre.

Käme ein solches Gespräch zustande, gäbe es zwar keine Garantie für einen Erfolg – kommt es aber nicht zustande, ist der Misserfolg garantiert: Die Mitglieder der beiden Redaktionen werden dann von Sparrunde zu Sparrunde mehr demoralisiert. Und eines Tages wird das EMG-Management dem staunenden Berner Publikum das Ende des «Berner Modells» und eine Monopolzeitung präsentieren, die vor allem anderen weiterhin «stabilen Gewinn» (Spörri) verspricht. Und das – nebst mehreren Dutzend Entlassungen – war’s dann.

Hier und heute heisst «journalistische Ethik», dass die Rahmenbedingungen bestimmt und verteidigt werden müssen, die die Weiterführung der journalistischen Arbeit auf dem Platz Bern überhaupt ermöglichen. Danach wird noch genügend Zeit sein, sich darüber belehren zu lassen, wie extensiv Schurnis Statements gegenlesen lassen müssen, auf dass sie in den qualitätsgesicherten Standeshimmel kommen.

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Grilliert

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