Blick hinter die Multikulti-Fassade

Dieter Karrer ist ein Soziologe, der seine Forschungen mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium von Pierre Bourdieu betreibt. In seinem neusten Buch untersucht er – so der Untertitel – die «Logik ethnischer Beziehungen in einem sozial benachteiligten Stadtteil». Gemeint ist das Hard-Quartier, das zum Stadtzürcher Kreis 4 gehört und hinter der Langstrasse Richtung Altstetten liegt.

Im Hard-Quartier hat sich die Wohnbevölkerung zwischen 1950 und 1998 um knapp 20 Prozent auf 12’870 EinwohnerInnen reduziert, der Anteil an AusländerInnen ist im gleichen Zeitraum von 6,9 auf 48,3 Prozent gestiegen. Während 1970 noch 82,7 Prozent der EinwohnerInnen Deutsch als ihre Hauptsprache nannten, waren es 1990 nur noch 65,5 Prozent. Klassenmässig ist die Hard ein Quartier der «kleinen Leute», von denen knapp 60 Prozent weniger als 40’000 Franken versteuern. Diese relative Homogenität lege die Vermutung nahe, schreibt Karrer, «dass die Klassendimension die Dynamik lebensweltlicher Unterschiede und Unterscheidungen im Quartier weniger bestimmt, als die ethnischen Unterschiede». Ausgehend von der These, dass sich an den ethnischen Bruchlinien Segregationsphänomene und der «Kampf um Integration» aufzeigen lasse, hat Karrer zwei Untersuchungen verfasst, die nun zusammen mit einer theoretischen Einführung als Buch erschienen sind.

Aussenperspektive der Statistiken

Im Zentrum der ersten, im Jahr 2000 abgeschlossenen Untersuchung  stand die Analyse der «verräumlichten sozialen Strukturen» des Quartiers. Zur Klärung der Verteilung der verschiedenen ethnischen Gruppen gliederte Karrer die ganze Hard in fünf Zonen. Dabei zeigte sich: Je tiefer der Status der Zone, je grösser die Lärmimmissionen durch Bahn und Ausfallstrassen und je billiger demzufolge der Wohnraum, desto höher der Ausländeranteil, wobei die Grenzlinie zwischen den beiden hauptsächlichen Gruppen nicht zwischen SchweizerInnen und AusländerInnen verläuft. Auf die eine Seite gehören nämlich die alteingesessenen SchweizerInnen und die etablierten Nationalitäten der ItalienerInnen und SpanierInnen, auf die andere die mehrheitlich neu zugezogenen, statustieferen ethnischen Gruppen aus Ex-Jugoslawien, Sri Lanka und der Türkei.

Segregationsphänomene findet Karrer bei seinen Untersuchungen nicht nur im Bereich des Wohnens, sondern mit gleichem Ergebnis im öffentlichen Raum, auf dem kirchlichen und auf dem schulischen Feld. Er beobachtet die Bullingerwiese und zitiert eine albanische Mutter: «Alle Nationalitäten gehen zu denen, die die gleiche Sprache sprechen. Man bleibt unter sich.» Er stellt fest, dass durch die «Sklerotisierung kirchlicher Strukturen» die beiden christlichen Gemeinden in der Hard «ihre lebensweltliche Prägekraft weitgehend verloren» haben. Er untersucht die beiden Schulhäuser der Hard, in denen im Jahr 2000 82,6 Prozent VolksschülerInnen mit ausländischem Pass unterrichtet worden sind und die «Chancen, eine Mittelschule zu besuchen, für ausländische Kinder im Kreis 4 sehr gering» ist.

Bei den quantitativen Aussagen, die vor allem aufgrund statistischer Unterlagen gemacht werden, lässt es Karrer aber nicht bewenden. In einem zweiten Arbeitsschritt hat er mit Mitgliedern der verschiedenen ethnischen Gruppen Interviews geführt, um die objektivierende Aussenperspektive zu überwinden, die – wie er selber schreibt –, «letztlich zu moralischen Urteilen führt, weil man die Akteure an äusseren Massstäben misst, statt sich in ihre spezifische Situation hineinzuversetzen». Erst eine Soziologie der Innenperspektive ermöglicht – auch bei der Lektüre des Buches – das Bewusstsein, «dass man sich wahrscheinlich auf eine ähnliche Art und Weise äussern und verhalten würde, wenn man die gleiche Geschichte hätte und in der gleichen Situation wäre wie die beschriebenen Akteure».

Innenperspektive der Gespräche

Interviews geführt hat Karrer mit SchweizerInnen, mit Leuten aus Italien und der Türkei und schliesslich – im Rahmen einer 2001 erstellten zweiten Untersuchung – mit MigrantInnen aus dem Balkan. Darin arbeitet er Innenperspektiven heraus, die alle als Interessenlagen gleichermassen nachvollziehbar und plausibel sind. Positionen, die von aussen als spiessbürgerlich oder rassistisch abgetan werden können, entpuppen sich von innen als Strategien im Kampf um Integration – um komplexe Konstellationen von unterschiedlichen Habitus-, Status- und Kapitalformen; von Stigmatisierungen und Gegenstigmatisierungen; von kulturellen und religiösen Prägungen; von Markt- und Lebensführungschancen; von unterschiedlichen Zugängen zur Lebenswelt, die einem – je nachdem – fremd ist oder mit der man sich verwurzelt fühlt.

Als zentrale Struktur, die das soziale Feld dieses Quartiers prägt, analysiert Karrer eine «Etablierten-Aussenseiter-Figuration», bei der sich aus der Sicht der Etablierten alteingesessene, angepasste, «nomische», «reine» und «vertrauenswürdige» Gruppen (aus der Schweiz und Italien) neuzugezogenen, unangepassten, «anomischen», «unreinen» und «unzuverlässigen» Gruppen (aus der Türkei und Ex-Jugoslawien) gegenüberstehen. Die Etablierten ignorieren dabei die strukturellen Gründe, die dazu führen, dass immer die NeuzuzügerInnen die herrschende Ordnung verletzen (geringere Identifikation mit dem Quartier wegen kurzer Anwesenheit und schlechten Wohnungen).

Durch die Differenzierung zwischen Innen- und Aussenperspektive gelingt es Karrer, die Ablehnung der jeweils Fremderen kenntlich zu machen als «Ausdruck eines Kampfes um Zugehörigkeit, der sich aus der Angst nährt, immer mehr deklassiert zu werden». Von diesem Kampf ist – im je eigenen sozialen Feld – niemand dispensiert.

Was in Karrers Buch nicht steht, aber nach dessen Lektüre dringend zu vermuten ist: Dass die parlamentarische Linke einen beträchtlichen Teil der Arbeiterschaft gerade in Städten und Agglomerationen an den rechtsnationalen Populismus verloren hat, ist auch eine Folge davon, dass sie mit ihren moralischen Appellen zum multikulturellen Gutmenschentum immer wieder eine politisch korrekte Ideologie beschwor, statt die Wirklichkeit des Kampfs um Integration ernst zu nehmen. Karrers Buch bietet keine politischen Rezepte. Aber es macht den Blick frei auf die Wirklichkeit hinter der Ideologie. Diese Wirklichkeit wartet auf linke politische Antworten.

Dieter Karrer: Der Kampf um Integration. Zur Logik ethnischer Beziehungen in einem sozial benachteiligten Stadtteil. Wiesbaden (Westdeutscher Verlag) 2002.

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