Literarische Qualität mit Pfiff

Literarische Lesungen? Meine Nerven! Hilflos dahergestotterte brave Texte, die zwar unverkäuflich sind, aber so den Schreibenden immerhin ein Lesehonorar einbringen. Ein Fall für Bildungsbürgerinnen mit sozialer Ader.

Falsch! Denn in Bern gibt es die Lesungen in der Spysi. Dort, in der «Speiseanstalt der Untern Stadt Bern», wird gezeigt, was zeitgemässe Literaturvermittlung ist: lockere Atmosphäre, pfiffige Moderation (Reto Sorg), kurzweilige Lesungen von cleveren Profis mit guten Texten.

Die vier Lesungen

Das erstaunlich junge Publikum füllte den Esssaal bis auf den letzten Platz, als am Donnerstag Michael Stauffer (* 1972), Ruth Schweikert (* 1965), Lukas Bärfuss (* 1971) und Christoph Geiser (* 1949) unveröffentlichte Arbeiten vorstellten. Stauffer, vom dem diesem Jahr seinen Prosa-Erstling erschienen ist («I promise when the sun comes up I promise, I’ll be true»), las unter dem Titel «Silvia und Eugène» ein langes Gedicht voller «ironischer Gesten». Der selbstbewusste Mann ist – vom Sprachwitz bis zum Leseton – ein Meister der coolen Lakonik und bot beste Unterhaltung.

Ruth Schweikert (zuletzt: «Augen zu», 1998) stellte eine in Arbeit befindliche Erzählung vor, in der ein Mann sich entschliesst, als schlechter Mensch zu sterben und deshalb jemanden umzubringen, den er liebt. Die Qualität ihrer früheren Arbeiten war unschwer wiederzuerkennen: klare Konstruktion des Plots und ausgesprochen gepflegte Sprache im Grenzbereich zwischen Innovation und Konvention.

Lukas Bärfuss, der in letzter Zeit als Theaterautor hervorgetreten ist («Meienbergs Tod»), stellte das Prosastück «Der Keller» vor, das er selber als «sentimentale Kriminalgeschichte» bezeichnete – ein merkwürdiger, aus Kurzphrasen zu Endlossätzen gebauter Text, der sich in alptraumartigem Zeitlupentempo entfaltet.

Der Romanautor Christoph Geiser (zuletzt: «Die Baumeister», 1998) las schliesslich aus einem Text, den er einleitend als «Ästhetikdiskurs» bezeichnete und von einer Bildbesprechung ausging: ein teilweise rhythmisierter Wörterstrom, subjektlos, paralogisch verschliffen bis zur Manier, Sprachmusik mit starkem Sound.

Kein Jekami mehr

Dieser Spysi-Abend war genau genommen der dritte des dritten Jahrgangs. Die Idee der Literaturwissenschafterin Yeboaa Ofosu, Initiantin und Organisatorin der Lesungen, war ursprünglich, Arbeiten junger Autoren und Autorinnen kontinuierlich vorzustellen. Nach dem Jekami des ersten Jahrgangs 1997/98 wurde im darauffolgenden Jahr bewusster ausgewählt. Die vorgetragenen Texte dieses Jahrgangs erschienen anschliessend als kleine, aber feine Spysi-Anthologie («einspeisen», 1999).

Die zwei folgenden Spysi-Jahrgänge haben nicht stattgefunden. Den Grund nennt Ofosu: «Es gibt zu wenig gute Texte. Als Vermittlerin von Literatur kann ich nur mit jenen Texten umgehen, die es gibt. Ich will nicht mit Lektoratsarbeit neue Texte züchten.» Aus diesem Grund hat sich auch das Konzept des nun stattfindenden dritten Jahrgangs verändert: Neben eigentlichen Spysi-Autoren wie Bärfuss, Händl Klaus oder Raphael Urweider lesen in diesem Jahr einerseits Newcomer, andererseits bestandene Autoren und Autorinnen. Die gesammelten Texte dieser insgesamt vier «Dreigenerationenlesungen» 2001/02 sollen im Herbst 2002 im renommierten Berliner Aufbau Verlag als Anthologie veröffentlicht werden.

Herausgegeben von Yeboaa Ofosu und Reto Sorg erschien die Anthologie 2002 im Aufbau Verlag unter dem Titel «Natürlich die Schweizer!»

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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