Auf Wunsch der Geistlichkeit

«Wir Schultheiss, Klein und Grosse Räthe des Cantons Bern, thun kund hiermit»: Mit diesen Worten beginnt das Dekret zur «Besoldung und Wahlen der Geistlichkeit» vom 7. Mai 1804. Damals fasste die Obrigkeit «zu Aufnahme der heiligen Religion Unserer Väter und zur Aufmunterung der würdigen Diener derselben» einen kirchenpolitisch äusserst bedeutsamen Beschluss: Der Staat sollte «die Beziehung und Verwaltung aller der Geistlichkeit zugehörigen urbarisierten Einkünfte» übernehmen, sich dafür andererseits zur Besoldung der Geistlichen verpflichten. Mit anderen Worten: Bern verstaatlichte das Kirchengut und bezahlte dafür die Löhne der damals 152 Pfarrer, wofür 275’000 alte Franken, sogenannte «Livres», vorgesehen wurden.

Die Prädikanten der Staatskirche

Ebenfalls in den ersten Zeilen dieses Dekrets steht, dass der Staat mit seinem Vorgehen «nach dem Wunsch der Geistlichkeit» handle. Wenn das stimmt, so wird sich damals ein beträchtlicher Teil der Pfarrer vom Dekret eine Verbesserung der Lebenssituation erhofft haben. Eigentlich erstaunlich, denn auf den ersten Blick steht darin wenig Neues.

Bereits im Reformationsedikt von 1528 war der Entscheid zur Staatskirche festgeschrieben worden, und schon damals hatte der Staat die Kirchengüter übernommen und sich im Gegenzug zur Besoldung der «Prädikanten» verpflichtet, die nun die Priester ersetzten: «Was eine jede Pfarrpfrund ertrage, solle ausgemittelt werden, damit die Prädikanten ihr ehrlich Auskommen haben.» Seither lebten diese von der Pfarrpfrund, die aus dem Pfarrhaus und dem Pfrundland bestand. Darüber hinaus erhielten sie Zehnten und Bodenzinse, das nötige Brennholz und meistens eine Barbesoldung, die der Landvogt auszurichten hatte.

Pfarrer als Bauernberater

Nach der Reformation übernahm der Staat aber nicht nur das Kirchengut, sondern auch die Aufgaben der alten Kirche – insbesondere die Fürsorge, das Bildungswesen und die Sittengerichtsbarkeit. Für den Vollzug der politischen Beschlüsse stützte er sich von nun an auf die einzige Verwaltungseinheit, die es gab: das Kirchenspiel (die «Kilchhöre») und auf die darin amtenden Vertreter der Obrigkeit: die Prädikanten. So war der Pfarrer Sekretär des Chorgerichts, das unter Leitung des Landvogts tagte; er verlas die obrigkeitlichen Mandate von der Kanzel, und er leitete die Bauern sogar zu landwirtschaftlichen Reformen an, etwa als im 18. Jahrhundert die Dreifelderwirtschaft durch die Kleegraswirtschaft ersetzt werden sollte. Der Prädikant war also ein «Staatsangestellter», aber angestellt vom christlichen Staat. In Kurt Guggisbergs «Bernischen Kirchengeschichte» scheint diese Zwitterstellung in der Beschreibung der Besoldungsordnung so durch: «Die Pfarrer wurden also nicht als Staatsbeamte vom Staat, sondern nur durch ihn und als Kirchendiener besoldet.»

Die Pfründen wurden in drei Klassen eingeteilt und waren nach Höhe wie nach Art der Einkünfte sehr verschieden und oft karg. 1794 hatte die Spannweite der Pfarrereinkünfte das Verhältnis 1 zu 7,5 erreicht: 118 Pfarrer in die «Klasse 1» verdienten 400 bis 700 Gulden, 69 der «Klasse 2» 700 bis 1500 Gulden und 22 der «Klasse 3» 1500 bis 3000 Gulden. Die besseren Pfründen wurden dabei an die jeweils Dienstältesten vergeben, wobei die Obrigkeit daneben so genannte «Kreditpfründen» nach Belieben verteilte.

Eine Reform des christlichen Staats

Nach der Helvetik, die 1798 mit der Besetzung Berns durch napoleonische Truppen begonnen hatte, stellte die Mediationsverfassung vom 19. Februar 1803 die Souveränität der Kantone wieder her und überliess ihnen die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse. Nun sei die Kirche wieder zu einem «Ort der Heimatlichkeit» geworden, schreibt Guggisberg: «Man strebte weg von fremden Einflüssen, zurück zum vaterländischen Gemeingeist». Und in der Synode von 1803 habe der Dekan Sigmund Langhans ausgerufen: «Wir leben wieder in einem christlichen Staate.»

