Schäbige Ausrede

«Es liessen sich eine Menge wirklich grässlicher Geschichten erzählen über die Behandlung der Verdingkinder, erzählen von Arm- und Beinzerschlagen, von Schändung von Mädchen und Knaben», hat Jeremias Gotthelf in «Die Armennot» geschrieben. Das war 1840. «Misshandlungen und unverantwortliche Verwahrlosungen von Verdingkindern sind im Kanton Bern häufig», hat Carl Albert Loosli im «Tages-Anzeiger» geschrieben. Das war 1945. «Der Deckel muss endlich weg, damit man diesen Dreck sehen kann», hat der Schriftsteller Arthur Honegger – ein ehemaliger Verdingbub – der «Sonntags-Zeitung» gesagt. Das war am 15. Juni 2003.

Nationalrat Ruedi Baumann (Grüne) hat nun versucht, den Deckel zu diesem «dunklen Kapitel in der schweizerischen Sozial- und Fürsorgepolitik» zu heben. Am 18. Juni reichte er eine Motion ein mit dem Wortlaut: «Der Bundesrat wird eingeladen, endlich eine fundierte historische Aufarbeitung der Problematik der Verdingkinder in die Wege zu leiten.» Bisher seien nur «sehr bruchstückhaft unmenschliche Einzelschicksale» bekannt geworden: «Eine fundierte historische Studie ist aus zeitlichen Gründen dringend, weil sonst viele Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind.» Die Studie wäre, so Baumann, ein erster Schritt zur Aufarbeitung des Unrechts, das zahlreichen Menschen in der Schweiz widerfahren sei.

Am 26. September lehnte der Bundesrat die Motion ab:

• Erstens falle das Verdingwesen «im Wesentlichen in die Kompetenz der Kantone und Gemeinden». Das stimmt. Andererseits wäre es weder historisch sinnvoll noch politisch durchsetzbar, dass sich jeder Kanton und jede Gemeinde um eine eigene historische Aufarbeitung bemühen würde.

• Zweitens habe der Schweizerische Nationalfonds 2000 das nationale Forschungsprogramm (NFP) 51 zum Thema «Integration und Ausschluss» lanciert – ein 12-Millionen-Franken-Projekt mit sozialpolitischem Schwerpunkt. Deshalb erachte es der Bundesrat «als verfrüht, die Notwendigkeit einer durch den Bund finanzierten historischen Studie in diesem Bereich abschätzen zu können». Dumm ist nur, dass laut Stephanie Schönholzer, die beim Nationalfonds für das NFP 51 zuständig ist, zum Thema der Verdingkinder keine Projektskizze eingereicht worden ist.

«Wenn der Bundesrat behauptet, das Thema der Verdingkinder sei im NFP 51 abgedeckt, entspricht dies nicht den Tatsachen», sagte auch der Projektleiter – der in Tübingen lehrende Erziehungswissenschaftler Hans Ulrich Grunder – gegenüber der WOZ. Das Thema hätte zwar sehr wohl «in den Fächer der im NFP 51 nun realisierten Projekte» gepasst, aber es liege nicht an der Leitungsgruppe des Projekts, «die Eingaben thematisch zu steuern».

Für Ruedi Baumann ist klar: «So macht es sich der Bund zu einfach.» Darauf, dass National- und Ständerat die Motion gegen den Willen des Bundesrates überweisen werden, mag der eben aus dem Parlament zurückgetretende Baumann nicht hoffen. Jetzt brauche es politischen Druck und interessierte HistorikerInnen. Nur so könnte allenfalls aus einer anderen Nationalfondskasse Geld locker gemacht werden für die Geschichte des Verdingwesens.

Baumanns Motion «Verdingklinder. Historische Aufarbeitung» wurde am 9.12.2003 «abgeschrieben, weil der Urheber aus dem Rat ausgeschieden ist». Der Vorstoss kam zu früh. Am 5. November 2014 hat der Bundesrat zum Thema «Administrative Versorgungen», zu dem auch das Verdingkinderproblem gehört, eine Unabhängige Expertenkommission mit einem interdisziplinären Forschungsteam eingesetzt. Dessen Auftrag lautet, «dem Bundesrat 2019 einen detaillierten Forschungsbericht vorzulegen». (12.12.2018)

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5