Der autodidaktische Tausendsassa

In Bern reibt man sich die Augen: Die «Espace Media Groupe», Herausgeberin von «Bund» und «Berner Zeitung», hat um eine Zusammenarbeit nachgefragt. Dem Kultursekretär der Stadt, Christoph Reichenau, der im August selber eine «Kulturagenda» lancieren will, macht das «ensuite» den Start schwer. Tatsächlich ist im April 2003 etwas Unvorhergesehenes geschehen: Damals stellten die Tageszeitungen aus finanziellen Gründen ihr gemeinsames Ausgehmagazin «Ansager» ein. Aber statt dass es danach nichts mehr gab, gab es plötzlich unübersehbar Lukas Vogelsangs «ensuite – kulturmagazin». Unterdessen ist es sechzehn Mal erschienen, umfasst zurzeit 56 Seiten, kann abonniert werden, liegt aber auch gratis auf. Idealismus statt Löhne. Misstrauische Blicke der Profis. Aber bisher funktionierts.

Wer ist Vogelsang? Er ist 32, in Bern aufgewachsen, und wollte nach dem zehnten Schuljahr nicht ins Seminar, weil dort ja sowieso alle gleicher Meinung sind. So machte er eine Verwaltungslehre im Zieglerspital. Drei Jahre «KV-Horror», wie er sagt, einziges Highlight: der Philosophieunterricht mit dem Schriftsteller Ueli Zingg. Daneben machte er Musik (Perkussion, Klavier, Gitarre, Querflöte, Gesang) und gründete in der alten Mühle in Worb «das musikphilosophische Metro Projekt». Statt mit Noten oder Erklärungen wurden hier neue Stücke mit Bildern, Farben und Geschichten vermittelt: «So entstanden Gemeinschaftswerke ohne eigentliche Führung.»

Nach dem KV die Rekrutenschule als Sanitätssoldat (später ausgemustert). Dann einige Monate Reisen durch Europa; ein heilpädagogisches Praktikum mit schwerstbehinderten Kindern; eine Irlandreise. Zurückgekehrt findet er eine Stelle als Grafiker: Als ehemaliges «EDV-Kiddy» habe er die nötigen Software-Programme gekannt. Sein erster Arbeitgeber gerät bald ins Schleudern. So schlägt er sich als Grafiker am Rand der Arbeitslosigkeit durch, zeitweise stempelt er.

lm Rahmen eines RAV-Projekts landet er als Stagaire bei «CD-ROM Jakob» - der ersten Firma in der Schweiz, die ausschliesslich vom Geschäft mit CD-Roms lebte. Dort wird er bald einmal als «Multimedia-Produzent» angestellt. Eine intensive Zeit: Dreizehnstunden-Tage, abends arbeitet er zuhause weiter, Monatslohn 1500 Franken: «Wir hatten kein Geld, aber wir waren bei der Entwicklung ganz vorn dabei.»

Nach drei Jahren ausgebrannt und Neustart: in einer PR-Firma arbeitet er am Kundenmagazin der «Ascom Telematic» mit, wird zu Einführungskursen an das Medienausbildungszentrum MAZ geschickt, den Rest schafft er autodidaktisch. Er wird entlassen, als Ascom den Telematic-Bereich kippt.

Künstlerischer Neustart als Mitglied des Marionettentheaters «Blaue Blume» in Basel. Und weil es dort nichts zu verdienen gibt, wird er zusätzlich Abteilungsleiter der EDV-Abteilung in der Buchhandlung Stauffacher in Bern. Zwei Jahren später wird ihm die Stelle des Betriebsleiters beim Lokalradio «Rabe» angeboten, ein 50-Prozent-Job. Dort versucht er zu professionalisieren, lernt nicht nur 150 freiwillige SendungsmacherInnen, sondern auch «linkes und zum Teil unheimlich unflexibles Denken» kennen, scheitert schliesslich an den «Anarchos», auf deren Füssen er «rumgetrampelt» sei.

Jetzt macht sich Vogelsang selbständig: Als diplomierter Yogalehrer und unterdessen auch Geschichtenerzähler im «Circuswagen» auf Berns Hausberg Gurten – einem Migros-Projekt – gründet er mit einem Kollegen die «interwerk gmbh», deren Geschäftsführer er heute ist. «Interwerk», sagt Vogelsang, solle «keine unnötigen Gewinne» kreieren, sondern «gesellschaftserziehende Programme» realisieren: «Es geht nicht darum, den Leuten zu zeigen, was sie tun sollen, sondern darum, Plattformen zur Verfügung stellen, und die Leute danach selbstverantwortlich aktiv sein lassen.»

Eine «Interwerk»-Aktivität ist heute zum Beispiel das Projekt «Circus – Himmel über Bern» auf dem Gurten, eine andere das Kulturmagazin «ensuite», das unterdessen über dreissig freiwillige MitarbeiterInnen verfügt. «Mein Ziel ist es», sagt Vogelsang, «bezahlte Jobs zu schaffen, den Leuten den Freiraum zu geben, dass sie mit Freude so arbeiten können, wie sie wollen.» Sein nächstes Ziel: eine zweite Zeitung.

Heute erscheint ensuite mit dem Untertitel «Zeitschrift für Kultur & Kunst». Website siehe hier.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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