So bekräftigte die Obrigkeit mit dem Dekret von 1804 in der Tat zuallererst das althergebrachte Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Das Dekret sollte aber die allzu grossen Einkommensunterschiede verkleinern und die Lebensverhältnisse auf den kleinen Pfründen verbessern, die die Aufhebung der Zehnten in der Helvetik zusätzlich erschwert hatte. Das Dekret sah deshalb sieben Einkommensklassen vor, wobei die Geistlichen in der untersten, der «1. Klasse», mit jährlich 1000 Franken Lohn zu beginnen hatten. Mit jeder Klasse, die sie mit zunehmendem Dienstalter aufstiegen, erhielten sie 200 Franken mehr Lohn. Eine Pfrund der «7. Klasse» brachte so ein Einkommen von 2200 Franken. Die Spannweite der Besoldungen wurde demnach auf das Verhältnis 1 zu 2,2 verkleinert.

Neben dem Lohn, führt das Dekret weiter aus, stehe dem Pfarrherrn weiterhin «die Benutzung der Pfarr-Gebäude, der Gärten, und einer Pflanzstelle» zu; zudem erhalten alle, «welches solches ehemals genossen», auch weiterhin «an Zäune- als Brenn-Holz das benöthigte» – bis höchstens «20 Klafter». Wie bisher behielt sich die Obrigkeit übrigens vorbehalten, an diesem Klassensystem vorbei sogenannte «Kollaturpfarreien» zu vergeben.

Die Verpflichtung des Staates

Merkwürdig ist, dass an jenem 7. Mai 1804 niemand daran gedacht zu haben scheint, ein Inventar des vom Staat übernommenen Kirchenguts zu erstellen. Erst 1831 wurde eine «Summarische Übersicht der Pfarr-Güter» erstellt – zu einem Zeitpunkt, als der Staat bereits verschiedene dieser Güter veräussert hatte.

Zudem ist das Inventar von 1831 unvollständig, weil die Angaben verschiedener Gemeinden fehlen. 1973 errechnete der damalige Synodalrat Robert Morgenthaler in einer Studie, dass das vom Staat übernommene Kirchengut 1831 noch «1750 Jucharten oder ca. 6,5 Millionen Quadratmeter» umfasst habe, «meist sehr zentral und sehr schön gelegenes, fruchtbares Pfrundland». Morgenthaler ging davon aus, dass das Kirchengut ursprünglich mindestens 7 Millionen Quadratmeter umfasst haben müsse. Im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts hat der Kanton nach Gutdünken weitere Teile des Kirchenguts versilbert.

Von 152 auf 475,3 Stellen

Andererseits sind die Kosten für die Pfarrerbesoldung schnell angestiegen. Bereits Ende 1824 waren laut «Predigerordnung» in den sieben Klassen statt der ursprünglich 152 Pfarrer bereits deren 170 angestellt. Auf Druck des Wiener Kongresses waren 1815 die katholischen Geistlichen den reformierten gleichgestellt worden, 1874 kamen dann noch die christkatholischen Geistlichen hinzu. Bis 1996 wuchs die Verpflichtung des Kantons bis zur Entgeltung von insgesamt 475,3 Vollstellen – teils, weil neue Kirchgemeinden entstanden, teils, weil die bestehenden gewachsen waren. 1996 hob dann der Grosse Rat im Rahmen der Revision des Kirchengesetzes sämtliche Stellenerrichtungsdekrete auf und ersetzte sie durch ein System der Stellenbewirtschaftung. Zurzeit sind Berner Pfarrerinnen und Pfarrer in der Gehaltsklasse 23 der kantonalen Besoldungsklasse eingeteilt, ihr Bruttolohn beträgt zwischen 94’973 und 146’259 Franken pro Jahr (Verhältnis 1 zu 1,5). Die Lohnsumme beträgt zurzeit 72 Millionen Franken. Weil der Kanton sie auf 67 Millionen reduzieren will, wird es Ende 2007 voraussichtlich knapp 29 Pfarrstellen weniger geben im Kanton Bern.

Hansruedi Spichiger, der Beauftragte für kirchliche Angelegenheiten des Kantons Bern, erklärt die heutige Bedeutung des Dekrets von 1804 so: «Wenn es dieses Dekret nicht gäbe, könnte der Staat in Zeiten der Finanzknappheit zu den Kirchgemeinden theoretisch sagen: ‘Nehmt die Güter zurück und schaut selber, wie ihr die Geistlichen bezahlt.’ Im Dekret ist festgeschrieben, dass sich der Staat aus seiner Verantwortung nicht zurückziehen kann.»

Wollte man heute Kirche und Staat vollständig trennen, wären mit Sicherheit unabsehbare vermögensrechtliche Auseinandersetzungen die Folge: Denn welchen Wert hat heute das 1804 verstaatlichte Kirchengut, von dem niemand mehr genau wissen kann, was es ursprünglich überhaupt umfasst hat?

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